Mein gemalter Traumvogel war unterwegs und suchte meinen Freund. Auf die wunderlichste Weise kam mir eine Antwort.
In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buch stecken. Er war genau so gefaltet, wie es bei uns üblich war, wenn Klassengenossen zuweilen während einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. Mich wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschicke, denn ich stand mit keinem Mitschüler je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die Aufforderung zu irgendeinem Schülerspaß sein, an dem ich doch nicht teilnehmen würde, und legte den Zettel ungelesen vorn in mein Buch. Erst während der Lektion fiel er mir zufällig wieder in die Hand.
Ich spielte mit dem Papier, entfaltete es gedankenlos und fand einige Worte darein geschrieben. Ich warf einen Blick darauf, blieb an einem Wort hängen, erschrak und las, während mein Herz sich vor Schicksal wie in großer Kälte zusammenzog:
„Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“
Ich versank nach dem mehrmaligen Lesen dieser Zeilen in tiefes Nachsinnen. Es war kein Zweifel möglich, es war Antwort von Demian. Niemand konnte von dem Vogel wissen, als ich und er. Er hatte mein Bild bekommen. Er hatte verstanden und half mir deuten. Aber wie hing alles zusammen? Und — das plagte mich vor allem — was hieß Abraxas? Ich hatte das Wort nie gehört oder gelesen. „Der Gott heißt Abraxas!“
Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht hörte. Die nächste begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem ganz jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde anmaßte.
Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. Diese Lektüre gehörte zu den wenigen Schulfächern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Übersetzen nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich schon mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ. Ja, wenn man zerstreut war oder schläfrig, dann stand er plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte.
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schreck erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er sah mich nicht an. Ich atmete auf.
Da hörte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: „Abraxas.“
In einer Erklärung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen fort: „Wir müssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen Vereinigungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab es eine Beschäftigung mit philosophisch-mystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. Aber auch die Magie hatte eine edle Herkunft und tiefe Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anführte. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet. Wir können uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen.“
Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter, niemand war sehr aufmerksam, und da der Name nicht mehr vorkam, sank auch meine Aufmerksamkeit bald wieder in mich selbst zurück.
„Das Göttliche und das Teuflische vereinigen,“ klang es mir nach. Hier konnte ich anknüpfen. Das war mir von den Gesprächen mit Demian in der allerletzten Zeit unsrer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte, „lichte“ Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. — Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.
Eine Zeitlang suchte ich mit großem Eifer auf der Spur weiter, ohne doch vorwärts zu kommen. Ich stöberte auch eine ganze Bibliothek erfolglos nach dem Abraxas durch. Doch war mein Wesen niemals stark auf diese Art des direkten und bewußten Suchens eingestellt, wobei man zumeist nur Wahrheiten findet, die einem Steine in der Hand bleiben.
Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel und innig beschäftigt gewesen war, sank nun allmählich unter, oder vielmehr sie trat langsam von mir hinweg, näherte sich mehr und mehr dem Horizont und wurde schattenhafter, ferner, blasser. Sie genügte der Seele nicht mehr.
Es begann jetzt in dem eigentümlich in mich selbst eingesponnenen Dasein, das ich wie ein Traumwandler führte, eine neue Bildung zu entstehen. Die Sehnsucht nach dem Leben blühte in mir, vielmehr die Sehnsucht nach Liebe, und der Trieb des Geschlechts, den ich eine Weile hatte in die Anbetung Beatrices auflösen können, verlangte neue Bilder und Ziele. Noch immer kam keine Erfüllung mir entgegen, und unmöglicher als je war es mir, die Sehnsucht zu täuschen und etwas von den Mädchen zu erwarten, bei denen meine Kameraden ihr Glück suchten. Ich träumte wieder heftig, und zwar mehr am Tage als in der Nacht. Vorstellungen, Bilder oder Wünsche, stiegen in mir auf und zogen mich von der äußeren Welt hinweg, so daß ich mit diesen Bildern in mir, mit diesen Träumen oder Schatten, wirklicher und lebhafter Umgang hatte und lebte, als mit meiner wirklichen Umgebung.
Ein bestimmter Traum, oder ein Phantasiespiel, das immer wiederkehrte, wurde mir bedeutungsvoll. Dieser Traum, der wichtigste und nachhaltigste meines Lebens, war etwa so: Ich kehrte in mein Vaterhaus zurück — über dem Haustor leuchtete der Wappenvogel in Gelb auf blauem Grund — im Hause kam mir meine Mutter entgegen — aber als ich eintrat und sie umarmen wollte, war es nicht sie, sondern eine nie gesehene Gestalt, groß und mächtig, dem Max Demian und meinem gemalten Blatte ähnlich, doch anders, und trotz der Mächtigkeit ganz und gar weiblich. Diese Gestalt zog mich an sich und nahm mich in eine tiefe, schauernde Liebesumarmung auf. Wonne und Grausen waren vermischt, die Umarmung war Gottesdienst, und war ebenso Verbrechen. Zu viel Erinnerung an meine Mutter, zu viel Erinnerung an meinen Freund Demian geistete in der Gestalt, die mich umfing. Ihre Umarmung verstieß gegen jede Ehrfurcht und war doch Seligkeit. Oft erwachte ich aus diesem Traume mit tiefem Glücksgefühl, oft mit Todesangst und gequältestem Gewissen wie aus furchtbarer Sünde.
Nur allmählich und unbewußt kam zwischen diesem ganz innerlichen Bilde und dem mir von außen zugekommenen Wink über den zu suchenden Gott eine Verbindung zustande. Sie wurde aber dann enger und inniger, und ich begann zu spüren, daß ich gerade in diesem Ahnungstraum den Abraxas anrief. Wonne und Grauen, Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Gräßliches ineinander verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckend — so war mein Liebestraumbild, und so war auch Abraxas. Liebe war nicht mehr tierisch dunkler Trieb, wie ich sie beängstigt im Anfang empfunden hatte, und sie war auch nicht mehr fromm vergeistigte Anbeterschaft, wie ich sie dem Bilde der Beatrice dargebracht. Sie war beides, beides und noch viel mehr, sie war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes Gut und äußerstes Böses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies zu kosten mein Schicksal. Ich hatte Sehnsucht nach ihm und hatte Angst vor ihm, ich träumte ihm nach und ich floh vor ihm, aber es war immer da, war immer über mir.
Im nächsten Frühjahr sollte ich das Gymnasium verlassen und studieren gehen, ich wußte noch nicht wo und was. Auf meinen Lippen wuchs ein kleiner Bart, ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. Ich fühlte die Aufgabe, dieser Führung blind zu folgen. Aber es fiel mir schwer, und täglich lehnte ich mich auf. Vielleicht war ich verrückt, dachte ich nicht selten, vielleicht war ich nicht wie andere Menschen? Aber ich konnte das, was andre leisteten, alles auch tun, mit ein wenig Fleiß und Bemühung konnte ich Plato lesen, konnte trigonometrische Aufgaben lösen oder einer chemischen Analyse folgen. Nur eines konnte ich nicht: das in mir dunkel verborgene Ziel herausreißen und irgendwo vor mich hinmalen, wie andere es taten, welche genau wußten, daß sie Professor oder Richter, Arzt oder Künstler werden wollten, wie lang das dauern und was für Vorteile es haben würde. Das konnte ich nicht. Vielleicht wurde ich auch einmal so etwas, aber wie sollte ich das wissen. Vielleicht mußte ich auch suchen und weitersuchen, jahrelang, und wurde nichts, und kam an kein Ziel. Vielleicht kam ich auch an ein Ziel, aber es war ein böses, gefährliches, furchtbares.
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
Oft machte ich den Versuch, die mächtige Liebesgestalt meines Traumes zu malen. Es gelang aber nie. Wäre es mir gelungen, so hätte ich das Blatt an Demian gesandt. Wo war er? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, er war mit mir verbunden. Wann würde ich ihn wiedersehen?
Die freundliche Ruhe jener Wochen und Monate der Beatricezeit war lang vergangen. Damals hatte ich gemeint, eine Insel erreicht und einen Frieden gefunden zu haben. Aber so war es immer — kaum war ein Zustand mir lieb geworden, kaum hatte ein Traum mir wohlgetan, so wurde er auch schon welk und blind. Vergebens, ihm nachzuklagen! Ich lebte jetzt in einem Feuer von ungestilltem Verlangen, von gespanntem Erwarten, das mich oft völlig wild und toll machte. Das Bild der Traumgeliebten sah ich oft mit überlebendiger Deutlichkeit vor mir, viel deutlicher als meine eigene Hand, sprach mit ihm, weinte vor ihm, fluchte ihm. Ich nannte es Mutter und kniete vor ihm in Tränen, ich nannte es Geliebte und ahnte seinen reifen, alles erfüllenden Kuß, ich nannte es Teufel und Hure, Vampyr und Mörder. Es verlockte mich zu zartesten Liebesträumen und zu wüsten Schamlosigkeiten, nichts war ihm zu gut und köstlich, nichts zu schlecht und niedrig.
Jenen ganzen Winter verlebte ich in einem inneren Sturm, den ich schwer beschreiben kann. An die Einsamkeit war ich lang gewöhnt, sie drückte mich nicht, ich lebte mit Demian, mit dem Sperber, mit dem Bild der großen Traumgestalt, die mein Schicksal und meine Geliebte war. Das war genug, um darin zu leben, denn alles blickte ins Große und Weite, und alles deutete auf Abraxas. Aber keiner dieser Träume, keiner meiner Gedanken gehorchte mir, keinen konnte ich rufen, keinem konnte ich nach Belieben seine Farben geben. Sie kamen und nahmen mich, ich wurde von ihnen regiert, wurde von ihnen gelebt.
Wohl war ich nach außen gesichert. Vor Menschen hatte ich keine Furcht, das hatten auch meine Mitschüler gelernt und brachten mir eine heimliche Achtung entgegen, die mich oft lächeln machte. Wenn ich wollte, konnte ich die meisten von ihnen sehr gut durchschauen und sie gelegentlich dadurch in Erstaunen setzen. Nur wollte ich selten oder nie. Ich war immer mit mir beschäftigt, immer mit mir selbst. Und ich verlangte sehnlichst danach, nun endlich auch einmal ein Stück zu leben, etwas aus mir hinaus in die Welt zu geben, in Beziehung und Kampf mit ihr zu treten. Manchmal wenn ich am Abend durch die Straßen lief und vor Unrast bis Mitternacht nicht heimkehren konnte, manchmal meinte ich dann, jetzt und jetzt müsse meine Geliebte mir begegnen, an der nächsten Ecke vorübergehen, mir aus dem nächsten Fenster rufen. Manchmal auch schien mir dies alles unerträglich qualvoll, und ich war darauf gefaßt, mir einmal das Leben zu nehmen.
Eine eigentümliche Zuflucht fand ich damals — durch einen „Zufall“, wie man sagt. Es gibt aber solche Zufälle nicht. Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.
Ich hatte zwei oder drei Male auf meinen Gängen durch die Stadt aus einer kleineren Vorstadtkirche Orgelspiel vernommen, ohne dabei zu verweilen. Als ich das nächstemal vorüberkam, hörte ich es wieder, und erkannte, daß Bach gespielt wurde. Ich ging zum Tor, das ich geschlossen fand, und da die Gasse fast ohne Menschen war, setzte ich mich neben der Kirche auf einen Prellstein, schlug den Mantelkragen um mich und hörte zu. Es war keine große, doch eine gute Orgel, und es wurde wunderlich gespielt, nämlich gut und beinahe virtuos, aber mit einem eigentümlichen, höchst persönlichen Ausdruck von Willen und Beharrlichkeit, der wie ein Gebet klang. Ich hatte das Gefühl: der Mann, der da spielt, weiß in dieser Musik einen Schatz verschlossen, und er wirbt und pocht und müht sich um diesen Schatz wie um sein Leben. Ich verstehe, im Sinn der Technik, nicht sehr viel von Musik, aber ich habe gerade diesen Ausdruck der Seele von Kind auf instinktiv verstanden und das Musikalische als etwas Selbstverständliches in mir gefühlt.
Der Musiker spielte darauf auch etwas Modernes, es konnte von Reger sein. Die Kirche war fast völlig dunkel, nur ein ganz dünner Lichtschein drang durchs nächste Fenster. Ich wartete, bis die Musik zu Ende war, und strich dann auf und ab, bis ich den Organisten herauskommen sah. Es war ein noch junger Mensch, doch älter als ich, vierschrötig und untersetzt von Gestalt, und er lief rasch mit kräftigen und gleichsam unwilligen Schritten davon.
Manchmal saß ich von da an in der Abendstunde vor der Kirche, oder ging auf und ab. Einmal fand ich auch das Tor offen und saß eine halbe Stunde fröstelnd und glücklich im Gestühl, während der Organist oben bei spärlichem Gaslicht spielte. Aus der Musik, die er spielte, hörte ich nicht nur ihn selbst. Es schien mir auch alles, was er spielte, unter sich verwandt zu sein, einen geheimen Zusammenhang zu haben. Alles, was er spielte, war gläubig, war hingegeben und fromm, aber nicht fromm wie die Kirchengänger und Pastoren, sondern fromm wie Pilger und Bettler im Mittelalter, fromm mit rücksichtsloser Hingabe an ein Weltgefühl, das über allen Bekenntnissen stand. Die Meister vor Bach wurden fleißig gespielt, und alte Italiener. Und alle sagten dasselbe, alle sagten das, was auch der Musikant in der Seele hatte: Sehnsucht, innigstes Ergreifen der Welt und wildestes Sichwiederscheiden von ihr, brennendes Lauschen auf die eigene dunkle Seele, Rausch der Hingabe und tiefe Neugierde auf das Wunderbare.
Als ich einmal den Orgelspieler nach seinem Weggang aus der Kirche heimlich verfolgte, sah ich ihn weit draußen am Rande der Stadt in eine kleine Schenke treten. Ich konnte nicht widerstehen und ging ihm nach. Zum erstenmal sah ich ihn hier deutlich. Er saß am Wirtstisch in einer Ecke der kleinen Stube, den schwarzen Filzhut auf dem Kopf, einen Schoppen Wein vor sich, und sein Gesicht war so, wie ich es erwartet hatte. Es war häßlich und etwas wild, suchend und verbohrt, eigensinnig und willensvoll, dabei um den Mund weich und kindlich. Das Männliche und Starke saß alles in Augen und Stirn, der untere Teil des Gesichtes war zart und unfertig, unbeherrscht und zum Teil weichlich, das Kinn voll Unentschlossenheit stand knabenhaft da wie ein Widerspruch gegen Stirn und Blick. Lieb waren mir die dunkelbraunen Augen, voll Stolz und Feindlichkeit.
Schweigend setzte ich mich ihm gegenüber, niemand war sonst in der Kneipe. Er blitzte mich an, als wolle er mich wegjagen. Ich hielt jedoch stand und sah ihn unentwegt an, bis er unwirsch brummte: „Was schauen Sie denn so verflucht scharf? Wollen Sie was von mir?“
„Ich will nichts von Ihnen,“ sagte ich. „Aber ich habe schon viel von Ihnen gehabt.“
Er zog die Stirn zusammen.
„So, sind Sie ein Musikschwärmer? Ich finde es ekelhaft, für Musik zu schwärmen.“
Ich ließ mich nicht abschrecken.
„Ich habe Ihnen schon oft zugehört, in der Kirche da draußen,“ sagte ich. „Ich will Sie übrigens nicht belästigen. Ich dachte, ich würde bei Ihnen vielleicht etwas finden, etwas Besonderes, ich weiß nicht recht was. Aber hören Sie lieber gar nicht auf mich! Ich kann Ihnen ja in der Kirche zuhören.“
„Ich schließe doch immer ab.“
„Neulich haben Sie es vergessen, und ich saß drinnen. Sonst stehe ich draußen oder sitze auf dem Prellstein.“
„So? Sie können ein andermal hereinkommen, es ist wärmer. Sie müssen dann bloß an die Tür klopfen. Aber kräftig, und nicht während ich spiele. Jetzt los — was wollten Sie sagen? Sie sind ein ganz junger Mann, wahrscheinlich ein Schüler oder Student. Sind Sie Musiker?“
„Nein. Ich höre gern Musik, aber bloß solche, wie Sie sie spielen, ganz unbedingte Musik, solche, bei der man spürt, daß da ein Mensch an Himmel und Hölle rüttelt. Die Musik ist mir sehr lieb, ich glaube, weil sie so wenig moralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. Ich habe unter dem Moralischen immer bloß gelitten. Ich kann mich nicht gut ausdrücken. — Wissen Sie, daß es einen Gott geben muß, der zugleich Gott und Teufel ist? Es soll einen gegeben haben, ich hörte davon.“
Der Musiker schob den breiten Hut etwas zurück und schüttelte sich das dunkle Haar von der großen Stirn. Dabei sah er mich durchdringend an und neigte mir sein Gesicht über den Tisch entgegen.
Leise und gespannt fragte er: „Wie heißt der Gott, von dem Sie da sagen?“
„Ich weiß leider fast nichts von ihm, eigentlich bloß den Namen. Er heißt Abraxas.“
Der Musikant blickte wie mißtrauisch um sich, als könnte uns jemand belauschen. Dann rückte er nahe zu mir und sagte flüsternd: „Ich habe es mir gedacht. Wer sind Sie?“
„Ich bin ein Schüler vom Gymnasium.“
„Woher wissen Sie von Abraxas?“
„Durch Zufall.“
Er hieb auf den Tisch, daß sein Weinglas überlief.
„Zufall! Reden Sie keinen Sch . . . dreck, junger Mensch! Von Abraxas weiß man nicht durch Zufall, das merken Sie sich. Ich werde Ihnen noch mehr von ihm sagen. Ich weiß ein wenig von ihm.“
Er schwieg und rückte seinen Stuhl zurück. Als ich ihn voll Erwartung ansah, schnitt er eine Grimasse.
„Nicht hier! Ein andermal. — Da, nehmen Sie!“
Dabei griff er in die Tasche seines Mantels, den er nicht abgelegt hatte, und zog ein paar gebratene Kastanien heraus, die er mir hinwarf.
Ich sagte nichts, nahm sie und aß und war sehr zufrieden.
„Also!“ flüsterte er nach einer Weile. „Woher wissen Sie von — Ihm?“
Ich zögerte nicht, es ihm zu sagen.
„Ich war allein und ratlos,“ erzählte ich. „Da fiel mir ein Freund aus früheren Jahren ein, von dem ich glaube, daß er sehr viel weiß. Ich hatte etwas gemalt, einen Vogel, der aus einer Weltkugel herauskam. Den schickte ich ihm. Nach einiger Zeit, als ich nicht mehr recht daran glaubte, bekam ich ein Stück Papier in die Hand, darauf stand: Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“
Er erwiderte nichts, wir schälten unsere Kastanien und aßen sie zum Wein.
„Nehmen wir noch einen Schoppen?“ fragte er.
„Danke, nein. Ich trinke nicht gern.“
Er lachte, etwas enttäuscht.
„Wie Sie wollen! Bei mir ist es anders. Ich bleibe noch hier. Gehen Sie jetzt nur!“
Als ich dann das nächstemal nach der Orgelmusik mit ihm ging, war er nicht sehr mitteilsam. Er führte mich in einer alten Gasse durch ein altes, stattliches Haus empor und in ein großes, etwas düsteres und verwahrlostes Zimmer, wo außer einem Klavier nichts auf Musik deutete, während ein großer Bücherschrank und Schreibtisch dem Raum etwas Gelehrtenhaftes gaben.
„Wieviel Bücher Sie haben!“ sagte ich anerkennend.
„Ein Teil davon ist aus der Bibliothek meines Vaters, bei dem ich wohne. — Ja, junger Mann, ich wohne bei Vater und Mutter, aber ich kann Sie ihnen nicht vorstellen, mein Umgang genießt hier im Hause keiner großen Achtung. Ich bin ein verlorener Sohn, wissen Sie. Mein Vater ist ein fabelhaft ehrenwerter Mann, ein bedeutender Pfarrer und Prediger in hiesiger Stadt. Und ich, damit Sie gleich Bescheid wissen, bin sein begabter und vielversprechender Herr Sohn, der aber entgleist und einigermaßen verrückt geworden ist. Ich war Theologe und habe kurz vor dem Staatsexamen diese biedere Fakultät verlassen. Obgleich ich eigentlich noch immer beim Fach bin, was meine Privatstudien betrifft. Was für Götter die Leute sich jeweils ausgedacht haben, das ist mir noch immer höchst wichtig und interessant. Im übrigen bin ich jetzt Musiker und werde, wie es scheint, bald eine kleinere Organistenstelle bekommen. Dann bin ich ja auch wieder bei der Kirche.“
Ich schaute an den Bücherrücken entlang, fand griechische, lateinische, hebräische Titel, soweit ich beim schwachen Licht der kleinen Tischlampe sehen konnte. Inzwischen hatte sich mein Bekannter im Finstern bei der Wand auf den Boden gelegt und machte sich dort zu schaffen.
„Kommen Sie,“ rief er nach einer Weile, „wir wollen jetzt ein wenig Philosophie üben, das heißt das Maul halten, auf dem Bauche liegen und denken.“
Er strich ein Zündholz an und setzte in dem Kamin, vor dem er lag, Papier und Scheite in Brand. Die Flamme stieg hoch, er schürte und speiste das Feuer mit ausgesuchter Umsicht. Ich legte mich zu ihm auf den zerschlissenen Teppich. Er starrte ins Feuer, das auch mich anzog, und wir lagen schweigend wohl eine Stunde lang auf dem Bauch vor dem flackernden Holzfeuer, sahen es flammen und brausen, einsinken und sich krümmen, verflackern und zucken und endlich in stiller, versunkener Glut am Boden brüten.
„Das Feueranbeten war nicht das Dümmste, was erfunden worden ist,“ murmelte er einmal vor sich hin. Sonst sagte keiner von uns ein Wort. Mit starren Augen hing ich an dem Feuer, versank in Traum und Stille, sah Gestalten im Rauch und Bilder in der Asche. Einmal schrak ich auf. Mein Genosse warf ein Stückchen Harz in die Glut, eine kleine, schlanke Flamme schoß empor, ich sah in ihr den Vogel mit dem gelben Sperberkopf. In der hinsterbenden Kaminglut liefen goldig glühende Fäden zu Netzen zusammen, Buchstaben und Bilder erschienen, Erinnerungen an Gesichter, an Tiere, an Pflanzen, an Würmer und Schlangen. Als ich, erwachend, nach dem andern sah, stierte er, das Kinn auf den Fäusten, hingegeben und fanatisch in die Asche.
„Ich muß jetzt gehen,“ sagte ich leise.
„Ja, dann gehen Sie. Auf Wiedersehen!“
Er stand nicht auf, und da die Lampe gelöscht war, mußte ich mich mit Mühe durchs finstere Zimmer und die finsteren Gänge und Treppen aus dem verwunschenen alten Hause tasten. Auf der Straße machte ich halt und sah an dem alten Hause hinauf. In keinem Fenster brannte Licht. Ein kleines Schild aus Messing glänzte im Schein der Gaslaterne vor der Tür.
„Pistorius, Hauptpfarrer,“ las ich darauf.
Erst zu Hause, als ich nach dem Abendessen allein in meinem kleinen Zimmer saß, fiel mir ein, daß ich weder über Abraxas noch sonst etwas von Pistorius erfahren habe, daß wir überhaupt kaum zehn Worte gewechselt hatten. Aber ich war mit meinem Besuch bei ihm sehr zufrieden. Und für das nächstemal hatte er mir ein ganz exquisites Stück alter Orgelmusik versprochen, eine Passacaglia von Buxtehude.