Deinem Vater geht es gut. Die Ernte von 1819 übertrifft unsere Erwartungen. Lebe wohl, liebes Kind. Von Deinen Schwestern schreibe ich nichts. Laura schreibt selbst, ich lasse ihr das Vergnügen, über die kleinen Ereignisse in der Familie zu plaudern. Gebe der Himmel, daß Du Erfolg hast! Ja, habe Erfolg, der Schmerz, den ich erduldet habe, war zu groß, als daß ich ihn ein zweites Mal ertragen könnte. Ich habe erkannt, was es heißt, arm zu sein, wenn man sich reich wünscht, um seinen Kindern zu geben. Lebe wohl! Laß uns nicht ohne Nachricht, und nimm hier den Kuß Deiner Mutter entgegen!«
Als Eugen den Brief zu Ende gelesen hatte, weinte er bitterlich. Er mußte an Vater Goriot denken, der sein Silber zusammendrehte, um die Wechsel seiner Tochter zu bezahlen.
Deine Mutter hat es ebenso mit ihren Schmuckstücken gemacht! sagte er sich. Deine Tante hat sicher manche Träne vergossen, als sie ihre Erbstücke verkaufte. Mit welchem Recht schmähst du Anastasie? Du tust für dich selbst, für deine Zukunft dasselbe, was sie für ihren Geliebten getan hat! Wer von uns beiden, sie oder du, ist besser?
Der Student fühlte eine unerträgliche Glut sein Herz verzehren. Er wollte auf die große Welt verzichten, er wollte das Geld zurückweisen. Er empfand die edlen heimlichen Gewissensbisse, die man bei der Beurteilung seines Mitmenschen so selten in Betracht zieht und um derentwillen die Engel des Himmels dem Verbrecher verzeihen, den die Richter dieser Erde verurteilt haben. Rastignac öffnete den Brief seiner Schwester, dessen unschuldige, anmutige Wendungen ihm das Herz wieder erfrischten:
»Dein Brief ist gerade zur richtigen Zeit gekommen, lieber Bruder! Agathe und ich, wir wollten unsere Ersparnisse auf so mannigfache Art anlegen, daß wir schließlich nicht mehr wußten, zu welchem Kauf wir uns entschließen sollten. Du hast den Frieden wiederhergestellt. Du hast es gemacht, wie der Diener des Königs von Spanien, der die Uhren seines Herrn umwarf, so daß sie nachher alle übereins gingen. Wir wären wirklich am Zanken darüber, welcher unserer Wünsche den Vorzug verdiene, und wir ahnten nichts, mein guter Eugen, von einer Verwendung des Geldes, die alle unsere Wünsche in sich barg. Agathe hat einen wahren Freudensprung getan. Wir waren beide den ganzen Tag über wie toll, ›in solchem Ausmaß‹ (Stil stammt von der Tante), daß die Mutter streng sagte: ›Aber was habt ihr denn nur, ihr Mädchen?‹ Hätten wir richtige Schelte bekommen, so wären wir, glaube ich, noch vergnügter gewesen. Eine Frau fühlt sich doch so recht wohl, wenn sie für den, den sie liebt, leiden kann! Ich allein blieb nachdenklich und bekümmert bei unserer Freude. Ich gebe sicher einmal eine schlechte Hausfrau ab, ich bin zu verschwenderisch. Ich hatte mir zwei Gürtel gekauft und eine hübsche Nadel, um Schnürlöcher in mein Mieder zu bohren, allerhand Tand, so daß ich weniger Geld hatte als unsere dicke Agathe, die so sparsam ist und ihre Talerstücke wie eine Elster aufspeichert. Sie hatte 200 Francs. Ich, mein armer Junge, hatte nur 150 Francs. Ich bin tüchtig gestraft worden, ich möchte meine Gürtel in den Brunnen werfen, es wird mir immer peinlich sein, sie zu tragen. Ich habe sie Dir gestohlen. Agathe war entzückend. Sie sagte: Schicken wir die 350 Francs gemeinsam ab! Aber ich mußte Dir doch erzählen, wie die Dinge sich zugetragen haben.