Wie ich das letzte Wort wieder lese, das ich geschrieben — „vollkommener Ernst“ — fällt eine andere Szene mir plötzlich wieder ein, die eindringlichste, die ich mit Max Demian in jenen noch halbkindlichen Zeiten erlebt habe.
Unsere Konfirmation kam heran, und die letzten Stunden des geistlichen Unterrichts handelten vom Abendmahl. Es war dem Pfarrer wichtig damit, und er gab sich Mühe, etwas von Weihe und Stimmung war in diesen Stunden wohl zu verspüren. Allein gerade in diesen paar letzten Unterweisungsstunden waren meine Gedanken an anderes gebunden, und zwar an die Person meines Freundes. Indem ich der Konfirmation entgegensah, die uns als die feierliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche erklärt wurde, drängte sich mir unabweislich der Gedanke auf, daß für mich der Wert dieser etwa halbjährigen Religionsunterweisung nicht in dem liege, was wir hier gelernt hatten, sondern in der Nähe und dem Einfluß Demians. Nicht in die Kirche war ich nun bereit aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwie auf Erden existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund empfand.
Ich suchte diesen Gedanken zurückzudrängen, es war mir Ernst damit, die Feier der Konfirmation, trotz allem, mit einer gewissen Würde zu erleben, und diese schien sich mit meinem neuen Gedanken wenig zu vertragen. Doch ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir allmählich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders zu begehen als die andern, sie sollte für mich die Aufnahme in eine Gedankenwelt bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte.
In jenen Tagen war es, daß ich wieder einmal lebhaft mit ihm disputierte; es war gerade vor einer Unterweisungsstunde. Mein Freund war zugeknöpft und hatte keine Freude an meinen Reden, die wohl ziemlich altklug und wichtigtuerisch waren.
„Wir reden zu viel,“ sagte er mit ungewohntem Ernst. „Das kluge Reden hat gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich selber Wegkommen ist Sünde. Man muß sich in sich selber völlig verkriechen können wie eine Schildkröte.“
Gleich darauf betraten wir den Schulsaal. Die Stunde begann, ich gab mir Mühe, aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte ich mich um.
Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst. Aber er sah dennoch ganz anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach Innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht, sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichmäßig bleich, wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sondern wie feste, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben.
Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlich voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod!
„Jetzt ist der ganz in sich hineingegangen,“ fühlte ich unter Schauern. Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre.
Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie ich denken mußte, sonderbar götzenhaft steif, eine Fliege setzte sich auf seine Stirn, lief langsam über Nase und Lippen hinweg — er zuckte mit keiner Falte.
Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was fühlte er? War er in einem Himmel, in einer Hölle?
Es war mir nicht möglich, ihn darüber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er wie früher. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Er schien müde. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, seine Hände bewegten sich wieder, das braune Haar aber war jetzt glanzlos und wie ermüdet.
In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals einer neuen Übung hin: ich setzte mich steil auf einen Stuhl, machte die Augen starr, hielt mich vollkommen regungslos, und wartete, wie lange ich es aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß müde und bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern.
Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind.
Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir die gewohnten Gefühle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. So fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet.
Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir die Mutter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht, mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war verreist. Ich war allein.