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Buddenbrooks-Elfter Teil-Zweites Kapitel

时间:2022-04-12来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
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Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam. Es war ein heiseres und geborstenes Geräusch, ein Klappern mehr als ein Klingeln, denn sie war altgedient und abgenutzt; aber es dauerte lange, hoffnungslos lange, denn sie war gründlich aufgezogen.
 
Hanno Buddenbrook erschrak zuinnerst. Wie jeden Morgen zogen sich bei dem jähen Einsetzen dieses zugleich boshaften und treuherzigen Lärmes, auf dem Nachttische, dicht neben seinem Ohre, vor Grimm, Klage und Verzweiflung seine Eingeweide zusammen. Äußerlich aber blieb er ganz ruhig, veränderte seine Lage im Bette nicht und riß nur rasch, aus irgendeinem verwischten Morgentraume gejagt, die Augen auf.
 
Es war vollkommen finster in der winterkalten Stube; er unterschied keinen Gegenstand und konnte die Zeiger der Uhr nicht sehen. Aber er wußte, daß es sechs Uhr war, denn er hatte gestern abend den Wecker auf diese Stunde gestellt … Gestern … gestern … Während er mit angespannten Nerven, um den Entschluß kämpfend, Licht zu machen und das Bett zu verlassen, regungslos auf dem Rücken lag, kehrte ihm nach und nach alles ins Bewußtsein zurück, was ihn gestern erfüllt hatte …
 
Es war Sonntag gewesen, und nachdem er sich mehrere Tage hintereinander von Herrn Brecht hatte malträtieren lassen müssen, hatte er zur Belohnung seine Mutter ins Stadttheater begleiten dürfen, um den »Lohengrin« zu hören. Die Freude auf diesen Abend hatte seit einer Woche schon sein Leben ausgemacht. Beklagenswert war nur, daß stets vor solcherlei Festen soviel des Widerwärtigen lagerte und bis zum letzten Augenblick die freie und freudige Aussicht darauf verdarb. Aber endlich war doch am Sonnabend die Schulzeit überstanden gewesen, und die Tretmaschine hatte zum letzten Male in seinem Munde mit schmerzhaftem Summen gebohrt … Nun war alles beiseite geschafft und überwunden gewesen, denn die Schulaufgaben hatte er kurz entschlossen jenseits des Sonntagabends geschoben. Was hatte der Montag bedeutet? War es wahrscheinlich gewesen, daß er jemals anbrechen würde? Man glaubt an keinen Montag, wenn man am Sonntag abend den »Lohengrin« hören soll … Er hatte am Montag frühzeitig aufstehen wollen und diese albernen Sachen erledigen – damit genug! Nun war er frei umhergegangen, hatte die Freude seines Herzens gepflegt, am Flügel geträumt und alle Widrigkeiten vergessen.
 
Und dann war das Glück zur Wirklichkeit geworden. Es war über ihn gekommen mit seinen Weihen und Entzückungen, seinem heimlichen Erschauern und Erbeben, seinem plötzlichen innerlichen Schluchzen, seinem ganzen überschwänglichen und unersättlichen Rausche … Freilich, die billigen Geigen des Orchesters hatten beim Vorspiel ein wenig versagt, und ein dicker, eingebildeter Mensch mit brotblondem Vollbarte war im Nachen ein wenig ruckweise herangeschwommen. Auch war in der Nachbarloge sein Vormund Herr Stephan Kistenmaker zugegen gewesen und hatte gemurrt, daß man den Jungen auf solche Weise zerstreue und von seinen Pflichten ablenke. Aber darüber hatte ihn die süße und verklärte Herrlichkeit, auf die er lauschte, hinweggehoben …
 
Und endlich war doch das Ende gekommen. Das singende, schimmernde Glück war verstummt und erloschen, mit fiebrigem Kopfe hatte er sich daheim in seinem Zimmer wiedergefunden und war gewahr worden, daß nur ein paar Stunden des Schlafes dort in seinem Bett ihn von grauem Alltag trennten. Da hatte ihn ein Anfall jener gänzlichen Verzagtheit überwältigt, die er so wohl kannte. Er hatte wieder empfunden, wie wehe die Schönheit tut, wie tief sie in Scham und sehnsüchtige Verzweiflung stürzt und doch auch den Mut und die Tauglichkeit zum gemeinen Leben verzehrt. So fürchterlich hoffnungslos und bergeschwer hatte es ihn niedergedrückt, daß er sich wieder einmal gesagt hatte, es müsse mehr sein als seine persönlichen Kümmernisse, was auf ihm laste, eine Bürde, die von Anbeginn seine Seele beschwert habe und sie irgendwann einmal ersticken müsse …
 
Dann hatte er den Wecker gerichtet und geschlafen, so tief und tot, wie man schläft, wenn man niemals wieder erwachen möchte. Und nun war der Montag da, und es war sechs Uhr, und er hatte für keine Stunde gearbeitet!
 
Er richtete sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttische. Da aber in der eiskalten Luft seine Arme und Schultern sofort heftig zu frieren begannen, ließ er sich rasch wieder zurücksinken und zog die Decke über sich.
 
Die Zeiger wiesen auf zehn Minuten nach sechs Uhr … Ach, es war sinnlos, nun aufzustehen und zu arbeiten, es war zuviel, es gab beinahe für jede Stunde etwas zu lernen, es lohnte nicht, damit anzufangen, und der Zeitpunkt, den er sich festgesetzt, war sowieso überschritten … War es denn so sicher, wie es ihm gestern erschienen war, daß er heute sowohl im Lateinischen wie in der Chemie an die Reihe kommen würde? Es war anzunehmen, ja, nach menschlicher Voraussicht war es wahrscheinlich. Was den Ovid betraf, so waren neulich die Namen ausgerufen worden, die mit den letzten Buchstaben des Alphabetes begannen, und mutmaßlich würde es heute mit A und B von vorn anfangen. Aber es war doch nicht unbedingt sicher, nicht ganz und gar zweifellos! Es kamen doch Abweichungen von der Regel vor! Was bewirkte nicht manchmal der Zufall, du lieber Gott!… Und während er sich mit diesen trügerischen und gewaltsamen Erwägungen beschäftigte, verschwammen seine Gedanken ineinander, und er entschlief aufs neue.
 
Das kleine Schülerzimmer, kalt und kahl, mit seiner Sixtinischen Madonna als Kupferstich über dem Bette, seinem Ausziehtisch in der Mitte, seinem unordentlich vollgepfropften Bücherbord, einem steifbeinigen Mahagonipult, dem Harmonium und dem schmalen Waschtisch, lag stumm in dem wankenden Schein der Kerze. Eisblumen blühten am Fenster, dessen Rouleau nicht hinabgelassen war, damit das Tageslicht früher hereindringe. Und Hanno Buddenbrook schlief, die Wange in das Kissen geschmiegt. Er schlief mit getrennten Lippen und tief und fest gesenkten Wimpern, mit dem Ausdruck einer inbrünstigen und schmerzlichen Hingabe an den Schlaf, und sein weiches, hellbraunes Haar bedeckte gelockt seine Schläfen. Und langsam verlor das Flämmchen auf dem Nachttische seinen rotgelben Schein, da durch die Eiskruste der Fensterscheibe der matte Morgen starr und fahl ins Zimmer blickte.
 
Als es sieben Uhr war, erwachte er wieder mit Schrecken. Nun war auch diese Frist abgelaufen. Aufstehen und den Tag auf sich nehmen – es gab nichts, um das abzuwenden. Eine kurze Stunde nur noch bis zum Schulanfang … Die Zeit drängte, von den Arbeiten nun ganz zu schweigen. Trotzdem blieb er noch liegen, voll von Erbitterung, Trauer und Anklage dieses brutalen Zwanges wegen, in frostigem Halbdunkel das warme Bett zu verlassen und sich hinaus unter strenge und übelwollende Menschen in Not und Gefahr zu begeben. Ach, noch zwei armselige Minuten, nicht wahr? fragte er sein Kopfkissen mit überquellender Zärtlichkeit. Und dann, in einem Anfall von Trotz, schenkte er sich fünf volle Minuten, um noch ein wenig die Augen zu schließen, von Zeit zu Zeit das eine zu öffnen und verzweiflungsvoll auf den Zeiger zu starren, der stumpfsinnig, unwissend und korrekt seines Weges vorwärts ging …
 
Zehn Minuten nach sieben Uhr riß er sich los und fing an, sich in höchster Hast im Zimmer hin und her zu bewegen. Die Kerze brannte fort, denn das Tageslicht allein genügte noch nicht. Als er eine Eisblume zerhauchte, sah er, daß draußen dichter Nebel herrschte.
 
Ihn fror über alle Maßen. Der Frost schüttelte manchmal mit schmerzhaftem Schauder seinen ganzen Körper. Seine Fingerspitzen brannten und waren so geschwollen, daß mit der Nagelbürste nichts anzufangen war. Als er sich den Oberkörper wusch, ließ seine beinah erstorbene Hand den Schwamm zu Boden fallen, und er stand einen Augenblick starr und hilflos da, qualmend wie ein schwitzendes Pferd.
 
Und endlich, mit gehetztem Atem und trüben Augen, stand er dennoch fertig am Ausziehtische, ergriff die Ledermappe und raffte die Geisteskräfte zusammen, welche die Verzweiflung ihm übrig ließ, um für die Stunden von heute die nötigen Bücher hineinzupacken. Er stand, sah angestrengt in die Luft, murmelte angstvoll: »Religion … Lateinisch … Chemie …« und stopfte die defekten und mit Tinte befleckten Pappbände zueinander …
 
Ja, er war nun schon ziemlich lang, der kleine Johann. Er war mehr als fünfzehnjährig und trug kein Kopenhagener Matrosenhabit mehr, sondern einen hellbraunen Jackettanzug mit blauer, weißgesprenkelter Krawatte. Auf seiner Weste war die lange und dünne goldene Uhrkette zu sehen, die von seinem Urgroßvater auf ihn gekommen war, und an dem vierten Finger seiner ein wenig zu breiten, aber zartgegliederten Rechten stak der alte Erbsiegelring mit grünem Stein, der nun ebenfalls ihm gehörte … Er zog die dicke, wollige Winterjacke an, setzte den Hut auf, riß die Mappe an sich, löschte die Kerze und stürzte die Treppe hinunter ins Erdgeschoß, an dem ausgestopften Bären vorbei, zur Rechten ins Speisezimmer.
 
Fräulein Clementine, die neue Jungfer seiner Mutter, ein mageres Mädchen mit Stirnlocken, spitzer Nase und kurzsichtigen Augen, war bereits zur Stelle und machte sich am Frühstückstische zu schaffen.
 
»Wie spät ist es eigentlich?« fragte er zwischen den Zähnen, obgleich er es sehr genau wußte.
 
»Viertel vor acht«, antwortete sie und wies mit ihrer dünnen, roten Hand, die aussah wie gichtisch, auf die Wanduhr. »Sie müssen wohl zusehen, daß Sie fortkommen, Hanno …« Damit setzte sie die dampfende Tasse an seinen Platz und schob ihm Brotkorb und Butter, Salz und Eierbecher zu.
 
Er sagte nichts mehr, griff nach einer Semmel und begann im Stehen, den Hut auf dem Kopfe und die Mappe unterm Arm, den Kakao zu schlucken. Das heiße Getränk tat entsetzlich weh an einem Backenzahn, den gerade Herr Brecht in Behandlung gehabt hatte … Er ließ die Hälfte stehen, verschmähte auch das Ei, ließ mit verzerrtem Munde einen leisen Laut vernehmen, den man als Adieu deuten mochte, und lief aus dem Hause.
 
Es war zehn Minuten vor acht Uhr, als er den Vorgarten passierte, die kleine rote Villa zurückließ und nach rechts die winterliche Allee entlang zu hasten begann … Zehn, neun, acht Minuten nur noch. Und der Weg war weit. Und man konnte vor Nebel kaum sehen, wie weit man gekommen war! Er zog ihn ein und stieß ihn wieder aus, diesen dicken, eiskalten Nebel, mit der ganzen Kraft seiner schmalen Brust, stemmte die Zunge gegen den Zahn, der vom Kakao noch brannte, und tat den Muskeln seiner Beine eine unsinnige Gewalt an. Er war in Schweiß gebadet und fühlte sich dennoch erfroren in jedem Gliede. In seinen Seiten fing es an zu stechen. Das bißchen Frühstück revoltierte in seinem Magen bei diesem Morgenspaziergang, ihm ward übel, und sein Herz war nur noch ein bebendes und haltlos flatterndes Ding, das ihm den Atem nahm.
 
Das Burgtor, das Burgtor erst, und dabei war es vier Minuten vor acht! Während er sich in kalter Transpiration, in Schmerz, Übelkeit und Not durch die Straßen kämpfte, spähte er nach allen Seiten, ob nicht vielleicht noch andre Schüler zu sehen seien … Nein, nein, es kam niemand mehr. Alle waren an Ort und Stelle, und da begann es auch schon acht Uhr zu schlagen! Die Glocken klangen durch den Nebel von allen Türmen, und diejenigen von Sankt Marien spielten zur Feier des Augenblicks sogar »Nun danket alle Gott« … Sie spielten es grundfalsch, wie Hanno rasend vor Verzweiflung konstatierte, sie hatten keine Ahnung von Rhythmus und waren höchst mangelhaft gestimmt … Aber das war nun das wenigste, das wenigste! Ja, er kam zu spät, es war wohl keine Frage mehr. Die Schuluhr war ein wenig im Rückstande, aber er kam dennoch zu spät, es war sicher. Er starrte den Leuten ins Gesicht, die an ihm vorübergingen. Sie begaben sich in ihre Kontore und an ihre Geschäfte, sie eilten gar nicht sehr, und nichts drohte ihnen. Manche erwiderten seinen neidischen und klagenden Blick, musterten seine aufgelöste Erscheinung und lächelten. Er war außer sich über dieses Lächeln. Was dachten sie sich und wie beurteilten diese Ungeängstigten die Sachlage? Es beruht auf Roheit, hätte er ihnen zuschreien mögen, Ihr Lächeln, meine Herrschaften! Sie könnten bedenken, daß es innig wünschenswert wäre, vor dem geschlossenen Hoftore tot umzufallen …
 
Das anhaltend gellende Klingeln, das Zeichen zum Beginne der Montagsandacht, schlug an sein Ohr, als er noch zwanzig Schritte von der langen, roten, von zwei gußeisernen Pforten unterbrochenen Mauer entfernt war, die den vorderen Schulhof von der Straße trennte. Ohne über irgendwelche Kräfte zum Ausschreiten und Laufen mehr zu verfügen, ließ er seinen Oberkörper einfach nach vorne fallen, wobei die Beine wohl oder übel das Hinstürzen verhindern mußten, indem sie sich stolpernd und schlotternd ebenfalls vorwärts bewegten, und gelangte so vor die erste Pforte, als das Klingeln schon verstummt war.
 
Herr Schlemiel, der Kustos, ein untersetzter Mann mit rauhbärtigem Arbeitergesicht, war eben im Begriff, sie zu verschließen. »Na …« sagte er und ließ den Schüler Buddenbrook hindurchschlüpfen … Vielleicht, vielleicht war er gerettet. Es galt, sich ungesehen ins Klassenzimmer zu stehlen, dort heimlich das Ende der Andacht abzuwarten, die in der Turnhalle abgehalten wurde, und zu tun, als ob alles in Ordnung sei. Und mit Keuchen nach Luft ringend, aufgerieben und in kaltem Schweiße erstarrt, schleppte er sich über den mit roten Klinkern gepflasterten Hof und durch eine der hübschen, mit bunten Glasscheiben versehenen Klapptüren ins Innere …
 
Es war alles neu, reinlich und schön hier in der Anstalt. Der Zeit war ihr Recht geworden, und die grauen und altersmorschen Teile der ehemaligen Klosterschule, in denen noch die Väter der jetzigen Generation der Wissenschaft gepflogen hatten, waren der Erde gleichgemacht, um neue, luftige, prächtige Baulichkeiten an ihrer Stelle erstehen zu lassen. Der Stil des Ganzen war gewahrt worden, und über Korridoren und Kreuzgängen spannten sich feierlich die gotischen Gewölbe. Was aber die Beleuchtung und Heizung, was die Geräumigkeit und Helligkeit der Klassen, die Behaglichkeit der Lehrerzimmer, die praktische Einrichtung der Säle für Chemie-, Physik- und Zeichenunterricht betraf, so herrschte der vollste Komfort der Neuzeit …
 
Der erschöpfte Hanno Buddenbrook drückte sich an der Wand entlang und blickte um sich … Nein, gepriesen sei Gott, es sah ihn niemand. Von fernen Korridoren hallte das Gewühl der Schüler- und Lehrermasse zu ihm her, die sich zur Turnhalle wälzte, um dort für die Arbeit der Woche eine kleine religiöse Stärkung zu sich zu nehmen. Hier vorn lag alles tot und still, und auch der Weg über die breite, mit Linoleum gedeckte Treppe war frei. Behutsam, auf den Zehenspitzen, verhaltenen Atems und angespannt lauschend, schlich er hinauf. Sein Klassenzimmer, die Realuntersekunda, war im ersten Stockwerk, der Treppe gegenüber gelegen; die Tür stand offen. Auf der obersten Stufe spähte er, vorgebeugt, den langen Wandelgang entlang, an dessen beiden Seiten sich die mit Porzellanschildern versehenen Eingänge zu den verschiedenen Klassen reihten, tat drei rasche, geräuschlose Schritte vorwärts und befand sich im Zimmer.
 
Es war leer. Die drei breiten Fenster waren noch verhangen, und die brennenden Gaslampen, die von der Decke niederhingen, kochten leise in der Stille. Grüne Schirme breiteten das Licht über die drei Kolonnen zweisitziger Pultbänke aus hellem Holze hin, denen dunkel, lehrhaft und reserviert, mit einer Wandtafel zu seinen Häupten, das Katheder gegenüber stand. Eine gelbe Holztäfelung bekleidete den unteren Teil der Wände, und darüber waren die nackten Kalkflächen mit ein paar Landkarten geschmückt. Eine zweite Tafel lehnte auf einer Staffelei zur Seite des Katheders.
 
Hanno ging zu seinem Platz, der sich ungefähr inmitten des Zimmers befand, schob die Mappe ins Fach, sank auf den harten Sitz, legte die Arme auf die schräge Platte und bettete seinen Kopf darauf. Ein unsägliches Wohlgefühl durchrieselte ihn. Diese kahle und harte Stube war häßlich und hassenswert, und auf seinem Herzen lastete der ganze drohende Vormittag mit tausend Gefahren. Aber er war doch fürs erste in Sicherheit, war körperlich geborgen und konnte die Dinge an sich herankommen lassen. Auch war die erste, die Religionsstunde bei Herrn Ballerstedt ziemlich harmloser Natur … An dem Vibrieren des Papierzüngleins dort oben vor der kreisrunden Öffnung in der Wand sah man, wie die warme Luft hereinströmte, und auch die Gasflammen heizten den Raum. Ach, man konnte sich strecken und die starr-feuchten Glieder langsam sich lösen und auftauen lassen. Eine wohlige und ungesunde Hitze stieg in seinen Kopf hinauf, summte in seinen Ohren und verschleierte seine Augen …
 
Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, das ihn zusammenzucken und sich jäh herumwenden ließ … Und siehe da, hinter der hintersten Bank kam der Oberkörper Kais, des Grafen Mölln, zum Vorschein. Er kroch hervor, der junge Herr, er arbeitete sich heraus, stellte sich auf die Füße, schlug leicht und schnell die Hände gegeneinander, um den Staub davon abzustreifen, und schritt strahlenden Angesichts auf Hanno Buddenbrook zu.
 
»Ach, du bist es, Hanno!« sagte er. »Und ich zog mich dorthin zurück, weil ich dich für ein Stück Lehrkörper hielt, als du kamst!«
 
Seine Stimme brach sich beim Sprechen, merklich im Wechseln begriffen, was bei seinem Freunde noch nicht der Fall war. Er war in gleichem Maße gewachsen wie dieser, aber sonst war er ganz und gar derselbe geblieben. Immer noch trug er einen Anzug von unbestimmter Farbe, an dem hie und da ein Knopf fehlte, und dessen Gesäß von einem großen Flicken gebildet ward. Immer noch waren seine Hände nicht ganz reinlich, aber schmal und außerordentlich edel gebildet, mit langen, schlanken Fingern und spitz zulaufenden Nägeln. Und immer noch fiel sein flüchtig in der Mitte gescheiteltes, rötlich gelbes Haar in eine alabasterweiße und makellose Stirn, unter welcher, tief und scharf zugleich, die hellblauen Augen blitzten … Der Gegensatz zwischen seiner arg vernachlässigten Toilette und der Rassereinheit dieses zartknochigen Gesichts mit der ganz leicht gebogenen Nase und der ein wenig geschürzten Oberlippe sprang jetzt noch mehr in die Augen als ehemals.
 
»Nein, Kai«, sagte Hanno mit verzogenem Munde und indem er eine Hand in der Gegend des Herzens umherbewegte, »wie kannst du mich dermaßen erschrecken! Warum bist du hier oben? Warum hast du dich versteckt? Bist du auch zu spät gekommen?«
 
»Bewahre«, antwortete Kai. »Ich bin schon lange hier … Am Montagmorgen kann man es ja nicht erwarten, endlich wieder in die Anstalt zu gelangen, wie du selbst am besten weißt, mein Lieber … Nein, ich bin nur zum Spaß hier oben geblieben. Der tiefe Oberlehrer hatte die Aufsicht und achtete es nicht für Raub, das Volk zur Andacht hinunterzutreiben. Da machte ich es so, daß ich mich immer dicht hinter seinem Rücken hielt … Wie er sich auch drehte und um sich lugte, der Mystiker, ich war immer dicht hinter seinem Rücken, bis er wegging, und so konnte ich oben bleiben … Aber du«, sagte er mitleidig und setzte sich mit einer zärtlichen Bewegung neben Hanno auf die Bank … »Du hast rennen müssen, wie? Armer! Du siehst ganz verhetzt aus. Das Haar klebt dir ja an den Schläfen …« Und er nahm ein Lineal vom Tische und lockerte damit, ernst und sorgsam, das Haar des kleinen Johann. »Du hast also die Zeit verschlafen?… Übrigens sitze ich hier auf Adolf Todtenhaupts Platz«, unterbrach er sich und blickte um sich, »auf des Primus geweihtem Platze! Nun, für diesmal macht es wohl nichts … Du hast also die Zeit verschlafen?«
 
Hanno hatte sein Gesicht wieder auf die gekreuzten Arme gebettet. »Ich war ja im Theater gestern Abend«, sagte er nach einem schweren Seufzer.
 
»Oh, richtig, das hatte ich vergessen!… War es so schön?«
 
Kai bekam keine Antwort.
 
»Du hast es doch gut«, fuhr er überredend fort, »das solltest du bedenken, Hanno. Sieh, ich bin noch nie im Theater gewesen, und es besteht auf lange Jahre hinaus nicht die geringste Aussicht, daß ich jemals hineinkomme …«
 
»Wenn nur der Katzenjammer nicht wäre«, sagte Hanno gepreßt.
 
»Ja, den Zustand kenne ich ohnehin.« Und Kai bückte sich nach dem Hut und dem Überzieher seines Freundes, die neben der Bank auf dem Boden lagen, nahm die Sachen und trug sie leise auf den Korridor hinaus.
 
»Dann hast du die metamorphosenverse wohl nicht sehr genau im Kopfe?« fragte er, als er wieder hereinkam.
 
»Nein«, sagte Hanno.
 
»Oder bist du vielleicht auf das Geographie-Extemporale präpariert?«
 
»Ich bin gar nichts und kann gar nichts«, sagte Hanno.
 
»Also auch nicht Chemie und Englisch! All right! Wir sind Herzensfreunde und Waffenbrüder!« Kai war sichtlich erleichtert. »Ich bin in genau derselben Lage«, erklärte er munter. »Ich habe am Sonnabend nicht gearbeitet, weil morgen Sonntag war, und am Sonntag nicht, aus Pietät … Nein, Unsinn … hauptsächlich, weil ich etwas Besseres zu arbeiten hatte, natürlich«, sagte er mit plötzlichem Ernst, indem eine leichte Röte sein Gesicht überflog. »Ja, heute kann es vergnüglich werden, Hanno.«
 
»Wenn ich noch einen Tadel bekomme«, sagte der kleine Johann, »so bleibe ich sitzen; und den bekomme ich sicher, wenn er mich im Lateinischen darannimmt. Der Buchstabe B ist an der Reihe, Kai, das ist nicht aus der Welt zu schaffen …«
 
»Warten wir's ab! Ha, Cäsar geht aus. Mir haben stets Gefahren im Rücken nur gedroht; wenn sie die Stirn des Cäsar werden sehen …« Aber Kai kam mit seiner Deklamation nicht zu Ende. Es war ihm ebenfalls sehr schlecht zumute. Er ging zum Katheder, setzte sich darauf und fing an, sich mit finsterer Miene in dem Armstuhl zu schaukeln. Hanno Buddenbrook ließ seine Stirn noch immer auf den gekreuzten Armen ruhen. So saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber.
 
Plötzlich klang irgendwo in weiter Ferne ein dumpfes Summen auf, das schnell zum Brausen ward und sich binnen einer halben Minute bedrohlich heranwälzte …
 
»Das Volk«, sagte Kai erbittert. »Herr, mein Gott, wie rasch sie fertig sind! Nicht einmal um zehn Minuten ist die Stunde kürzer geworden …«
 
Er stieg vom Katheder hinab und begab sich zur Tür, um sich unter die Hereinkommenden zu mischen. Was Hanno betraf, so erhob er nur einen Augenblick den Kopf, verzog den Mund und blieb einfach sitzen.
 
Es kam heran, mit Schlürfen, Stampfen und einem Gewirr von männlichen Stimmen, Diskanten und sich überschlagenden Wechselorganen, flutete über die Treppen herauf, ergoß sich über den Korridor und strömte auch in dieses Zimmer, das plötzlich von Leben, Bewegung und Geräusch erfüllt ward. Sie kamen herein, die jungen Leute, die Kameraden Hannos und Kais, die Realuntersekundaner, etwa fünfundzwanzig an der Zahl, schlenderten, die Hände in den Hosentaschen oder mit den Armen schlenkernd an ihre Plätze und schlugen ihre Bibeln auf. Es waren da angenehme und konfiszierte Physiognomien, solche, die wohl und gesund, und andere, die bedenklich aussahen, lange, starke Schlingel, die demnächst Kaufleute werden oder gar zur See gehen wollten und sich um gar nichts mehr kümmerten, und kleine, über ihr Alter hinaus vorgeschrittene Streber, die in den Fächern brillierten, in denen es auswendig zu lernen galt. Adolf Todtenhaupt aber, der Primus, wußte alles; er war seiner Lebtage noch nicht eine Antwort schuldig geblieben. Das lag zum Teil an seinem stillen, leidenschaftlichen Fleiße, zum Teil daran, daß die Lehrer sich hüteten, ihn etwas zu fragen, was er vielleicht nicht hätte wissen können. Es hätte sie schmerzlich berührt und beschämt, es hätte sie in ihrem Glauben an menschliche Vollkommenheit erschüttert, ein Verstummen Adolf Todtenhaupts zu erleben … Er besaß einen merkwürdig gebuckelten Schädel, dem das blonde Haar spiegelglatt angeklebt war, graue, schwarz umringte Augen und lange, braune Hände, die aus den zu kurzen Ärmeln seiner sauber gebürsteten Jacke hervorsahen. Er setzte sich neben Hanno Buddenbrook, lächelte sanft und ein wenig tückisch und bot dem Nachbar einen Guten Morgen, wobei er sich dem herrschenden Jargon anbequemte, der das Wort zu einem kecken und nachlässigen Laute verzerrte. Dann begann er, während um ihn her alles halblaut plauderte, sich präparierte, gähnte und lachte, stillschweigend in dem Klassenbuch zu arbeiten, indem er die Feder auf unvergleichlich korrekte Art mit schlank und gerade ausgestreckten Fingern handhabte.
 
Nach Verlauf von zwei Minuten wurden draußen Schritte laut, die Inhaber der vorderen Bänke erhoben sich ohne Eile von ihren Plätzen, und weiter hinten folgte dieser und jener ihrem Beispiel, während andere sich in ihren Beschäftigungen nicht stören ließen und kaum Notiz davon nahmen, daß Herr Oberlehrer Ballerstedt ins Zimmer kam, seinen Hut an die Tür hängte und sich zum Katheder begab.
 
Er war ein Vierziger von sympathischem Embonpoint, mit großer Glatze, rötlichgelbem, kurz gehaltenem Vollbart, rosigem Teint und einem Mischausdruck von Salbung und behaglicher Sinnlichkeit um die feuchten Lippen. Er nahm sein Notizbuch zur Hand und blätterte schweigend darin; da aber die Ruhe in der Klasse vieles zu wünschen übrig ließ, erhob er den Kopf, streckte den Arm auf der Pultplatte aus und bewegte, während sein Gesicht langsam so dunkelrot anschwoll, daß sein Bart hellgelb erschien, seine schwache und weiße Faust ein paarmal kraftlos auf und nieder, wobei seine Lippen eine halbe Minute lang krampfhaft und fruchtlos arbeiteten, um schließlich nichts hervorzubringen als ein kurzes, gepreßtes und ächzendes »Nun …« Dann rang er noch eine Weile nach ferneren Ausdrücken des Tadels, wandte sich schließlich wieder seinem Notizbuch zu, schwoll ab und gab sich zufrieden. Dies war so Oberlehrer Ballerstedts Art und Weise.
 
Er hatte ehemals Prediger werden wollen, war dann jedoch durch seine Neigung zum Stottern wie durch seinen Hang zu weltlichem Wohlleben bestimmt worden, sich lieber der Pädagogik zuzuwenden. Er war Junggeselle, besaß einiges Vermögen, trug einen kleinen Brillanten am Finger und war dem Essen und Trinken herzlich zugetan. Er war derjenige Oberlehrer, der nur dienstlich mit seinen Standesgenossen, im übrigen aber vorwiegend mit der unverheirateten kaufmännischen Lebewelt der Stadt, ja auch mit den Offizieren der Garnison verkehrte, täglich zweimal im ersten Gasthause speiste und Mitglied des »Klubs« war. Begegnete er größeren Schülern nachts um zwei oder drei Uhr irgendwo in der Stadt, so schwoll er an, brachte einen »Guten Morgen« zustande und ließ die Sache für beide Teile auf sich beruhen … Hanno Buddenbrook hatte nichts von ihm zu befürchten und wurde fast nie von ihm gefragt. Der Oberlehrer hatte sich mit seinem onkel Christian allzuoft in allzurein menschlicher Weise zusammengefunden, als daß es ihn hätte freuen können, mit dem Neffen in dienstliche Konflikte zu geraten …
 
»Nun …« sagte er abermals, sah in der Klasse umher, bewegte wieder seine schwach geballte Faust mit dem kleinen Brillanten und blickte in sein Notizbuch. »Perlemann. Die Übersicht.«
 
Irgendwo in der Klasse erhob sich Perlemann. Man merkte es kaum, daß er emporstieg. Es war einer von den Kleinen, Vorgeschrittenen. »Die Übersicht«, sagte er leise und artig, indem er mit ängstlichem Lächeln den Kopf vorstreckte. »Das Buch Hiob zerfällt in drei Teile. Erstens der Zustand Hiobs, ehe er in das Kreuz oder Züchtigung des Herrn geraten; Kapitel I, Vers eins bis sechs. Zweitens das Kreuz selbst und was sich dabei zugetragen; Kapitel …«
 
»Es war richtig, Perlemann«, unterbrach ihn Herr Ballerstedt, gerührt von soviel zager Willfährigkeit, und schrieb eine gute Note in sein Taschenbuch. »Heinricy, fahren Sie fort.«
 
Heinricy war einer von den langen Schlingeln, die sich um gar nichts mehr kümmerten. Er schob das griffeste Messer, mit dem er sich beschäftigt hatte, in die Hosentasche, stand geräuschvoll auf, ließ die Unterlippe hängen und räusperte sich mit rauher und roher Männerstimme. Alle waren unzufrieden, daß nun er statt des sanften Perlemann an die Reihe kam. Die Schüler träumten und brüteten in der warmen Stube unter den leise sausenden Gasflammen im Halbschlafe vor sich hin. Alle waren müde vom Sonntag, und alle waren an dem kalten Nebelmorgen seufzend und mit klappernden Zähnen aus den warmen Betten gekrochen. Jedem wäre es lieb gewesen, wenn der kleine Perlemann die ganze Stunde lang weitergesäuselt hätte, während Heinricy nun sicherlich Streit machen würde …
 
»Ich habe gefehlt, als dies durchgenommen wurde«, sagte er mit grober Betonung.
 
Herr Ballerstedt schwoll an, er bewegte seine schwache Faust, arbeitete mit den Lippen und starrte dem jungen Heinricy mit emporgezogenen Augenbrauen ins Gesicht. Sein dunkelroter Kopf zitterte vor ringender Anstrengung, bis er schließlich ein »Nun …« hervorzustoßen vermochte, womit der Bann gebrochen und das Spiel gewonnen war. »Von Ihnen ist nie eine Leistung zu erlangen«, fuhr er mit Leichtigkeit und Redegewandtheit fort, »und immer haben Sie eine Entschuldigung bei der Hand, Heinricy. Wenn Sie vorige Stunde krank waren, so hätten Sie sich doch in diesen Tagen sehr wohl über das durchgenommene Pensum unterrichten können, und wenn der erste Teil vom Zustande vor dem Kreuze und der zweite vom Kreuze selbst handelt, so könnten Sie sich am Ende an den Fingern abzählen, daß der dritte Teil den Zustand nach vorbesagtem Jammer betrifft. Aber es fehlt Ihnen an der rechten Hingebung, und Sie sind nicht allein ein schwacher Mensch, Sie sind auch immer bereit, ihre Schwäche zu beschönigen und zu verteidigen. Merken Sie sich aber, daß, solange dies der Fall, an eine Erhebung und Besserung nicht zu denken ist, Heinricy. Setzen Sie sich. Wasservogel, fahren Sie fort.«
 
Heinricy, dickfellig und trotzig, setzte sich mit Scharren und Knarren, raunte seinem Nachbar eine Frechheit zu und zog sein griffestes Messer wieder hervor. Der Schüler Wasservogel stand auf, ein Junge mit entzündeten Augen, aufgestülpter Nase, abstehenden Ohren und zerkauten Fingernägeln. Er vollendete mit weichlicher Quetschstimme die »Übersicht« und fing an, von Hiob, dem Manne im Lande Uz, zu erzählen, und was sich mit ihm begeben. Er hatte das Alte Testament hinter dem Rücken seines Vordermannes aufgeschlagen, las darin mit dem Ausdruck vollendeter Unschuld und hingebender Nachdenklichkeit, starrte dann auf einen Punkt der Wand und sprach, indem er das Erschaute unter Stocken und quäkendem Husten in ein hilfloses, modernes Deutsch übersetzte … Er hatte etwas äußerst Widerliches an sich, aber Herr Ballerstedt lobte ihn sehr für alle seine Bemühungen. Der Schüler Wasservogel hatte es insofern gut im Leben, als die meisten Lehrer ihn gern und über seine Verdienste lobten, um ihm, sich selbst und den anderen zu zeigen, daß sie sich durch seine Häßlichkeit keineswegs zur Ungerechtigkeit verführen ließen …
 
Und die Religionstunde nahm ihren Fortgang. Verschiedene junge Leute wurden noch aufgerufen, um sich über ihr Wissen um Hiob, den Mann im Lande Uz, auszuweisen, und Gottlieb Kaßbaum, Sohn des verunglückten Großkaufmanns Kaßbaum, erhielt trotz seiner zerrütteten Familienverhältnisse eine vorzügliche Note, weil er mit Genauigkeit feststellen konnte, daß Hiob an Vieh siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder, fünfhundert Esel und sehr viel Gesindes besessen habe.
 
Dann durften die Bibeln aufgeschlagen werden, die meistens schon aufgeschlagen waren, und man fuhr mit Lesen fort. Kam eine Stelle, die Herrn Ballerstedt der Erläuterung bedürftig erschien, so schwoll er an, sagte »Nun …« und hielt nach den üblichen Vorbereitungen einen kleinen mit allgemeinen moralischen Betrachtungen untermischten Vortrag über den fraglichen Punkt. Kein Mensch hörte ihm zu. Friede und Schläfrigkeit herrschten im Zimmer. Die Hitze war durch die beständig arbeitende Heizung und die Gaslampen schon ziemlich stark geworden und die Luft durch diese fünfundzwanzig atmenden und dünstenden Körper schon ziemlich verdorben. Die Wärme, das gelinde Sausen der Flammen und die monotone Stimme des Vorlesenden legten sich um die gelangweilten Gehirne und lullten sie in dumpfe Traumseligkeit. Kai Graf Mölln hatte außer seiner Bibel auch die »Unbegreiflichen Ereignisse und geheimnisvollen Taten« von Edgar Allan Poe vor sich aufgeschlagen und las darin, den Kopf in die aristokratische und nicht ganz saubere Hand gestützt. Hanno Buddenbrook saß zurückgelehnt und zusammengesunken und blickte mit schlaffem Munde und schwimmenden, heißen Augen auf das Buch Hiob, dessen Zeilen und Buchstaben zu einem schwärzlichen Gewimmel verschwammen. Manchmal, wenn er sich des Gralmotives oder des Ganges zum Münster erinnerte, senkte er langsam die Lider und fühlte ein innerliches Schluchzen. Und sein Herz betete, es möchte möglich sein, daß diese gefahrlose und friedevolle Morgenstunde niemals ein Ende nähme.
 
Und dennoch kam es, wie es in der Ordnung der Dinge lag, und der schrill heulende Klang der Kustosglocke, der durch die Korridore gellte und hallte, riß die fünfundzwanzig Gehirne aus ihrem warmen Dämmern.
 
»So weit!« sagte Herr Ballerstedt und ließ sich das Klassenbuch reichen, um darin mit seinem Namenszeichen zu bescheinigen, daß er diese Stunde seines Amtes gewaltet.
 
Hanno Buddenbrook schloß seine Bibel und reckte sich zitternd und mit nervösem Gähnen; als er aber die Arme senkte und die Glieder abspannte, mußte er eilig und mühsam aufatmen, um sein Herz, das einen Augenblick schwach und wankend den Dienst versagte, ein wenig in Takt zu bringen. Jetzt kam das Lateinische … Er warf einen hilfesuchenden Seitenblick zu Kai hinüber, der das Ende der Stunde gar nicht bemerkt zu haben schien und immer noch in Versunkenheit seiner Privatlektüre oblag, zog den in marmorierte Pappe gebundenen Ovid aus seiner Mappe und schlug die Verse auf, die für heute auswendig zu lernen waren … Nein, es gab keine Hoffnung, diese schwarzen Zeilen, die sich, mit Bleistiftzeichen versehen, schnurgerade und zu fünfen numeriert aneinanderreihten und ihn so hoffnungslos dunkel und unbekannt anstarrten, sich jetzt noch ein wenig vertraut zu machen. Er verstand kaum ihren Sinn, geschweige denn hätte er eine einzige davon aus dem Kopfe hersagen können. Und von denjenigen, die sich daran schlossen und die für heute zu präparieren waren, enträtselte er nicht ein Sätzchen.
 
»Was heißt denn ›deciderant, patula Jovis arbore, glandes‹?« wandte er sich mit verzweifelter Stimme an Adolf Todtenhaupt, der neben ihm im Klassenbuch arbeitete. »Das ist ja alles Unsinn! Nur um einen zu schikanieren …«
 
»Wie?« sagte Todtenhaupt und fuhr fort, zu schreiben … »Die Eicheln vom Baum des Jupiter … Das ist die Eiche … Ja, ich weiß selbst nicht recht …«
 
»Sage mir nur ein bißchen zu, Todtenhaupt, wenn ich darankomme!« bat Hanno und schob das Buch von sich. Dann, nachdem er mit düsterem Blick des Primus unachtsames und unverbindliches Nicken betrachtet hatte, schob er sich seitwärts aus der Bank hinaus und stand auf.
 
Die Situation hatte sich verändert. Herr Ballerstedt hatte das Zimmer verlassen, und statt seiner stand jetzt am Katheder, ganz gerade und stramm, ein kleines, schwaches und ausgemergeltes Männchen mit dünnem weißen Bart, dessen rotes Hälschen aus einem engen Klappkragen hervorragte, und das mit dem einen seiner weißbehaarten Händchen seinen Zylinder, die Öffnung nach oben, vor sich hinhielt. Es führte bei den Schülern den Namen »die Spinne« und hieß in Wirklichkeit Professor Hückopp. Da ihm während dieser Pause auf dem Korridor die Aufsicht zuerteilt war, hatte es auch in den Klassenzimmern nach dem Rechten zu sehen … »Die Lampen aus! Die Vorhänge auf! Die Fenster auf!« sagte es, indem es seinem Stimmchen soviel Kommandokraft wie möglich gab und mit unbeholfen energischer Geste seinen Arm in der Luft bewegte, als drehe es eine Kurbel … »Und alles hinunter, hinaus in die frische Luft, potztausendnochmal dazu!«
 
Die Lampen verloschen, die Vorhänge flogen empor, das fahle Tageslicht erfüllte das Zimmer, und die kalte Nebelluft stürzte durch die breiten Fenster herein, während die Untersekundaner sich an Professor Hückopp vorbei zum Ausgange schoben; nur der Primus durfte hier oben bleiben.
 
Hanno und Kai trafen an der Tür zusammen und gingen nebeneinander die komfortable Treppe hinunter und drunten über die stilvollen Vorplätze. Sie schwiegen beide. Hanno sah jämmerlich elend aus und Kai war in Gedanken. Auf dem großen Hofe angelangt, begannen sie auf und nieder zu wandern, inmitten der Menge von Kameraden verschiedenen Alters, die sich auf den feuchtroten Fliesen geräuschvoll durcheinander bewegten.
 
Ein noch jugendlicher Herr mit blondem Spitzbart führte hier unten die Aufsicht. Dies war der feine Oberlehrer. Er hieß Doktor Goldener und unterhielt ein Knabenpensionat, das von reichen und adeligen Gutsbesitzerssöhnen aus Holstein und Mecklenburg besucht war. Beeinflußt von den feudalen jungen Leuten, die seiner Hut empfohlen waren, pflegte er sein Äußeres in einer Weise, wie sie unter seinen Kollegen gänzlich ungebräuchlich war. Er trug buntseidene Krawatten, ein stutzerhaftes Röckchen, zartfarbene Beinkleider, die mit Strippen unter den Sohlen befestigt waren, und parfümierte Taschentücher mit farbigen Borten. Bescheidener Leute Kind wie er war, stand ihm solcher Prunk eigentlich gar nicht zu Gesicht, und seine großmächtigen Füße zum Beispiel nahmen sich in den spitz zulaufenden Knöpfstiefeln ziemlich lächerlich aus. Unbegreiflicherweise war er eitel auf seine plumpen und roten Hände, die er unaufhörlich aneinanderrieb, ineinanderschlang und liebevoll prüfend betrachtete. Er pflegte seinen Kopf schräg zurückgelehnt zu tragen und mit blinzelnden Augen, gekrauster Nase und halboffenem Munde beständig ein Gesicht zu schneiden, als sei er im Begriffe, zu sagen: »Was ist denn nun schon wieder los?« … Dennoch war er zu vornehm, um nicht alle kleinen Unerlaubtheiten auf distinguierte Art zu übersehen, die sich etwa auf dem Hofe ereigneten. Er übersah, daß dieser oder jener Schüler ein Buch mit sich heruntergebracht hatte, um sich im letzten Augenblick ein wenig zu präparieren, übersah, daß seine Pensionäre Herrn Schlemiel, dem Kustos, Geld einhändigten, um sich Bäckereien holen zu lassen, daß hier eine kleine Kraftprobe zwischen zwei Tertianern in eine Prügelei ausartete, um die sich sofort ein Ring von Sachverständigen bildete, und daß dort hinten jemand, der auf irgendeine Weise eine unkameradschaftliche, feige oder unehrenhafte Gesinnung an den Tag gelegt hatte, von seinen Klassengenossen zwangsweise zur Pumpe befördert wurde, um zu seiner Schande mit Wasser begossen zu werden …
 
Es war ein wackeres und ein bißchen ungehobeltes Geschlecht, die laute Menge, in der Kai und Hanno hin und wider wanderten. Herangewachsen in der Luft eines kriegerisch siegreichen und verjüngten Vaterlandes, huldigte man Sitten von rauher Männlichkeit. Man redete in einem Jargon, der zugleich salopp und schneidig war und von technischen Ausdrücken wimmelte. Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit. Wer mit emporgeklapptem Rockkragen getroffen wurde, durfte der Pumpe gewärtig sein. Wer sich aber gar auf der Straße mit einem Spazierstock hatte sehen lassen, an dem wurde in der Turnhalle auf ebenso schimpfliche wie schmerzhafte Art eine öffentliche Züchtigung vollzogen …
 
Das, was Hanno und Kai miteinander sprachen, ging fremd und sonderbar in dem Stimmengewirr unter, das die kalte und feuchte Luft erfüllte. Diese Freundschaft war seit langem in der ganzen Schule bekannt. Die Lehrer duldeten sie mit Übelwollen, weil sie Unrat und Opposition dahinter vermuteten, und die Kameraden, außerstande, ihr Wesen zu enträtseln, hatten sich gewöhnt, sie mit einem gewissen scheuen Widerwillen gelten zu lassen und diese beiden Genossen als outlaws und fremdartige Sonderlinge zu betrachten, die man sich selbst überlassen mußte … Übrigens genoß Kai Graf Mölln eines gewissen Respekts wegen der Wildheit und zügellosen Unbotmäßigkeit, die man an ihm kannte. Was aber Hanno Buddenbrook betraf, so konnte selbst der große Heinricy, der doch alle Welt prügelte, sich nicht entschließen, wegen Geckenhaftigkeit und Feigheit Hand an ihn zu legen, aus unbestimmter Furcht vor der Weichheit seines Haares, vor der Zartheit seiner Glieder, vor seinem trüben, scheuen und kalten Blick …
 
»Ich habe Angst«, sagte Hanno zu Kai, indem er an der einen Seitenwand des Hofes stehenblieb, sich gegen die Mauer lehnte und mit fröstelndem Gähnen seine Jacke fester zusammenzog … »Ich habe eine unsinnige Angst, Kai, sie tut mir überall weh im Körper. Ist nun Herr Mantelsack der Mann, vor dem man sich derartig fürchten dürfte? Sage selbst! Wenn diese widerliche Ovidstunde erst vorüber wäre! Wenn ich meinen Tadel im Klassenbuch hätte und sitzenbliebe und alles in Ordnung wäre! Ich fürchte mich nicht davor, ich fürchte mich vor dem Eklat, der damit verbunden ist …«
 
Kai verfiel in Gedanken. »Dieser Roderich Usher ist die wundervollste Figur, die je erfunden worden ist!« sagte er schnell und unvermittelt. »Ich habe eben die ganze Stunde gelesen … Wenn ich jemals eine so gute Geschichte schreiben könnte!«
 
Die Sache war die, daß Kai sich mit Schreiben abgab. Dies war es auch, was er heute morgen gemeint hatte, als er sagte, er habe besseres zu tun, als Schularbeiten zu machen, und Hanno hatte ihn wohl verstanden. Aus der Neigung zum Geschichtenerzählen, die er als kleiner Junge an den Tag gelegt hatte, hatten sich schriftstellerische Versuche entwickelt, und kürzlich hatte er eine Dichtung vollendet, ein Märchen, ein rücksichtslos phantastisches Abenteuer, in dem alles in einem dunklen Schein erglühte, das unter metallen und geheimnisvollen Gluten in den tiefsten und heiligsten Werkstätten der Erde und zugleich in denen der menschlichen Seele spielte, und in dem die Urgewalten der Natur und der Seele auf eine sonderbare Art vermischt, gewandt, gewandelt und geläutert wurden, – geschrieben in einer innerlichen, deutsamen, ein wenig überschwenglichen und sehnsüchtigen Sprache von zarter Leidenschaftlichkeit …
 
Hanno kannte diese Geschichte wohl und liebte sie sehr; aber er war jetzt nicht aufgelegt, von Kais Arbeiten oder von Edgar Poe zu sprechen. Er gähnte wieder und seufzte dann, indem er gleichzeitig ein Motiv vor sich hinsang, das er kürzlich am Flügel erfunden hatte. Dies war so seine Gewohnheit. Er pflegte oft zu seufzen, tief aufzuatmen aus dem dringenden Bedürfnis, sein unzulänglich arbeitendes Herz in einen etwas munteren Gang zu bringen, und er hatte sich gewöhnt, das Ausatmen nach einem musikalischen Thema, irgendeinem Stück Melodie eigener oder fremder Erfindung, geschehen zu lassen …
 
»Siehe, da kommt der liebe Gott!« sagte Kai. »Er lustwandelt in seinem Garten.«
 
»Ein netter Garten«, sagte Hanno und geriet ins Lachen. Er lachte nervös und konnte nicht aufhören, hielt sein Taschentuch vor den Mund und blickte darüber hinweg auf den, welchen Kai als den »lieben Gott« bezeichnet hatte.
 
Es war Direktor Doktor Wulicke, der Leiter der Schule, der auf dem Hofe erschienen war: ein außerordentlich langer Mann mit schwarzem Schlapphut, kurzem Vollbart, einem spitzen Bauche, viel zu kurzen Beinkleidern und trichterförmigen Manschetten, die stets sehr unsauber waren. Er ging mit einem Gesicht, das vor Zorn beinahe leidend aussah, schnell über die Steinfliesen, indem er mit ausgestrecktem Arme auf die Pumpe wies … Das Wasser floß! Eine Anzahl Schüler liefen vor ihm her und überstürzten sich, dem Schaden dadurch abzuhelfen, daß sie die Leitung schlossen. Aber auch dann standen sie noch lange und betrachteten mit verstörten Gesichtern abwechselnd die Pumpe und den Direktor, der sich an den mit rotem Antlitz herbeigeeilten Doktor Goldener gewandt hatte und mit tiefer, dumpfer und bewegter Stimme auf ihn einsprach. Seine Rede war mit brummenden und unartikulierten Lippenlauten durchsetzt …
 
Dieser Direktor Wulicke war ein furchtbarer Mann. Er war der Nachfolger des jovialen und menschenfreundlichen alten Herrn, unter dessen Regierung Hannos Vater und onkel studiert hatten, und der bald nach dem Jahre einundsiebzig gestorben war. Damals war Doktor Wulicke, bislang Professor an einem preußischen Gymnasium, berufen worden, und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen. Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der »kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant« war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen … Bald nach dem Einzug des neuen Direktors war auch unter den vortrefflichsten hygienischen und ästhetischen Gesichtspunkten mit dem Umbau und der Neueinrichtung der Anstalt begonnen und alles aufs glücklichste fertiggestellt worden. Allein es blieb die Frage, ob nicht früher, als weniger Komfort der Neuzeit und ein bißchen mehr Gutmütigkeit, Gemüt, Heiterkeit, Wohlwollen und Behagen in diesen Räumen geherrscht hatte, die Schule ein sympathischeres und segenvolleres Institut gewesen war …
 
Was Direktor Wulicke persönlich betraf, so war er von der rätselhaften, zweideutigen, eigensinnigen und eifersüchtigen Schrecklichkeit des alttestamentlichen Gottes. Er war entsetzlich im Lächeln wie im Zorne. Die ungeheure Autorität, die in seinen Händen lag, machte ihn schauerlich launenhaft und unberechenbar. Er war imstande, etwas Scherzhaftes zu sagen und fürchterlich zu werden, wenn man lachte. Keine seiner zitternden Kreaturen wußte Rat, wie man sich ihm gegenüber zu benehmen habe. Es blieb nichts übrig, als ihn im Staub zu verehren und durch eine wahnsinnige Demut vielleicht zu verhüten, daß er einen nicht dahinraffe in seinem Grimm und nicht zermalme in seiner großen Gerechtigkeit …
 
Der Name, den Kai ihm gegeben hatte, wurde nur von ihm selbst und Hanno Buddenbrook gebraucht, und sie hüteten sich, ihn vor den Kameraden laut werden zu lassen, aus Scheu vor dem starren und kalten Blick des Unverständnisses, den sie so wohl kannten … Nein, es gab nicht einen Punkt, in dem diese beiden sich mit ihren Genossen verstanden. Es war ihnen sogar die Art von Opposition und Rache fremd, an der die anderen sich genügen ließen, und sie mißachteten die üblichen Spottnamen, weil ein Humor daraus sprach, der sie nicht berührte und sie nicht einmal zum Lächeln brachte. Es war so billig, so nüchtern und unwitzig, den dünnen Professor Hückopp »die Spinne« und Oberlehrer Ballerstedt »Kakadu« zu nennen, eine so armselige Schadloshaltung für den Zwang des Staatsdienstes! Nein, Kai Graf Mölln war ein wenig bissiger! Für seine und Hannos Person hatte er den Brauch eingeführt, von den Lehrern nur vermittels ihres richtigen bürgerlichen Namens unter Hinzufügung des Wortes »Herr« zu sprechen: »Herr Ballerstedt«, »Herr Mantelsack«, »Herr Hückopp« … Das ergab gleichsam eine ablehnende und ironische Kälte, eine spöttische Distanz und Fremdheit … Sie sprachen von dem »Lehrkörper« und amüsierten sich während ganzer Pausen damit, sich ein wirklich vorhandenes Geschöpf, eine Art Ungeheuer von widerlicher und phantastischer Gestaltung darunter vorzustellen. Und sie sprachen im allgemeinen von der »Anstalt« mit einer Betonung, als handele es sich um eine solche wie die, in der Hannos onkel Christian sich aufhielt …
 
Durch den Anblick des lieben Gottes, der noch eine Weile alles in bleichen Schrecken versetzte, indem er mit fürchterlichem Brummen nach verschiedenen Richtungen auf das Butterbrotpapier zeigte, das hie und da auf den Fliesen lag, war Kai in vorzügliche Laune geraten. Er zog Hanno mit sich fort, zu einem der Tore, durch das die Lehrer, die zur zweiten Stunde eintrafen, den Hof beschritten, und fing an, sich ungeheuer tief vor den rotäugigen, blassen und dürftigen Seminaristen zu verbeugen, die vorübergingen, um sich zu ihren Sextanern und Septimanern auf die hinteren Höfe zu begeben. Er bückte sich übermäßig, ließ die Arme hängen und blickte von unten herauf hingebungsvoll zu den armen Gesellen empor. Als jedoch der greise Rechenlehrer, Herr Tietge, erschien, einige Bücher mit zitternder Hand auf dem Rücken haltend, auf unmögliche Art in sich hineinschielend, krumm, gelb und speiend, da sagte er mit klangvoller Stimme: »Guten Tag, du Leiche.« Worauf er klaren und scharfen Blickes irgendwo hin in die Luft sah .....
 
Es schellte gellend in diesem Augenblick, und sofort begannen die Schüler von allen Seiten zu den Eingängen zusammenzuströmen. Aber Hanno hörte nicht auf zu lachen; er lachte noch auf der Treppe so sehr, daß seine Klassengenossen, die ihn und Kai umgaben, ihm kalt, befremdet und sogar ein wenig angewidert von soviel Albernheit ins Gesicht blickten …
 
Es ward still in der Klasse, und alles stand einmütig auf, als Oberlehrer Doktor Mantelsack eintrat. Er war der Ordinarius, und es war Sitte, vor dem Ordinarius Respekt zu haben. Er zog die Tür hinter sich zu, indem er sich bückte, reckte den Hals, um zu sehen, ob alle standen, hing seinen Hut an den Nagel und ging dann rasch zum Katheder, wobei er seinen Kopf in schnellem Wechsel hob und senkte. Hier nahm er Aufstellung und sah ein wenig zum Fenster hinaus, indem er seinen ausgestreckten Zeigefinger, an dem ein großer Siegelring saß, zwischen Kragen und Hals hin und her bewegte. Er war ein mittelgroßer Mann mit dünnem, ergrautem Haar, einem krausen Jupiterbart und kurzsichtig hervortretenden saphirblauen Augen, die hinter den scharfen Brillengläsern glänzten. Er war gekleidet in einen offenen Gehrock aus grauem, weichem Stoff, den er in der Taillengegend mit seiner kurzfingerigen und runzeligen Hand sanft zu betasten liebte. Seine Beinkleider waren, wie bei allen Lehrern, bis auf den feinen Doktor Goldener, zu kurz und ließen die Schäfte von einem Paar außerordentlich breiter und marmorblank gewichster Stiefel sehen.
 
Plötzlich wandte er den Kopf vom Fenster weg, stieß einen kleinen freundlichen Seufzer aus, indem er in die lautlose Klasse hineinblickte, sagte »Ja, ja!« und lächelte mehrere Schüler zutraulich an. Er war guter Laune, es war offenbar. Eine Bewegung der Erleichterung ging durch den Raum. Es kam so viel, es kam alles darauf an, ob Doktor Mantelsack guter Laune war oder nicht, denn man wußte, daß er sich seinen Stimmungen unbewußt und ohne die geringste Selbstkritik überließ. Er war von einer ganz ausnehmenden, grenzenlos naiven Ungerechtigkeit, und seine Gunst war hold und flatterhaft wie das Glück. Stets hatte er ein paar Lieblinge, zwei oder drei, die er »Du« und mit Vornamen nannte, und die es gut hatten wie im Paradiese. Sie konnten beinahe sagen, was sie wollten, und es war dennoch richtig; und nach der Stunde plauderte Doktor Mantelsack aufs menschlichste mit ihnen. Eines Tages jedoch, vielleicht nach den Ferien, Gott allein wußte, warum, war man gestürzt, vernichtet, abgeschafft, verworfen, und ein anderer wurde mit Vornamen genannt … Diesen Glückseligen pflegte er die Fehler in den Extemporalien ganz leicht und zierlich anzustreichen, so daß ihre Arbeiten auch bei großer Mangelhaftigkeit einen reinlichen Aspekt behielten. In anderen Heften aber fuhr er mit breiter und zorniger Feder umher und überschwemmte sie mit Rot, so daß sie einen abschreckenden und verwahrlosten Eindruck machten. Und da er die Fehler nicht zählte, sondern die Zensuren je nach der Menge von roter Tinte erteilte, so gingen seine Günstlinge mit großem Vorteil aus der Sache hervor. Bei diesem Verfahren dachte er sich nicht das geringste, sondern fand es vollständig in der Ordnung und ahnte nichts von Parteilichkeit. Hätte jemand den traurigen Mut besessen, dagegen zu protestieren, so wäre er der Aussicht verlustig gegangen, jemals geduzt und mit Vornamen genannt zu werden. Und diese Hoffnung ließ niemand fahren …
 
Nun kreuzte Doktor Mantelsack im Stehen die Beine und blätterte in seinem Notizbuch. Hanno Buddenbrook saß vornüber gebeugt und rang unter dem Tische die Hände. Das B, der Buchstabe B war an der Reihe! Gleich würde sein Name ertönen, und er würde aufstehen und nicht eine Zeile wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute, schreckliche Katastrophe, so guter Laune der Ordinarius auch sein mochte … Die Sekunden dehnten sich martervoll. »Buddenbrook« … jetzt sagte er »Buddenbrook« …
 
»Edgar!« sagte Doktor Mantelsack, schloß sein Notizbuch, indem er seinen Zeigefinger darin stecken ließ, und setzte sich aufs Katheder, als ob nun alles in bester Ordnung sei.
 
Was? Wie war das? Edgar … Das war Lüders, der dicke Lüders dort, am Fenster, der Buchstabe L, der nicht im entferntesten an der Reihe war! Nein, war es möglich? Doktor Mantelsack war so guter Laune, daß er einfach einen Liebling herausgriff und sich gar nicht darum kümmerte, wer heute ordnungsmäßig vorgenommen werden mußte …
 
Der dicke Lüders stand auf. Er hatte ein Mopsgesicht und braune apathische Augen. Obgleich er einen vorzüglichen Platz innehatte und mit Bequemlichkeit hätte ablesen können, war er auch hierzu zu träge. Er fühlte sich zu sicher im Paradiese und antwortete einfach: »Ich habe gestern wegen Kopfschmerzen nicht lernen können.«
 
»Oh, du lässest mich im Stich, Edgar?« sagte Doktor Mantelsack betrübt … »Du willst mir die Verse vom goldenen Zeitalter nicht sprechen? Wie jammerschade, mein Freund! Hattest du Kopfschmerzen? Aber mich dünkt, du hättest mir das zu Beginn der Stunde sagen sollen, bevor ich dich aufrief … Hattest du nicht schon neulich Kopfschmerzen gehabt? Du solltest etwas dagegen tun, Edgar, denn sonst ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß du Rückschritte machst … Timm, wollen Sie ihn vertreten.«
 
Lüders setzte sich. In diesem Augenblick war er allgemein verhaßt. Man sah deutlich, daß des Ordinarius Laune beträchtlich gesunken war, und daß Lüders vielleicht schon in der nächsten Stunde würde mit Nachnamen genannt werden … Timm stand auf, in einer der hintersten Bänke. Es war ein blonder Junge von ländlichem Äußeren, mit einer hellbraunen Jacke und kurzen, breiten Fingern. Er hielt seinen Mund mit eifrigem und törichtem Ausdruck trichterförmig geöffnet und rückte hastig sein offenes Buch zurecht, indem er angestrengt geradeaus blickte. Dann senkte er den Kopf und begann vorzulesen, langgezogen, stockend und monoton, wie ein Kind aus der Fibel: »Aurea prima sata est aetas …«
 
Es war klar, daß Doktor Mantelsack heute außerhalb jeder Ordnung fragte und sich gar nicht darum kümmerte, wer am längsten nicht examiniert worden war. Es war jetzt nicht mehr so drohend wahrscheinlich, daß Hanno aufgerufen wurde, es konnte nur noch durch einen unseligen Zufall geschehen. Er wechselte einen glücklichen Blick mit Kai und fing an, seine Glieder ein wenig abzuspannen und auszuruhen …
 
Plötzlich ward Timm in seiner Lektüre unterbrochen. Sei es nun, daß Doktor Mantelsack den Rezitierenden nicht recht verstand, oder daß er sich Bewegung zu machen wünschte: er verließ das Katheder, lustwandelte gemächlich durch die Klasse und stellte sich, seinen Ovid in der Hand, dicht neben Timm, der mit kurzen unsichtbaren Bewegungen sein Buch beiseitegeräumt hatte und nun vollkommen hilflos war. Er schnappte mit seinem trichterförmigen Munde, blickte den Ordinarius mit blauen, ehrlichen, verstörten Augen an und brachte nicht eine Silbe mehr zustande.
 
»Nun, Timm«, sagte Doktor Mantelsack … »Jetzt geht es auf einmal nicht mehr?«
 
Und Timm griff sich nach dem Kopf, rollte die Augen, atmete heftig und sagte schließlich mit einem irren Lächeln: »Ich bin so verwirrt, wenn Sie bei mir stehen, Herr Doktor.«
 
Auch Doktor Mantelsack lächelte; er lächelte geschmeichelt und sagte: »Nun, sammeln Sie sich und fahren Sie fort.« Damit wandelte er zum Katheder zurück.
 
Und Timm sammelte sich. Er zog sein Buch wieder vor sich hin, öffnete es, indem er, sichtlich nach Fassung ringend, im Zimmer umherblickte, senkte dann den Kopf und hatte sich wiedergefunden.
 
»Ich bin befriedigt«, sagte der Ordinarius, als Timm geendet hatte. »Sie haben gut gelernt, das steht außer Zweifel. Nur entbehren Sie zu sehr des rhythmischen Gefühles, Timm. Über die Bindungen sind Sie sich klar, und dennoch haben Sie nicht eigentlich Hexameter gesprochen. Ich habe den Eindruck, als ob Sie das Ganze wie Prosa auswendig gelernt hätten … Aber wie gesagt, Sie sind fleißig gewesen, Sie haben Ihr Bestes getan, und wer immer strebend sich bemüht … Sie können sich setzen.«
 
Timm setzte sich stolz und strahlend, und Doktor Mantelsack schrieb eine wohl befriedigende Note hinter seinen Namen. Das Merkwürdige aber war, daß in diesem Augenblick nicht allein der Lehrer, sondern auch Timm selbst und seine sämtlichen Kameraden der aufrichtigen Ansicht waren, daß Timm wirklich und wahrhaftig ein guter und fleißiger Schüler sei, der seine gute Note vollauf verdient hatte. Auch Hanno Buddenbrook war außerstande, sich diesem Eindruck zu entziehen, obgleich er fühlte, wie etwas in ihm sich mit Widerwillen dagegen wehrte … Wieder horchte er angespannt auf den Namen, der nun ertönen würde …
 
»Mumme!« sagte Doktor Mantelsack. »Noch einmal! Aurea prima …?«
 
Also Mumme! Gott sei gelobt, nun war Hanno wohl in Sicherheit! Zum drittenmal würden die Verse kaum rezitiert werden müssen, und bei der Neupräparation war der Buchstabe B erst kürzlich an der Reihe gewesen …
 
Mumme erhob sich. Er war ein langer, bleicher Mensch mit zitternden Händen und außerordentlich großen, runden Brillengläsern. Er war augenleidend und so kurzsichtig, daß es ihm unmöglich war, im Stehen aus einem vor ihm liegenden Buche zu lesen. Er mußte lernen, und er hatte gelernt. Da er aber herzlich unbegabt war und außerdem nicht geglaubt hatte, heute aufgerufen zu werden, so wußte er dennoch nur wenig und verstummte schon nach den ersten Worten. Doktor Mantelsack half ihm ein, er half ihm zum zweiten Male mit schärferer Stimme und zum dritten Male mit äußerst gereiztem Tone ein; als aber Mumme dann ganz und gar festsaß, wurde der Ordinarius von heftigem Zorne ergriffen.
 
»Das ist vollständig ungenügend, Mumme! Setzen Sie sich hin! Sie sind eine traurige Figur, dessen können Sie versichert sein, Sie Kretin! Dumm und faul ist zuviel des Guten …«
 
Mumme versank. Er sah aus wie das Unglück, und es gab in diesem Augenblicke niemanden im Zimmer, der ihn nicht verachtet hätte. Abermals stieg ein Widerwille, eine Art von Brechreiz in Hanno Buddenbrook auf und schnürte ihm die Kehle zusammen. Gleichzeitig aber beobachtete er mit entsetzlicher Klarheit, was vor sich ging. Doktor Mantelsack malte heftig ein Zeichen von böser Bedeutung hinter Mummes Namen und sah sich dann mit finsteren Brauen in seinem Notizbuch um. Aus Zorn ging er zur Tagesordnung über, sah nach, wer eigentlich an der Reihe war, es war klar! Und als Hanno von dieser Erkenntnis gerade gänzlich überwältigt war, hörte er auch schon seinen Namen, hörte ihn wie in einem bösen Traum.
 
»Buddenbrook!« – Doktor Mantelsack hatte »Buddenbrook« gesagt, der Schall war noch in der Luft, und dennoch glaubte Hanno nicht daran. Ein Sausen war in seinen Ohren entstanden. Er blieb sitzen.
 
»Herr Buddenbrook!« sagte Doktor Mantelsack und starrte ihn mit seinen saphirblauen, hervorquellenden Augen an, die hinter den scharfen Brillengläsern glänzten .... »Wollen Sie die Güte haben?«
 
Gut, also es sollte so sein. So hatte es kommen müssen. Ganz anders, als er es sich gedacht hatte, aber nun war dennoch alles verloren. Er war nun gefaßt. Ob es wohl ein sehr großes Gebrüll geben würde? Er stand auf und war im Begriffe, eine unsinnige und lächerliche Entschuldigung vorzubringen, zu sagen, daß er »vergessen« habe, die Verse zu lernen, als er plötzlich gewahrte, daß sein Vordermann ihm das offene Buch hinhielt.
 
Sein Vordermann, Hans Hermann Kilian, war ein Kleiner, Brauner, mit fettem Haar und breiten Schultern. Er wollte Offizier werden und war so beseelt von Kameradschaftlichkeit, daß er selbst Johann Buddenbrook, den er doch nicht leiden mochte, nicht im Stiche ließ. Er wies sogar mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo anzufangen war …
 
Und Hanno starrte dorthin und fing an zu lesen. Mit wankender Stimme und verzogenen Brauen und Lippen las er von dem goldenen Zeitalter, das zuerst entsprossen war und ohne Rächer, aus freiem Willen, ohne Gesetzesvorschrift, Treue und Recht gepflegt hatte. »Strafe und Furcht waren nicht vorhanden«, sagte er auf Lateinisch. »Es wurden weder drohende Worte auf angehefteter eherner Tafel gelesen, noch scheute die bittende Schar das Antlitz ihres Richters …« Er las mit gequältem und angeekeltem Gesichtsausdruck, las mit Willen schlecht und unzusammenhängend, vernachlässigte absichtlich einzelne Bindungen, die in Kilians Buch mit Bleistift angegeben waren, sprach fehlerhafte Verse, stockte und arbeitete sich scheinbar nur mühsam vorwärts, immer gewärtig, daß der Ordinarius alles entdecken und sich auf ihn stürzen werde … Der diebische Genuß, das offene Buch vor sich zu sehen, verursachte ein Prickeln in seiner Haut; aber er war voll Widerwillen und betrog mit Absicht so schlecht wie möglich, nur um den Betrug dadurch weniger gemein zu machen. Dann schwieg er, und es entstand eine Stille, in der er nicht aufzublicken wagte. Diese Stille war entsetzlich; er war überzeugt, daß Doktor Mantelsack alles gesehen habe, und seine Lippen waren ganz weiß. Schließlich aber seufzte der Ordinarius und sagte:
 
»O Buddenbrook, si tacuisses! Sie entschuldigen wohl ausnahmsweise das klassische Du!… Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie haben die Schönheit in den Staub gezogen, Sie haben sich benommen wie ein Vandale, wie ein Barbar, Sie sind ein amusisches Geschöpf, Buddenbrook, man sieht es Ihnen an der Nase an! Wenn ich mich frage, ob Sie die ganze Zeit gehustet oder erhabene Verse gesprochen haben, so neige ich mehr der ersteren Ansicht zu. Timm hat wenig rhythmisches Gefühl entwickelt, aber gegen Sie ist er ein Genie, ein Rhapsode … Setzen Sie sich, Unseliger. Sie haben gelernt, gewiß, Sie haben gelernt. Ich kann Ihnen kein schlechtes Zeugnis geben. Sie haben sich wohl nach Kräften bemüht … Hören Sie, erzählt man sich nicht, daß Sie musikalisch sind, daß Sie Klavier spielen? Wie ist das möglich?… Nun, es ist gut, setzen Sie sich, Sie mögen fleißig gewesen sein, es ist gut.«
 
Er schrieb eine befriedigende Note in sein Taschenbuch, und Hanno Buddenbrook setzte sich. Wie es vorhin bei dem Rhapsoden Timm gewesen war, so war es auch jetzt. Er konnte nicht umhin, sich durch das Lob, das in Doktor Mantelsacks Worten enthalten gewesen war, aufrichtig getroffen zu fühlen. Er war in diesem Augenblick ernstlich der Meinung, daß er ein etwas unbegabter, aber fleißiger Schüler sei, der verhältnismäßig mit Ehren aus der Sache hervorgegangen war, und er empfand deutlich, daß seine sämtlichen Klassengenossen, Hans Hermann Kilian nicht ausgeschlossen, ebenderselben Anschauung huldigten. Wieder regte sich etwas wie Übelkeit in ihm; aber er war zu ermattet, um über die Vorgänge nachzudenken. Bleich und zitternd schloß er die Augen und versank in Lethargie …
 
Doktor Mantelsack aber setzte den Unterricht fort. Er ging zu den Versen über, die für heute neu zu präparieren waren, und rief Petersen auf. Petersen erhob sich, frisch, munter und zuversichtlich, in tapferer Attitüde, streitbar und bereit, den Strauß zu wagen. Und dennoch war ihm heute der Untergang bestimmt! Ja, die Stunde sollte nicht vorübergehen, ohne daß eine Katastrophe eintrat, weit schrecklicher als diejenige mit dem armen, kurzsichtigen Mumme …
 
Petersen übersetzte, indem er dann und wann einen Blick auf die andere Seite seines Buches warf, dorthin, wo er eigentlich gar nichts zu suchen hatte. Er trieb dies mit Geschick. Er tat, als störe ihn dort etwas, fuhr mit der Hand darüber hin und blies darauf, als gelte es, ein Staubfäserchen oder dergleichen zu entfernen, das ihn inkommodierte. Und doch erfolgte nun das Entsetzliche.
 
Doktor Mantelsack nämlich vollführte plötzlich eine heftige Bewegung, die Petersen mit einer ebensolchen Bewegung beantwortete. Und in demselben Augenblick verließ der Ordinarius das Katheder, er stürzte sich förmlich kopfüber hinab und ging mit langen, unaufhaltsamen Schritten auf Petersen zu.
 
»Sie haben einen Schlüssel im Buche, eine Übersetzung«, sagte er, als er bei ihm stand.
 
»Einen Schlüssel … ich … nein …«, stammelte Petersen. Es war ein hübscher Junge, mit einem blonden Haarwulst über der Stirn und außerordentlich schönen blauen Augen, die jetzt angstvoll flackerten.
 
»Sie haben keinen Schlüssel im Buche?«
 
»Nein … Herr Oberlehrer … Herr Doktor … Einen Schlüssel?… Ich habe wahrhaftig keinen Schlüssel … Sie befinden sich im Irrtum … Sie haben mich in einem falschen Verdacht …« Petersen redete, wie man eigentlich nicht zu reden pflegte. Die Angst bewirkte, daß er ordentlich gewählt sprach, in der Absicht, dadurch den Ordinarius zu erschüttern. »Ich betrüge nicht«, sagte er aus übergroßer Not. »Ich bin immer ehrlich gewesen … mein Lebtag!«
 
Aber Doktor Mantelsack war seiner traurigen Sache allzu sicher.
 
»Geben Sie mir Ihr Buch«, sagte er kalt.
 
Petersen klammerte sich an sein Buch, er hob es beschwörend mit beiden Händen empor und fuhr fort, mit halb gelähmter Zunge zu deklamieren: »Glauben Sie mir doch … Herr Oberlehrer … Herr Doktor … Es ist nichts im Buche … Ich habe keinen Schlüssel .... Ich habe nicht betrogen … Ich bin immer ehrlich gewesen …«
 
»Geben Sie mir das Buch«, wiederholte der Ordinarius und stampfte mit dem Fuße.
 
Da erschlaffte Petersen, und sein Gesicht wurde ganz grau.
 
»Gut«, sagte er und lieferte das Buch aus, »hier ist es. Ja, es ist ein Schlüssel darin! Sehen Sie selbst, da steckt er!… Aber ich habe ihn nicht gebraucht!« schrie er plötzlich in die Luft hinein.
 
Allein Doktor Mantelsack überhörte diese unsinnige Lüge, die der Verzweiflung entsprang. Er zog den »Schlüssel« hervor, betrachtete ihn mit einem Gesicht, als hätte er stinkenden Unrat in der Hand, schob ihn in die Tasche und warf den Ovid verächtlich auf Petersens Platz zurück. »Das Klassenbuch«, sagte er dumpf.
 
Adolf Todtenhaupt brachte dienstbeflissen das Klassenbuch herbei, und Petersen erhielt einen Tadel wegen versuchten Betruges, was ihn auf lange Zeit hinaus vernichtete und die Unmöglichkeit seiner Versetzung zu Ostern besiegelte. »Sie sind der Schandfleck der Klasse«, sagte Doktor Mantelsack noch und kehrte dann zum Katheder zurück.
 
Petersen setzte sich und war gerichtet. Man sah deutlich, wie sein Nebenmann ein Stück von ihm wegrückte. Alle betrachteten ihn mit einem Gemisch von Ekel, Mitleid und Grauen. Er war gestürzt, einsam und vollkommen verlassen, darum, daß er ertappt worden war. Es gab nur eine Meinung über Petersen, und das war die, daß er wirklich »der Schandfleck der Klasse« sei. Man anerkannte und akzeptierte seinen Fall ebenso widerstandslos, wie man Timms und Buddenbrooks Erfolge und das Unglück des armen Mumme anerkannt und akzeptiert hatte … Und er selbst tat desgleichen.
 
Wer unter diesen fünfundzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener Konstitution, stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm in diesem Augenblicke die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich nicht durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich und in der Ordnung sei. Aber es gab auch Augen, die sich in finsterer Nachdenklichkeit auf einen Punkt richteten … Der kleine Johann starrte auf Hans Hermann Kilians breiten Rücken, und seine goldbraunen, bläulich umschatteten Augen waren ganz voll von Abscheu, Widerstand und Furcht … Doktor Mantelsack aber fuhr fort zu unterrichten. Er rief einen anderen Schüler auf, irgendeinen, Adolf Todtenhaupt, weil er für heute ganz und gar die Lust verloren hatte, die Zweifelhaften zu prüfen. Und dann kam noch einer daran, der mäßig vorbereitet war und nicht einmal wußte, was »patula Jovis arbore, glandes« hieß, weshalb Buddenbrook es sagen mußte … Er sagte es leise und ohne aufzublicken, weil Doktor Mantelsack ihn fragte, und erhielt ein Kopfnicken dafür.
 
Und als es mit den Produktionen der Schüler zu Ende war, hatte die Stunde auch jedes Interesse verloren. Doktor Mantelsack ließ einen Hochbegabten auf eigene Faust weiter übersetzen und hörte ebensowenig zu wie die anderen vierundzwanzig, die anfingen, sich für die nächste Stunde zu präparieren. Dies war nun gleichgültig. Man konnte niemandem ein Zeugnis dafür geben, noch überhaupt den dienstlichen Eifer darnach beurteilen … Auch war die Stunde nun gleich zu Ende. Sie war zu Ende; es schellte. So hatte es kommen sollen für Hanno. Sogar ein Kopfnicken hatte er bekommen.
 
»Nun«, sagte Kai, als sie inmitten der Kameraden über die gotischen Korridore ins Chemiezimmer gingen … »Was sagst du jetzt, Hanno! Wenn sie die Stirn des Cäsar werden sehen … Du hast ein unerhörtes Glück gehabt!«
 
»Mir ist übel, Kai«, sagte der kleine Johann. »Ich will es gar nicht, das Glück, es macht mir übel …«
 
Und Kai wußte, daß er in Hannos Lage genau so empfunden haben würde.
 
Das Chemiezimmer war ein Gewölbe mit amphitheatralisch aufsteigenden Bänken, einem langen Experimentiertisch und zwei Glasschränken voller Phiolen. Die Luft war in der Klasse zuletzt wieder sehr heiß und schlecht gewesen, aber hier war sie gesättigt mit Schwefelwasserstoff, mit dem soeben experimentiert worden war, und stank über alle Maßen. Kai riß das Fenster auf, stahl dann Adolf Todtenhaupts Reinschriftheft und begann in großer Eile das Pensum abzuschreiben, das heute vorzuweisen war. Hanno und mehrere andere Schüler taten dasselbe. Das nahm die ganze Pause in Anspruch, bis es schellte und Doktor Marotzke erschien.
 
Dies war der tiefe Oberlehrer, wie Kai und Hanno ihn nannten. Es war ein mittelgroßer, brünetter Mann, mit außerordentlich gelbem Teint, zwei Wulsten an der Stirn, einem harten und schmierigen Bart und ebensolchem Haupthaar. Er sah beständig übernächtig und ungewaschen aus, was aber wohl auf Täuschung beruhte. Er unterrichtete in den Naturwissenschaften, aber sein Hauptgebiet war die Mathematik, und er galt für einen bedeutenden Denker in diesem Fache. Er liebte es, von den philosophischen Stellen der Bibel zu sprechen, und zuweilen, in guter und träumerischer Stimmung, ließ er sich vor Sekundanern und Primanern herab, seltsame Auslegungen geheimnisvoller Schriftstellen zu liefern … Außerdem aber war er Reserveoffizier, und zwar mit Begeisterung. Als Beamter, der zugleich Militär war, stand er bei Direktor Wulicke aufs beste angeschrieben. Er hielt von allen Lehrern am meisten auf Disziplin, musterte die Front der strammstehenden Schüler mit kritischem Blick und verlangte kurze und scharfe Antworten. Diese Mischung von Mystizismus und Schneidigkeit war ein wenig abstoßend …
 
Die Reinschriften wurden vorgezeigt, und Doktor Marotzke ging umher und tippte auf jedes Heft mit dem Finger, wobei gewisse Schüler, die nichts geschrieben hatten, ihm ganz andere Bücher oder alte Arbeiten vorlegten, ohne daß er dies bemerkte.
 
Dann begann er den Unterricht; und wie soeben gelegentlich des Ovid, so hatten die fünfundzwanzig jungen Leute sich jetzt mit Rücksicht auf Bor, Chlor oder Strontium über ihren Diensteifer auszuweisen. Hans Hermann Kilian ward belobigt, weil er wußte, daß BaSO4 oder Schwerspat das gebräuchlichste Fälschungsmittel sei. Überhaupt war er der Beste, darum, weil er Offizier werden wollte. Hanno und Kai wußten gar nichts, und in Doktor Marotzkes Notizbuch erging es ihnen übel.
 
Und als es mit dem Prüfen, Verhören und Zeugnisgeben zu Ende war, war auch das Interesse an der Chemiestunde allerseits so gut wie erschöpft. Doktor Marotzke fing an, ein paar Experimente zu machen, ein wenig zu knallen und farbige Dämpfe zu entwickeln, aber das war gleichsam nur, um den Rest der Stunde auszufüllen. Schließlich diktierte er das Pensum, das fürs nächste Mal zu lernen war. Dann klingelte es, und auch die dritte Stunde war vorüber.
 
Alle waren vergnügt, bis auf Petersen, den es heute getroffen hatte, denn jetzt kam eine lustige Stunde, vor der sich keine Seele zu fürchten brauchte und die nichts als Unfug und Amüsement versprach. Es war das Englische bei dem Kandidaten Modersohn, einem jungen Philologen, der seit ein paar Wochen probeweise in der Anstalt wirkte oder, wie Kai Graf Mölln es ausdrückte, ein Gastspiel auf Engagement absolvierte. Aber er hatte wenig Aussicht, engagiert zu werden; es ging allzu fröhlich in seinen Stunden zu …
 
Einige blieben im Chemiesaale, und andere gingen ins Klassenzimmer hinauf; aber auf dem Hofe brauchte jetzt niemand zu frieren, denn droben auf dem Korridor hatte schon während der Pause Herr Modersohn die Aufsicht, und der wagte keinen hinunterzuschicken. Auch galt es, Vorbereitungen zu seinem Empfange zu treffen …
 
Es wurde nicht einmal ein wenig stiller in der Klasse, als es zur vierten Stunde schellte. Alles schwatzte und lachte, voll Freude auf den Tanz, der nun bevorstand. Graf Mölln, den Kopf in beide Hände gestützt, fuhr fort, sich mit Roderich Usher zu beschäftigen, und Hanno saß still und sah dem Spektakel zu. Einige ahmten Tierstimmen nach. Ein Hahnenschrei zerriß die Luft, und dort hinten saß Wasservogel und grunzte genau wie ein Schwein, ohne daß man sehen konnte, daß diese Laute aus seinem Innern kamen. An der Wandtafel prangte eine große Kreidezeichnung, eine schielende Fratze, die der Rhapsode Timm vollbracht hatte. Und als dann Herr Modersohn eintrat, konnte er trotz der heftigsten Anstrengungen die Tür nicht hinter sich schließen, weil ein dicker Tannenzapfen in der Spalte stak, der erst von Adolf Todtenhaupt entfernt werden mußte …
 
Der Kandidat Modersohn war ein kleiner, unansehnlicher Mann, der beim Gehen eine Schulter schräg voranschob, mit einem säuerlich verzogenen Gesicht und sehr dünnem schwarzen Bart. Er war in furchtbarer Verlegenheit. Immer zwinkerte er mit seinen blanken Augen, zog den Atem ein und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Aber er fand nicht die Worte, die nötig waren. Nach drei Schritten, die er von der Tür aus zurückgelegt, trat er auf eine Knallerbse, eine Knallerbse von seltener Qualität, die einen Lärm verursachte, als habe er auf Dynamit getreten. Er fuhr heftig zusammen, lächelte dann in seiner Not, tat, als sei nichts geschehen und stellte sich vor die mittlere Bankreihe, indem er sich nach seiner Gewohnheit, schief gebückt, mit einer Handfläche auf die vorderste Pultplatte stützte. Aber man kannte diese seine Lieblingsstellung, und darum hatte man diese Stelle des Tisches mit Tinte beschmiert, so daß Herr Modersohn sich nun seine ganze kleine, ungeschickte Hand besudelte. Er tat, als bemerke er es nicht, legte die nasse und geschwärzte Hand auf den Rücken, blinzelte und sagte mit weicher und schwacher Stimme: »Die Ordnung in der Klasse läßt zu wünschen übrig.«
 
Hanno Buddenbrook liebte ihn in diesem Augenblick und blickte unbeweglich in sein hilflos verzogenes Gesicht. Aber Wasservogels Grunzen ward immer lauter und natürlicher, und plötzlich prasselten eine Menge Erbsen gegen die Fensterscheibe, prallten ab und fielen rasselnd ins Zimmer zurück.
 
»Es hagelt«, sagte jemand laut und deutlich; und Herr Modersohn schien dies zu glauben, denn er zog sich ohne weiteres aufs Katheder zurück und verlangte nach dem Klassenbuche. Dies tat er nicht, um jemanden einzuschreiben; sondern, obgleich er bereits fünf oder sechs Unterrichtsstunden in dieser Klasse erteilt hatte, kannte er doch die Schüler bis auf einige wenige noch nicht und war genötigt, die Namen aufs Geratewohl aus dem schriftlichen Verzeichnis abzulesen.
 
»Feddermann«, sagte er, »wollen Sie, bitte, das Gedicht aufsagen.«
 
»Fehlt!« schrie eine Menge verschiedenartiger Stimmen. Und dabei saß Feddermann groß und breit an seinem Platze und schnellte mit unglaublicher Geschicklichkeit Erbsen durch die ganze Stube.
 
Herr Modersohn blinzelte und buchstabierte sich einen neuen Namen zusammen.
 
»Wasservogel«, sagte er.
 
»Verstorben!« rief Petersen, der vom Galgenhumor ergriffen worden war. Und unter Füßescharren, Gegrunz, Gekräh und Hohngelächter wiederholten alle, daß Wasservogel tot sei.
 
Herr Modersohn blinzelte abermals, er blickte um sich, verzog säuerlich den Mund und sah dann wieder ins Klassenbuch, indem er mit seiner kleinen, ungeschickten Hand auf den Namen zeigte, den er nun aufrufen wollte.
 
»Perlemann«, sagte er ohne viel Zuversicht.
 
»Leider dem Wahnsinn verfallen«, sprach Kai Graf Mölln klar und fest; und unter wachsendem Hallo wurde auch dies bestätigt.
 
Da stand Herr Modersohn auf und rief in den Lärm hinein: »Buddenbrook, Sie werden mir eine Strafarbeit anfertigen. Wiederholt sich Ihr Lachen, so werde ich Sie tadeln müssen.«
 
Dann setzte er sich wieder. – In der Tat, Buddenbrook hatte gelacht, er war über Kais Witz in ein leises und heftiges Lachen geraten, dem er nicht Einhalt gebieten konnte. Er fand ihn gut, und besonders das »Leider« erschütterte ihn mit Komik. Als aber Herr Modersohn ihn anherrschte, wurde er ruhig und blickte still und finster auf den Kandidaten. Er sah in diesem Augenblick alles an ihm, jedes jämmerliche Härchen seines Bartes, der überall die Haut durchscheinen ließ, und seine braunen, blanken, hoffnungslosen Augen; sah, daß er gleichsam zwei Paar Manschetten an seinen kleinen, ungeschickten Händen trug, weil seine Hemdärmel an den Gelenken ebenso lang und breit waren, wie die eigentlichen Manschetten, sah seine ganze armselige und verzweifelte Gestalt. Er sah auch in sein Inneres hinein. Hanno Buddenbrook war beinahe der einzige, den Herr Modersohn schon mit Namen kannte, und das benutzte er dazu, ihn beständig zur Ordnung zu rufen, ihm Strafarbeiten zu diktieren und ihn zu tyrannisieren. Er kannte den Schüler Buddenbrook nur deshalb, weil er sich durch stilles Verhalten von den anderen unterschieden hatte, und diese Sanftmut nützte er dazu aus, ihn unaufhörlich die Autorität fühlen zu lassen, die er den Lauten und Frechen gegenüber nicht geltend zu machen wagte. Selbst das Mitleid wird einem auf Erden durch die Gemeinheit unmöglich gemacht, dachte Hanno. Ich nehme nicht daran teil, Sie zu quälen und auszubeuten, Kandidat Modersohn, weil ich das brutal, häßlich und gewöhnlich finde, und wie antworten Sie mir? Aber so ist es, so ist es, so wird es immer und überall sich verhalten, dachte er, und Furcht und Übelkeit stiegen wieder in ihm auf. Und daß ich Sie obendrein so widerlich deutlich durchschauen muß!…
 
Endlich fand sich einer, der weder tot noch wahnsinnig war und es übernehmen wollte, die englischen Verse aufzusagen. Es handelte sich um ein Gedicht, das »The monkey« hieß, ein kindisches Machwerk, das man diesen jungen Leuten, die sich großenteils aufs Meer, ins Geschäft, ins ernsthafte Lebensgetriebe sehnten, zugemutet hatte, auswendig zu lernen.
 
»Monkey, little merry fellow,
Thou art nature's punchinello …«
Es gab eine Menge Strophen, und der Schüler Kaßbaum las sie aus seinem Buche vor. Herrn Modersohn gegenüber brauchte man sich nicht den geringsten Zwang anzutun. Und der Lärm war immer noch ärger geworden. Alle Füße waren in Bewegung und scharrten den staubigen Boden. Der Hahn krähte, das Schwein grunzte, die Erbsen flogen. Die Zügellosigkeit berauschte die fünfundzwanzig. Die ungeordneten Instinkte ihrer sechzehn, siebzehn Jahre wurden wach. Blätter mit den obszönsten Bleistiftzeichnungen wurden emporgehoben, umhergeschickt und gierig belacht …
 
Auf einmal verstummte alles. Der Rezitierende unterbrach sich. Herr Modersohn selbst richtete sich auf und lauschte. Etwas Liebliches geschah. Feine und glockenreine Klänge drangen aus dem Hintergrunde des Zimmers und flossen süß, sinnig und zärtlich in die plötzliche Stille. Es war eine Spieluhr, die jemand mitgebracht hatte, und die »Du, du liegst mir am Herzen« spielte, mitten in der englischen Stunde. Genau aber in dem Augenblick, da die zierliche Melodie verklang, vollzog sich etwas Fürchterliches … es brach über alle Anwesenden herein, grausam, unerwartet, übergewaltig und lähmend.
 
Ohne daß nämlich geklopft worden wäre, öffnete sich mit einem Ruck die Tür sperrangelweit, etwas Langes und Ungeheures kam herein, stieß einen brummenden Lippenlaut aus und stand mit einem einzigen Seitenschritt mitten vor den Bänken … Es war der liebe Gott.
 
Herr Modersohn war aschfahl geworden und zerrte den Armstuhl vom Katheder herunter, indem er ihn mit seinem Schnupftuche abwischte. Die Schüler waren emporgeschnellt wie ein Mann. Sie preßten die Arme an die Flanken, stellten sich auf die Zehenspitzen, beugten die Köpfe und bissen sich auf die Zungen vor rasender Devotion. Es herrschte tiefe Lautlosigkeit. Jemand seufzte vor Anstrengung, und dann war alles wieder still.
 
Direktor Wulicke musterte eine Weile die salutierenden Kolonnen, worauf er die Arme mit den trichterförmigen schmutzigen Manschetten erhob und sie mit weitgespreizten Fingern senkte, wie jemand, der voll in die Tasten greift. »Setzt euch«, sagte er dabei mit seinem Kontrabaßorgan. Er duzte jedermann.
 
Die Schüler versanken. Herr Modersohn zog mit zitternden Händen den Armstuhl herbei, und der Direktor setzte sich zur Seite des Katheders. »Bitte, nur fortzufahren«, sagte er; und das klang genau so entsetzlich, als hätte er gesagt: »Wir werden ja sehen, und wehe demjenigen …!«
 
Es war klar, warum er erschienen war. Herr Modersohn sollte vor ihm eine Probe seiner Unterrichtskunst ablegen, sollte zeigen, was die Real-Untersekunda in sechs oder sieben Stunden bei ihm gelernt hatte; es galt Herrn Modersohns Existenz und Zukunft. Der Kandidat bot einen traurigen Anblick, als er wieder auf dem Katheder stand und jemanden zur Wiederholung des Gedichtes »The monkey« aufrief. Und wie bislang nur die Schüler geprüft und begutachtet worden waren, so geschah es nun gleichzeitig auch mit dem Lehrer … Ach, es erging beiden Teilen schlecht! Das Erscheinen Direktor Wulickes war eine Überrumpelung, und niemand, bis auf zwei oder drei, war vorbereitet. Herr Modersohn konnte unmöglich die ganze Stunde lang Adolf Todtenhaupt fragen, der alles wußte. Da »The monkey« in Gegenwart des Direktors nicht mehr abgelesen werden konnte, so ging es jammervoll, und als die Lektüre von »Ivanhoe« an die Reihe kam, konnte eigentlich nur der junge Graf Mölln ein wenig übersetzen, weil bei ihm ein privates Interesse für den Roman vorhanden war. Die übrigen stocherten hustend und hilflos zwischen den Vokabeln umher. Auch Hanno Buddenbrook ward aufgerufen und kam nicht über eine Zeile hinweg. Direktor Wulicke stieß einen Laut aus, wie wenn die tiefste Saite des Kontrabasses heftig angestrichen wird. Herr Modersohn rang seine kleinen, ungeschickten, mit Tinte besudelten Hände und wiederholte jammernd: »Und sonst ging es immer so gut! Und sonst ging es immer so gut!«
 
Dies wiederholte er noch, als es schellte, verzweiflungsvoll halb an die Schüler und halb an den Direktor gewendet. Aber der liebe Gott stand fürchterlich aufgerichtet, mit verschränkten Armen vor seinem Stuhle und blickte mit abweisendem Kopfnicken starr über die Klasse hinweg … Und dann befahl er das Klassenbuch und schrieb langsam allen denjenigen, deren Leistungen soeben mangelhaft oder gleich Null gewesen waren, einen Tadel wegen Trägheit hinein, sechs oder sieben Schülern auf einmal. Herr Modersohn konnte nicht eingeschrieben werden, aber er war schlimmer daran als alle; er stand da, fahl, gebrochen und abgetan. Hanno Buddenbrook aber war ebenfalls unter den Getadelten. – »Ich will euch eure Karriere schon verderben«, sagte Direktor Wulicke noch. Und dann verschwand er.
 
Es schellte, die Stunde war aus. So hatte es kommen sollen. Ja, so war es immer. Wenn man sich am meisten ängstigte, so ging es einem, wie aus Hohn, beinahe gut; aber wenn man nichts Übles gewärtigte, so kam das Unglück. Hannos Avancement zu Ostern war nun endgültig unmöglich. Er stand auf und ging mit müden Augen aus dem Zimmer, indem er seine Zunge an dem kranken Backenzahne scheuerte.
 
Kai kam zu ihm, legte den Arm um ihn und ging mit ihm, inmitten der erregten Kameraden, die über die außerordentlichen Ereignisse disputierten, auf den Hof hinunter. Er blickte ängstlich und liebevoll in Hannos Gesicht und sagte: »Verzeih, Hanno, daß ich eben übersetzt habe und nicht lieber stillschwieg und mich auch einschreiben ließ! Es ist so gemein …«
 
»Habe ich vorhin nicht auch gesagt, was ›patula Jovis arbore, glandes‹ heißt?« antwortete Hanno. »Das ist nun schon so, Kai, laß es gut sein. Man muß es gut sein lassen.«
 
»Ja, das muß man wohl. – Also der liebe Gott will dir die Karriere verderben. Dann mußt du dich wohl darein ergeben, Hanno; denn wenn es sein unerforschlicher Wille ist … Die Karriere, was für ein liebes Wort! Herrn Modersohns Karriere ist nun auch dahin. Er wird nie Oberlehrer werden, der Arme! Ja, es gibt Hilfslehrer und es gibt Oberlehrer, mußt du wissen, aber Lehrer gibt es nicht. Dies ist nun etwas, was man nicht so leicht verstehen kann, weil es nur für ganz Erwachsene ist und solche, die vom Leben gereift sind. Man könnte sagen: Jemand ist ein Lehrer oder er ist keiner; wie jemand ein Oberlehrer sein kann, das verstehe ich nicht. Man könnte damit vor den lieben Gott oder Herrn Marotzke hintreten und es ihnen auseinandersetzen. Was würde geschehen? Sie würden es als Beleidigung nehmen und dich wegen Unbotmäßigkeit vernichten, während du doch eine sehr viel höhere Meinung von ihrem Beruf an den Tag gelegt hättest, als sie selber besitzen können … Na, laß sie, komm, es sind lauter Nashörner.«
 
Sie gingen auf dem Hofe spazieren, und Hanno horchte wohlgefällig auf das, was Kai zum besten gab, um ihn seinen Tadel vergessen zu lassen.
 
»Sieh, hier ist eine Tür, eine Hoftür, sie ist offen, da draußen ist die Straße. Wie wäre es, wenn wir hinausträten und ein bißchen auf dem Trottoir umhergingen? Es ist Pause, wir haben noch sechs Minuten; und wir könnten ja pünktlich zurückkehren. Aber die Sache ist die: es ist unmöglich. Verstehst du das? Hier ist die Tür, sie ist offen, es ist kein Gitter davor, nichts, kein Hindernis, hier ist die Schwelle. Und dennoch ist es unmöglich, schon der Gedanke ist unmöglich, auch nur auf eine Sekunde hinauszutreten … Nun, sehen wir davon ab! Aber nehmen wir ein anderes Beispiel. Es wäre gänzlich verkehrt, zu sagen, daß die Uhr jetzt ungefähr halb zwölf ist. Nein, es kommt jetzt die Geographiestunde an die Reihe: so verhält es sich! Nun frage ich aber jedermann: ist dies ein Leben? Alles ist verzerrt … Ach, Herr Gott, wollte die Anstalt uns erst aus ihrer liebenden Umarmung entlassen!«
 
»Ja, und was dann? Nein, laß nur, Kai, dann wäre es auch noch so: Was soll man anfangen? Hier ist man wenigstens aufgehoben. Seit mein Vater tot ist, haben Herr Stephan Kistenmaker und Pastor Pringsheim es übernommen, mich tagtäglich zu fragen, was ich werden will. Ich weiß es nicht. Ich kann nichts antworten. Ich kann nichts werden. Ich fürchte mich vor dem Ganzen …«
 
»Nein, wie kann man so verzagt reden! Du mit deiner Musik …«
 
»Was ist mit meiner Musik, Kai? Es ist nichts damit. Soll ich umherreisen und spielen? Erstens würden sie es mir nicht erlauben, und zweitens werde ich nie genug dazu können. Ich kann beinahe nichts, ich kann nur ein bißchen phantasieren, wenn ich allein bin. Und dann stelle ich mir das Umherreisen auch schrecklich vor … Mit dir ist es so anders. Du hast mehr Mut. Du gehst hier herum und lachst über das Ganze und hast ihnen etwas entgegenzuhalten. Du willst schreiben, willst den Leuten Schönes und Merkwürdiges erzählen, gut: das ist etwas. Und du wirst sicher berühmt werden, du bist so geschickt. Woran liegt es? Du bist lustiger. Manchmal in der Stunde sehen wir uns an, wie vorhin einen Augenblick, bei Herrn Mantelsack, als Petersen unter allen, die abgelesen hatten, einen Tadel bekam. Wir denken dasselbe, aber du schneidest eine Fratze und bist stolz … Ich kann das nicht. Ich werde so müde davon. Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai!… Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen. Ich will nicht einmal berühmt werden. Ich habe Angst davor, genau als wäre ein Unrecht dabei! Es kann nichts aus mir werden, sei sicher. Neulich nach der Konfirmationsstunde hat Pastor Pringsheim zu jemandem gesagt, man müsse mich aufgeben, ich stammte aus einer verrotteten Familie …«
 
»Hat er das gesagt?« fragte Kai mit angespanntem Interesse …
 
»Ja, er meint meinen onkel Christian damit, der in Hamburg in einer Anstalt sitzt. – Er hat sicher recht. Man sollte mich nur aufgeben. Ich wäre so dankbar dafür!… Ich habe so vielerlei Sorgen, und alles fällt mir so schwer. Nehmen wir an, ich schneide mich in den Finger, tue mir irgendwo weh … es ist eine Wunde, die bei einem anderen in acht Tagen geheilt wäre. Bei mir dauert es vier Wochen. Es will nicht heilen, es entzündet sich, es wird schlimm und macht mir unmäßige Beschwerden … Neulich sagte mir Herr Brecht, um meine Zähne sähe es jämmerlich aus, fast alle seien schon unterminiert und verbraucht, nicht zu reden von denen, die ausgezogen sind. So steht es jetzt. Und womit werde ich beißen, wenn ich dreißig, vierzig Jahre alt bin? Ich habe gar keine Hoffnung …«
 
»So«, sagte Kai und schlug eine schnellere Gangart an; »nun erzählst du mir ein bißchen von deinem Klavierspiel. Ich will nämlich jetzt etwas Wunderbares schreiben, etwas Wunderbares … Vielleicht fange ich nachher in der Zeichenstunde an. Willst du heute nachmittag spielen?«
 
Hanno schwieg einen Augenblick. Etwas Trübes, Verwirrtes und Heißes war in seinen Blick gekommen.
 
»Ja, ich werde wohl spielen«, sagte er, »obgleich ich es nicht tun sollte. Ich sollte meine Etüden und Sonaten üben und dann aufhören. Aber ich werde wohl spielen, ich kann es nicht lassen, obgleich es alles noch schlimmer macht.«
 
»Schlimmer?«
 
Hanno schwieg.
 
»Ich weiß, wovon du spielst«, sagte Kai. Und dann schwiegen beide.
 
Sie waren in einem seltsamen Alter. Kai war sehr rot geworden und blickte zu Boden, ohne den Kopf zu senken. Hanno sah blaß aus. Er war furchtbar ernst und hielt seine verschleierten Augen seitwärts gerichtet.
 
Dann schellte Herr Schlemiel und sie gingen hinauf.
 
Es kam die Geographiestunde und mit ihr das Extemporale, ein sehr wichtiges Extemporale über das Gebiet von Hessen-Nassau. Ein Mann mit rotem Bart und braunem Schoßrock trat ein. Sein Gesicht war bleich, und auf seinen Händen, deren Poren weit offen standen, wuchs nicht ein einziges Härchen. Dies war der geistreiche Oberlehrer, Herr Doktor Mühsam. Er litt zuweilen an Lungenblutungen und sprach beständig in ironischem Tone, weil er sich für ebenso witzig wie leidend hielt. Zu Hause besaß er eine Art Heine-Archiv, eine Sammlung von Papieren und Gegenständen, die sich auf den frechen und kranken Poeten bezogen. Jetzt fixierte er die Grenzen von Hessen-Nassau auf der Wandtafel und bat dann mit einem zugleich melancholischen und höhnischen Lächeln, die Herren möchten in ihre Hefte zeichnen, was das Land an Merkwürdigem biete. Er schien sowohl die Schüler wie das Land Hessen-Nassau verspotten zu wollen; und doch war es ein sehr wichtiges Extemporale, vor dem alle sich fürchteten.
 
Hanno Buddenbrook wußte nichts von Hessen-Nassau, nicht viel, so gut wie nichts. Er wollte ein wenig auf Adolf Todtenhaupts Heft hinübersehen, aber Heinrich Heine, der trotz seiner überlegenen und leidenden Ironie mit gespanntester Aufmerksamkeit jede Bewegung überwachte, bemerkte es sofort und sagte: »Herr Buddenbrook, ich bin versucht, Sie Ihr Buch schließen zu lassen, aber ich fürchte allzusehr, Ihnen eine Wohltat damit zu erweisen. Fahren Sie fort.«
 
Diese Bemerkung enthielt zwei Witze. Erstens denjenigen, daß Doktor Mühsam Hanno mit »Herr« anredete, und zweitens den mit der »Wohltat«. Hanno Buddenbrook aber fuhr fort, über seinem Heft zu brüten und lieferte schließlich ein beinahe leeres Blatt ab, worauf er wieder mit Kai hinausging.
 
Für heute war nun alles überstanden. Wohl dem, der glücklich davongekommen war und dessen Bewußtsein von keinem Tadel beschwert wurde. Er konnte nun frei und wohlgemut bei Herrn Drägemüller im hellen Saale sitzen und zeichnen …
 
Der Zeichensaal war weit und licht. Gipsabgüsse nach der Antike standen auf den Wandborden, und in einem großen Schranke gab es allerhand Holzklötze und Puppenmöbel, die ebenfalls als Modelle dienten. Herr Drägemüller war ein untersetzter Mann mit rundgeschnittenem Vollbart und einer braunen, glatten, billigen Perücke, die im Nacken verräterisch abstand. Er besaß zwei Perücken, eine mit längerem und eine mit kürzerem Haar; hatte er sich den Bart scheren lassen, so setzte er die kürzere auf … Auch sonst war er ein Mann von einigen drolligen Eigentümlichkeiten. Statt »der Bleistift« sagte er »die Blei«. Außerdem verbreitete er einen ölig-spirituösen Geruch wo er ging und stand, und einige sagten, er tränke Petroleum. Seine schönsten Stunden kamen, wenn er vertretungsweise einmal in einem anderen Fache als im Zeichnen unterrichten durfte. Dann hielt er Vorträge über Bismarcks Politik, die er mit eindringlichen, spiralförmigen Bogenbewegungen von der Nase zur Schulter begleitete, und sprach mit Haß und Furcht von der Sozialdemokratie … »Wir müssen zusammenhalten!« pflegte er zu schlechten Schülern zu sagen, indem er sie am Arme packte. »Die Sozialdemokratie steht vor der Tür!« Er hatte etwas krampfhaft Geschäftiges an sich. Er setzte sich neben einen, verbreitete einen heftigen Spiritusgeruch, schlug einem mit seinem Siegelring vor die Stirn, stieß einzelne Wörter hervor, wie »Perspektive!« »Schlagschatten!« »Die Blei!« »Sozialdemokratie!« »Zusammenhalten!« und enteilte …
 
Kai schrieb an seiner neuen literarischen Arbeit in dieser Stunde, und Hanno beschäftigte sich damit, daß er in Gedanken eine Orchester-Ouvertüre aufführte. Dann war es aus, man holte seine Sachen herunter, der Weg durch die Hoftore war freigegeben, man ging nach Hause.
 
Hanno und Kai hatten denselben Weg, und bis zu der kleinen, roten Villa draußen in der Vorstadt gingen sie zusammen, ihre Bücher unterm Arm. Dann hatte der junge Graf Mölln noch eine weite Strecke bis zu dem väterlichen Wohnsitz allein zu wandern. Er trug nicht einmal einen Paletot.
 
Der Nebel, der am Morgen geherrscht hatte, war zu Schnee geworden, der in großen weichen Flocken herniedersank und sich in Kot verwandelte. An der Buddenbrookschen Gartenpforte trennten sie sich; aber als Hanno schon den Vorgarten zur Hälfte durchschritten hatte, kam Kai noch einmal zurück und legte den Arm um seinen Hals. »Sei nicht verzweifelt … Und spiele lieber nicht!« sagte er leise; dann verschwand seine schlanke, verwahrloste Gestalt im Schneegestöber.
 
Hanno ließ seine Bücher auf dem Korridor in der Schale zurück, die der Bär vor sich hinstreckte, und ging ins Wohnzimmer, um seine Mutter zu begrüßen. Sie saß auf der Chaiselongue und las in einem gelb gehefteten Buche. Während er über den Teppich schritt, blickte sie ihm mit ihren braunen, nahe beieinanderliegenden Augen entgegen, in deren Winkeln bläuliche Schatten lagerten. Als er vor ihr stand, nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und küßte ihn auf die Stirn.
 
Er ging in sein Zimmer hinauf, wo Fräulein Clementine ein wenig Frühstück für ihn bereitgestellt hatte, wusch sich und aß. Als er fertig war, nahm er aus dem Pulte ein Päckchen jener kleinen, scharfen russischen Zigaretten, die ihm ebenfalls nicht mehr unbekannt waren, und begann zu rauchen. Dann setzte er sich ans Harmonium und spielte etwas sehr Schwieriges, Strenges, Fugiertes, von Bach. Und schließlich faltete er die Hände hinter dem Kopf und blickte zum Fenster hinaus in den lautlos niedertaumelnden Schnee. Es gab da sonst nichts zu sehen. Es lag kein zierlicher Garten mit plätscherndem Springbrunnen mehr unter seinem Fenster. Die Aussicht wurde durch die graue Seitenwand der benachbarten Villa abgeschnitten.
 
Um vier Uhr wurde zu Mittag gegessen. Gerda Buddenbrook, der kleine Johann und Fräulein Clementine waren allein. Später traf Hanno im Salon die Vorbereitungen zum Musizieren und erwartete am Flügel seine Mutter. Sie spielten die Sonate Opus 24 von Beethoven. Bei dem Adagio sang die Geige wie ein Engel; aber Gerda nahm dennoch unbefriedigt das Instrument vom Kinn, betrachtete es mißmutig und sagte, daß es nicht in Stimmung sei. Sie spielte nicht weiter und ging hinauf, um zu ruhen.
 
Hanno blieb im Salon zurück. Er trat an die Glastür, die auf die schmale Veranda führte, und blickte ein paar Minuten lang in den aufgeweichten Vorgarten hinaus. Plötzlich aber trat er einen Schritt rückwärts, zog heftig den cremefarbenen Vorhang vor die Tür, so daß das Zimmer in einem gelblichen Halbdunkel lag, und ging in Bewegung zum Flügel. Dort stand er abermals eine Weile, und sein Blick, starr und unbestimmt auf einen Punkt gerichtet, verdunkelte sich langsam, verschleierte sich, verschwamm … Er setzte sich und begann eine seiner Phantasien.
 
Es war ein ganz einfaches Motiv, das er sich vorführte, ein Nichts, das Bruchstück einer nicht vorhandenen Melodie, eine Figur von anderthalb Takten, und als er sie zum erstenmal mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, in tiefer Lage als einzelne Stimme ertönen ließ, wie als sollte sie von Posaunen einstimmig und befehlshaberisch als Urstoff und Ausgang alles Kommenden verkündigt werden, war gar nicht abzusehen, was eigentlich gemeint sei. Als er sie aber im Diskant, in einer Klangfarbe von mattem Silber, harmonisiert wiederholte, erwies sich, daß sie im wesentlichen aus einer einzigen Auflösung bestand, einem sehnsüchtigen und schmerzlichen Hinsinken von einer Tonart in die andere … eine kurzatmige, armselige Erfindung, der aber durch die preziöse und feierliche Entschiedenheit, mit der sie hingestellt und vorgebracht wurde, ein seltsamer, geheimnis- und bedeutungsvoller Wert verschafft ward. Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, wie als sei eine Seele voll Unruhe über das, was sie vernommen, und was doch nicht verstummen wollte, sondern in immer anderen Harmonien, fragend, klagend, ersterbend, verlangend, verheißungsvoll sich wiederholte. Und immer heftiger wurden die Synkopen, ratlos umhergedrängt von hastigen Triolen; die Schreie der Furcht jedoch, die hineinklangen, nahmen Gestalt an, sie schlossen sich zusammen, sie wurden zur Melodie, und der Augenblick kam, da sie wie ein inbrünstig und flehentlich hervortretender Gesang des Bläserchores stark und demütig zur Herrschaft gelangten. Das haltlos Drängende, das Wogende, Irrende und Entgleitende war verstummt und besiegt, und in unbeirrbar einfachem Rhythmus erscholl dieser zerknirschte und kindlich betende Choral … Mit einer Art von Kirchenschluß endete er. Eine Fermate kam, und eine Stille. Und siehe, plötzlich war, ganz leise, in einer Klangfarbe von mattem Silber, das erste Motiv wieder da, diese armselige Erfindung, diese dumme oder geheimnisvolle Figur, dieses süße, schmerzliche Hinsinken von einer Tonart in die andere. Da entstand ein ungeheurer Aufruhr und wild erregte Geschäftigkeit, beherrscht von fanfarenartigen Akzenten, Ausdrücken einer wilden Entschlossenheit. Was geschah? Was war in Vorbereitung? Es scholl wie Hörner, die zum Aufbruch riefen. Und dann trat etwas ein wie eine Sammlung und Konzentration, festere Rhythmen fügten sich zusammen, und eine neue Figur setzte ein, eine kecke Improvisation, eine Art Jagdlied, unternehmend und stürmisch. Aber es war nicht fröhlich, es war im Innersten voll verzweifelten Übermuts, die Signale, die darein tönten, waren gleich Angstrufen, und immer wieder war zwischen allem, in verzerrten und bizarren Harmonien, quälend, irrselig und süß, das Motiv, jenes erste, rätselhafte Motiv zu vernehmen … Und nun begann ein unaufhaltsamer Wechsel von Begebenheiten, deren Sinn und Wesen nicht zu erraten war, eine Flucht von Abenteuern des Klanges, des Rhythmus und der Harmonie, über die Hanno nicht Herr war, sondern die sich unter seinen arbeitenden Fingern gestalteten, und die er erlebte, ohne sie vorher zu kennen … Er saß, ein wenig über die Tasten gebeugt, mit getrennten Lippen und fernem, tiefem Blick, und sein braunes Haar bedeckte in weichen Locken seine Schläfen. Was geschah? Was wurde erlebt? Wurden hier furchtbare Hindernisse bewältigt, Drachen getötet, Felsen erklommen, Ströme durchschwommen, Flammen durchschritten? Und wie ein gellendes Lachen oder wie eine unbegreiflich selige Verheißung schlang sich das erste Motiv hindurch, dies nichtige Gebilde, dies Hinsinken von einer Tonart in die andere … ja, es war, als reize es auf zu immer neuen, gewaltsamen Anstrengungen, rasende Anläufe in Oktaven folgten ihm, die in Schreie ausklangen, und dann begann ein Aufschwellen, eine langsame, unaufhaltsame Steigerung, ein chromatisches Aufwärtsringen von wilder, unwiderstehlicher Sehnsucht, jäh unterbrochen durch plötzliche, erschreckende und aufstachelnde Pianissimi, die wie ein Weggleiten des Bodens unter den Füßen und wie ein Versinken in Begierde waren … Einmal war es, als ob fern und leise mahnend die ersten Akkorde des flehenden, zerknirschten Gebetes vernehmbar werden wollten; alsbald aber stürzte die Flut der empordrängenden Kakophonien darüber her, die sich zusammenballten, sich vorwärts wälzten, zurückwichen, aufwärts klommen, versanken und wieder einem unaussprechlichen Ziele entgegenrangen, das kommen mußte, nun kommen mußte, in diesem Augenblick, an diesem furchtbaren Höhepunkt, da die lechzende Drangsal zur Unerträglichkeit geworden war … Und es kam, es war nicht mehr hintanzuhalten, die Krämpfe der Sehnsucht hätten nicht mehr verlängert werden können, es kam, gleichwie wenn ein Vorhang zerrisse, Tore aufsprängen, Dornenhecken sich erschlossen, Flammenmauern in sich zusammensänken … Die Lösung, die Auflösung, die Erfüllung, die vollkommene Befriedigung brach herein, und mit entzücktem Aufjauchzen entwirrte sich alles zu einem Wohlklang, der in süßem und sehnsüchtigem Ritardando sogleich in einen anderen hinübersank … es war das Motiv, das erste Motiv, was erklang! Und was nun begann, war ein Fest, ein Triumph, eine zügellose Orgie ebendieser Figur, die in allen Klangschattierungen prahlte, sich durch alle Oktaven ergoß, aufweinte, im Tremolando verzitterte, sang, jubelte, schluchzte, angetan mit allem brausenden, klingelnden, perlenden, schäumenden Prunk der orchestralen Ausstattung sieghaft daherkam … Es lag etwas Brutales und Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses, etwas wie Glaube und Selbstaufgabe in dem fanatischen Kultus dieses Nichts, dieses Stücks Melodie, dieser kurzen, kindischen, harmonischen Erfindung von anderthalb Takten … etwas Lasterhaftes in der Maßlosigkeit und Unersättlichkeit, mit der sie genossen und ausgebeutet wurde, und etwas zynisch Verzweifeltes, etwas wie Wille zu Wonne und Untergang in der Gier, mit der die letzte Süßigkeit aus ihr gesogen wurde, bis zur Erschöpfung, bis zum Ekel und Überdruß, bis endlich, endlich in Ermattung nach allen Ausschweifungen ein langes, leises Arpeggio in Moll hinrieselte, um einen Ton emporstieg, sich in Dur auflöste und mit einem wehmütigen Zögern erstarb.
 
Hanno saß noch einen Augenblick still, das Kinn auf der Brust, die Hände im Schoß. Dann stand er auf und schloß den Flügel. Er war sehr blaß, in seinen Knien war gar keine Kraft, und seine Augen brannten. Er ging ins Nebenzimmer, streckte sich auf der Chaiselongue aus und blieb so lange Zeit, ohne ein Glied zu rühren.
 
Später wurde zu Abend gegessen, worauf er mit seiner Mutter eine Partie Schach spielte, bei der niemand gewann. Aber nach Mitternacht noch saß er in seinem Zimmer bei einer Kerze vor dem Harmonium und spielte, weil nichts mehr erklingen durfte, in Gedanken, obgleich er gewillt war, morgen um halb sechs Uhr aufzustehen, um die wichtigsten Schularbeiten anzufertigen.
 
Dies war ein Tag aus dem Leben des kleinen Johann. 
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