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黑塞德语小说:德米安 Demian-Siebentes Kapitel Frau Eva 2

时间:2022-08-11来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
(单词翻译:双击或拖选) 标签: Frau Eva
Als ich jedoch in meiner entlegenen Wohnung angekommen war und mein Bett suchte, waren alle diese Gedanken verflogen, und mein ganzer Sinn hing wartend an dem großen Versprechen, das mir dieser Tag gegeben hatte. Sobald ich wollte, morgen schon, sollte ich Demians Mutter sehen. Mochten die Studenten ihre Kneipen abhalten und sich die Gesichter tätowieren, mochte die Welt faul sein und auf ihren Untergang warten — was ging es mich an! Ich wartete einzig darauf, daß mein Schicksal mir in einem neuen Bilde entgegentrete.
Ich schlief fest bis spät am Morgen. Der neue Tag brach für mich als ein feierlicher Festtag an, wie ich seit den Weihnachtsfeiern meiner Knabenzeit keinen mehr erlebt hatte. Ich war voll innerster Unruhe, doch ohne jede Angst. Ich fühlte, daß ein wichtiger Tag für mich angebrochen sei, ich sah und empfand die Welt um mich her verwandelt, wartend, beziehungsvoll und feierlich, auch der leise fließende Herbstregen war schön, still und festtäglich voll ernstfroher Musik. Zum erstenmal klang die äußere Welt mit meiner innern rein zusammen — dann ist Feiertag der Seele, dann lohnt es sich zu leben. Kein Haus, kein Schaufenster, kein Gesicht auf der Gasse störte mich, alles war, wie es sein mußte, trug aber nicht das leere Gesicht des Alltäglichen und Gewohnten, sondern war wartende Natur, stand ehrfurchtsvoll dem Schicksal bereit. So hatte ich als kleiner Knabe die Welt am Morgen der großen Feiertage gesehen, am Christtag und an Ostern. Ich hatte nicht gewußt, daß diese Welt noch so schön sein könne. Ich hatte mich daran gewöhnt, in mich hineinzuleben und mich damit abzufinden, daß mir der Sinn für das da draußen eben verloren gegangen sei, daß der Verlust der glänzenden Farben unvermeidlich mit dem Verlust der Kindheit zusammenhänge und daß man gewissermaßen die Freiheit und Mannheit der Seele mit dem Verzicht auf diesen holden Schimmer bezahlen müsse. Nun sah ich entzückt, daß dies alles nur verschüttet und verdunkelt gewesen war und daß es möglich sei, auch als Freigewordener und auf Kinderglück Verzichtender die Welt strahlen zu sehen und die innigen Schauer des kindlichen Sehens zu kosten.
Es kam die Stunde, da ich den Vorstadtgarten wiederfand, bei dem ich mich diese Nacht von Max Demian verabschiedet hatte. Hinter hohen regengrauen Bäumen verborgen, stand ein kleines Haus, hell und wohnlich, hohe Blumenstauden hinter einer großen Glaswand, hinter blanken Fenstern dunkle Zimmerwände mit Bildern und Bücherreihen. Die Haustür führte unmittelbar in eine kleine erwärmte Halle, eine stumme alte Magd, schwarz, mit weißer Schürze, führte mich ein und nahm mir den Mantel ab.
Sie ließ mich in der Halle allein. Ich sah mich um, und sogleich war ich mitten in meinem Traume. Oben an der dunkeln Holzwand, über einer Tür, hing unter Glas in einem schwarzen Rahmen ein wohlbekanntes Bild, mein Vogel mit dem goldgelben Sperberkopf, der sich aus der Weltschale schwang. Ergriffen blieb ich stehen — mir war so froh und weh ums Herz, als kehre in diesem Augenblick alles, was ich je getan und erlebt, zu mir zurück als Antwort und Erfüllung. Blitzschnell sah ich eine Menge von Bildern an meiner Seele vorüberlaufen: das heimatliche Vaterhaus mit dem alten Steinwappen überm Torbogen, den Knaben Demian, der das Wappen zeichnete, mich selbst als Knaben, angstvoll in den bösen Bann meines Feindes Kromer verstrickt, mich selbst als Jüngling, in meinem Schülerzimmerchen am stillen Tisch den Vogel meiner Sehnsucht malend, die Seele verwirrt ins Netz ihrer eigenen Fäden — und alles, und alles bis zu diesem Augenblick klang in mir wieder, wurde in mir bejaht, beantwortet, gutgeheißen.
Mit naß gewordenen Augen starrte ich auf mein Bild und las in mir selbst. Da sank mein Blick herab: Unter dem Vogelbilde in der geöffneten Tür stand eine große Frau in dunklem Kleid. Sie war es. Ich vermochte kein Wort zu sagen. Aus einem Gesicht, das gleich dem ihres Sohnes ohne Zeit und Alter und voll von beseeltem Willen war, lächelte die schöne, ehrwürdige Frau mir freundlich zu. Ihr Blick war Erfüllung, ihr Gruß bedeutete Heimkehr. Schweigend streckte ich ihr die Hände entgegen. Sie ergriff sie beide mit festen warmen Händen.
„Sie sind Sinclair. Ich kannte Sie gleich. Seien Sie willkommen!“
Ihre Stimme war tief und warm, ich trank sie wie süßen Wein. Und nun blickte ich auf und in ihr stilles Gesicht, in die schwarzen, unergründlichen Augen, auf den frischen, reifen Mund, auf die freie, fürstliche Stirn, die das Zeichen trug.
„Wie bin ich froh!“ sagte ich zu ihr und küßte ihre Hände. „Ich glaube, ich bin mein ganzes Leben lang immer unterwegs gewesen — und jetzt bin ich heimgekommen.“
Sie lächelte mütterlich.
„Heim kommt man nie,“ sagte sie freundlich. „Aber wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.“
Sie sprach aus, was ich auf dem Wege zu ihr gefühlt hatte. Ihre Stimme und auch ihre Worte waren denen ihres Sohnes sehr ähnlich, und doch ganz anders. Alles war reifer, wärmer, selbstverständlicher. Aber ebenso wie Max vor Zeiten auf niemand den Eindruck eines Knaben gemacht hatte, so sah seine Mutter gar nicht wie die Mutter eines erwachsenen Sohnes aus, so jung und süß war der Hauch über ihrem Gesicht und Haar, so straff und faltenlos war ihre goldige Haut, so blühend der Mund. Königlicher noch als in meinem Traume stand sie vor mir, und ihre Nähe war Liebesglück, ihr Blick war Erfüllung.
Dies also war das neue Bild, in dem mein Schicksal sich mir zeigte, nicht mehr streng, nicht mehr vereinsamend, nein reif und lustvoll! Ich faßte keine Entschlüsse, tat keine Gelübde — ich war an ein Ziel gekommen, an eine hohe Wegstelle, von wo aus der weitere Weg sich weit und herrlich zeigte, Ländern der Verheißung entgegenstrebend, überschattet von Baumwipfeln nahen Glückes, gekühlt von nahen Gärten jeder Lust. Mochte es mir gehen, wie es wollte, ich war selig, diese Frau in der Welt zu wissen, ihre Stimme zu trinken und ihre Nähe zu atmen. Mochte sie mir Mutter, Geliebte, Göttin werden — wenn sie nur da war! wenn nur mein Weg dem ihren nahe war!
Sie wies zu meinem Sperberbilde hinauf.
„Sie haben unsrem Max nie eine größere Freude gemacht als mit diesem Bild,“ sagte sie nachdenklich. „Und mir auch. Wir haben auf Sie gewartet, und als das Bild kam, da wußten wir, daß Sie auf dem Weg zu uns waren. Als Sie ein kleiner Knabe waren, Sinclair, da kam eines Tages mein Sohn aus der Schule und sagte: Es ist ein Junge da, der hat das Zeichen auf der Stirn, der muß mein Freund werden. Das waren Sie. Sie haben es nicht leicht gehabt, aber wir haben Ihnen vertraut. Einmal trafen Sie, als Sie in Ferien zu Hause waren, wieder mit Max zusammen. Sie waren damals so etwa sechzehn Jahre alt. Max erzählte mir davon —“
Ich unterbrach: „O, daß er Ihnen das gesagt hat! Es war meine elendeste Zeit damals!“
„Ja, Max sagte zu mir: jetzt hat Sinclair das Schwerste vor sich. Er macht noch einmal einen Versuch, sich in die Gemeinschaft zu flüchten, er ist sogar ein Wirtshausbruder geworden; aber es wird ihm nicht gelingen. Sein Zeichen ist verhüllt, aber es brennt ihn heimlich. — War es nicht so?“
„O ja, so war es, genau so. Dann fand ich Beatrice, und dann kam endlich wieder ein Führer zu mir. Er hieß Pistorius. Erst da wurde mir klar, warum meine Knabenzeit so sehr an Max gebunden war, warum ich nicht von ihm loskommen konnte. Liebe Frau — liebe Mutter, ich habe damals oft geglaubt, ich müsse mir das Leben nehmen. Ist denn der Weg für jeden so schwer?“
Sie fuhr mit ihrer Hand über mein Haar, leicht wie Luft.
„Es ist immer schwer, geboren zu werden. Sie wissen, der Vogel hat Mühe, aus dem Ei zu kommen. Denken Sie zurück und fragen Sie: war der Weg denn so schwer? — nur schwer? War er nicht auch schön? Hätten Sie einen schöneren, einen leichteren gewußt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Es war schwer,“ sagte ich wie im Schlaf, „es war schwer, bis der Traum kam.“
Sie nickte und sah mich durchdringend an.
„Ja, man muß seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen.“
Ich erschrak tief. War das schon eine Warnung? War das schon Abwehr? Aber einerlei, ich war bereit, mich von ihr führen zu lassen und nicht nach dem Ziel zu fragen.
„Ich weiß nicht,“ sagte ich, „wie lange mein Traum dauern soll. Ich wünsche, er wäre ewig. Unter dem Bild des Vogels hat mich mein Schicksal empfangen, wie eine Mutter, und wie eine Geliebte. Ihm gehöre ich und sonst niemand.“
„Solange der Traum Ihr Schicksal ist, solange sollen Sie ihm treu bleiben,“ bestätigte sie ernst.
Eine Traurigkeit ergriff mich, und der sehnliche Wunsch, in dieser verzauberten Stunde zu sterben. Ich fühlte die Tränen — wie unendlich lange hatte ich nicht mehr geweint! — unaufhaltsam in mir aufquellen und mich überwältigen. Heftig wandte ich mich von ihr weg, trat an das Fenster und blickte mit blinden Augen über die Topfblumen hinweg.
Hinter mir hörte ich ihre Stimme, sie klang gelassen und war doch so voll von Zärtlichkeit wie ein bis zum Rande mit Wein gefüllter Becher.
„Sinclair, Sie sind ein Kind! Ihr Schicksal liebt Sie ja. Einmal wird es Ihnen ganz gehören, so wie Sie es träumen, wenn Sie treu bleiben.“
Ich hatte mich bezwungen und wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie gab mir die Hand.
„Ich habe ein paar Freunde,“ sagte sie lächelnd, „ein paar ganz wenige, ganz nahe Freunde, die sagen Frau Eva zu mir. Auch Sie sollen mich so nennen, wenn Sie wollen.“
Sie führte mich zur Tür, öffnete und deutete in den Garten. „Sie finden Max da draußen.“
Unter den hohen Bäumen stand ich betäubt und erschüttert, wacher oder träumender als jemals, ich wußte es nicht. Sachte tropfte der Regen aus den Zweigen. Ich ging langsam in den Garten hinein, der sich weit das Flußufer entlang zog. Endlich fand ich Demian. Er stand in einem offenen Gartenhäuschen, mit nacktem Oberkörper, und machte vor einem aufgehängten Sandsäckchen Boxübungen.
Erstaunt blieb ich stehen. Demian sah prachtvoll aus, die breite Brust, der feste männliche Kopf, die gehobenen Arme mit gestrafften Muskeln waren stark und tüchtig, die Bewegungen kamen aus Hüften, Schultern und Armgelenken hervor wie spielende Quellen.
„Demian!“ rief ich. „Was treibst du denn da?“
Er lachte fröhlich.
„Ich übe mich. Ich habe dem kleinen Japaner einen Ringkampf versprochen, der Kerl ist flink wie eine Katze, und natürlich ebenso tückisch. Aber er wird nicht mit mir fertig werden. Es ist eine ganz kleine Demütigung, die ich ihm schuldig bin.“
Er zog Hemd und Rock über.
„Du warst schon bei meiner Mutter?“ fragte er.
„Ja. Demian, was hast du für eine herrliche Mutter! Frau Eva! Der Name paßt vollkommen zu ihr, sie ist wie die Mutter aller Wesen.“
Er sah mir einen Augenblick nachdenklich ins Gesicht.
„Du weißt den Namen schon? Du kannst stolz sein, Junge! Du bist der erste, dem sie ihn schon in der ersten Stunde gesagt hat.“
Von diesem Tag an ging ich im Hause ein und aus wie ein Sohn und Bruder, aber auch wie ein Liebender. Wenn ich die Pforte hinter mir schloß, ja schon wenn ich von weitem die hohen Bäume des Gartens auftauchen sah, war ich reich und glücklich. Draußen war die „Wirklichkeit“, draußen waren Straßen und Häuser, Menschen und Einrichtungen, Bibliotheken und Lehrsäle — hier drinnen aber war Liebe und Seele, hier lebte das Märchen und der Traum. Und doch lebten wir keineswegs von der Welt abgeschlossen, wir lebten in Gedanken und Gesprächen oft mitten in ihr, nur auf einem anderen Felde, wir waren von der Mehrzahl der Menschen nicht durch Grenzen getrennt, sondern nur durch eine andere Art des Sehens. Unsre Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ankündigung einer anderen Möglichkeit zu leben. Ich lernte, ich lang Vereinsamter, die Gemeinschaft kennen, die zwischen Menschen möglich ist, welche das völlige Alleinsein gekostet haben. Nie mehr begehrte ich zu den Tafeln der Glücklichen, zu den Festen der Fröhlichen zurück, nie mehr flog mich Neid oder Heimweh an, wenn ich die Gemeinsamkeiten der andern sah. Und langsam wurde ich eingeweiht in das Geheimnis derer, welche „das Zeichen“ an sich trugen.
Wir, die mit dem Zeichen, mochten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwachte, oder Erwachende, und unser Streben ging auf ein immer vollkommneres Wachsein, während das Streben und Glücksuchen der anderen darauf ging, ihre Meinungen, ihre Ideale und Pflichten, ihr Leben und Glück immer enger an das der Herde zu binden. Auch dort war Streben, auch dort war Kraft und Größe. Aber während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit — welche sie liebten wie wir — etwas Fertiges, das erhalten und geschützt werden mußte. Für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen.
Außer Frau Eva, Max und mir gehörten zu unsrem Kreise, näher oder ferner, noch manche Suchende von sehr verschiedener Art. Manche von ihnen gingen besondere Pfade, hatten sich abgesonderte Ziele gesteckt und hingen an besonderen Meinungen und Pflichten, unter ihnen waren Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, verwundbare Menschen, Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Übungen, Pflanzenesser und andre. Mit diesen allen hatten wir eigentlich nichts Geistiges gemein als die Achtung, die ein jeder dem geheimen Lebenstraum des andern gönnte. Andre standen uns näher, welche das Suchen der Menschheit nach Göttern und neuen Wunschbildern in der Vergangenheit verfolgten und deren Studien mich oft an die meines Pistorius erinnerten. Sie brachten Bücher mit, übersetzten uns Texte alter Sprachen, zeigten uns Abbildungen alter Symbole und Riten, und lehrten uns sehen, wie der ganze Besitz der bisherigen Menschheit an Idealen aus Träumen der unbewußten Seele bestand, aus Träumen, in welchen die Menschheit tastend den Ahnungen ihrer Zukunftsmöglichkeiten nachging. So durchliefen wir den wunderbaren, tausendköpfigen Götterknäuel der alten Welt bis zum Herandämmern der christlichen Umkehr. Die Bekenntnisse der einsamen Frommen wurden uns bekannt, und die Wandlungen der Religionen von Volk zu Volk. Und aus allem, was wir sammelten, ergab sich uns die Kritik unserer Zeit und des jetzigen Europa, das in ungeheuren Bestrebungen mächtige neue Waffen der Menschheit erschaffen hatte, endlich aber in eine tiefe und zuletzt schreiende Verödung des Geistes geraten war. Denn es hatte die ganze Welt gewonnen, um seine Seele darüber zu verlieren.
Auch hier gab es Gläubige und Bekenner bestimmter Hoffnungen und Heilslehren. Es gab Buddhisten, die Europa bekehren wollten, und Tolstoijünger, und andre Bekenntnisse. Wir im engern Kreise hörten zu und nahmen keine dieser Lehren anders an denn als Sinnbilder. Uns Gezeichneten lag keine Sorge um die Gestaltung der Zukunft ob. Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.
Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gefühl deutlich, daß eine Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar sei. Demian sagte mir manchmal: „Was kommen wird, ist unausdenklich. Die Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt, die man seit so langem immer und immer wieder weglügt und betäubt. Dann wird unser Tag sein, dann wird man uns brauchen, nicht als Führer oder neue Gesetzgeber — die neuen Gesetze erleben wir nicht mehr — eher als Willige, als solche, die bereit sind, mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft. Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet — wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gefährliche Weiten zu treiben. Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied waren nur darum fähig und wirksam, weil sie schicksalbereit waren. Das paßt auf Moses und Buddha, es paßt auf Napoleon und auf Bismarck. Welcher Welle einer dient, von welchem Pol aus er regiert wird, das liegt nicht in seiner Wahl. Wenn Bismarck die Sozialdemokraten verstanden und sich auf sie eingestellt hätte, so wäre er ein kluger Herr gewesen, aber kein Mann des Schicksals. So war es mit Napoleon, mit Cäsar, mit Loyola, mit allen! Man muß sich das immer biologisch und entwicklungsgeschichtlich denken! Als die Umwälzungen auf der Erdoberfläche die Wassertiere ans Land, Landtiere ins Wasser warf, da waren es die schicksalbereiten Exemplare, die das Neue und Unerhörte vollziehen und ihre Art durch neue Anpassungen retten konnten. Ob es dieselben Exemplare waren, welche vorher in ihrer Art als Konservative und Erhaltende hervorragten, oder eher die Sonderlinge und Revolutionäre, das wissen wir nicht. Sie waren bereit, und darum konnten sie ihre Art in neue Entwicklungen hinüber retten. Das wissen wir. Darum wollen wir bereit sein. 
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