»Wenn Vater Goriot Töchter hätte, die so reich sind, wie die Damen es wohl sein müssen, die ihn besucht haben, so würde er nicht im dritten Stock meines Hauses wohnen, für 45 Francs im Monat, und er würde nicht wie ein Bettler gekleidet herumlaufen.«
Nichts konnte diese Argumentation entkräften, und so hatte gegen Ende November 1819, zur Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, jeder in der Pension seine feststehenden Vorstellungen von dem armen Greis. Er hatte niemals eine Tochter oder eine Frau gehabt; seine Ausschweifungen hatten ihn zu einem schneckenartigen Wesen gemacht, zu einem Wesen, halb Mensch, halb Molluske – wie sich ein Beamter des naturwissenschaftlichen Museums ausdrückte, der auf das Diner abonniert war. Poiret war ein Adler, ein Gentleman neben Goriot! Poiret plauderte, äußerte Meinungen, antwortete! In Wirklichkeit sagte er freilich nichts, denn er hatte die Gewohnheit, in anderen Wendungen das zu wiederholen, was sein Gegenüber bereits gesagt hatte. Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebendig und schien Gefühle zu haben, während Vater Goriot, wie sich derselbe Museumsbeamte ausdrückte, ständig auf null Grad Reaumur stand.
Eugen de Rastignac war aus seinen Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bei jungen, höher veranlagten Menschen recht häufig ist und die sich auch bei denen findet, denen eine zeitweilig schwierige Lage die Eigenschaften der Elitemenschen verleiht. Während seines ersten Jahres in Paris hatte das geringe Maß von Arbeit, das für die Anfangsexamen der juristischen Fakultät erforderlich ist, ihm die Freiheit gelassen, die sichtbaren Reize der großen Stadt kennenzulernen. Ein Student hat nicht allzuviel Zeit, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters kennen, wenn er das Labyrinth von Paris studieren, wenn er die besonderen Gebräuche und den Jargon der Hauptstadt lernen und sich an deren spezielle Vergnügungen gewöhnen will. Er muß gute und schlechte Lokale kennen, amüsante Vorlesungen hören und sich unter den Schätzen der Museen umsehen. Ein Student pflegt sich im allgemeinen für Torheiten zu begeistern, die ihm gleichwohl großartig vorkommen. Er hat seinen großen Mann – vielleicht einen Professor des Collège de France –, der dafür bezahlt wird, daß er sich auf der geistigen Höhe seines Auditoriums hält. Er zupft an seiner Krawatte und wirft sich für die Damen auf dem ersten Rang der Opéra Comique in Positur. Bei diesen Bemühungen wird er allmählich zu einem neuen Menschen, er erweitert seinen Horizont und lernt schließlich die Schichtungen der menschlichen Gesellschaft verstehen. Wenn er zunächst noch die Equipagen auf den Champs-Élysées an einem schönen Sommertag bewundert, so wird er bald ihre Insassen beneiden.