»O Bach! Sebastian Bach, verehrteste Frau!« rief Herr Edmund Pfühl, Organist von Sankt Marien, der in großer Bewegung den Salon durchschritt, während Gerda lächelnd, den Kopf in die Hand gestützt, am Flügel saß, und Hanno, lauschend in einem Sessel, eins seiner Knie mit beiden Händen umspannte … »Gewiß … wie Sie sagen … er ist es, durch den das Harmonische über das Kontrapunktische den Sieg davongetragen hat … er hat die moderne Harmonik erzeugt, gewiß! Aber wodurch? Muß ich Ihnen sagen, wodurch? Durch die vorwärtsschreitende Entwicklung des kontrapunktischen Stiles – Sie wissen es so gut wie ich! Was also ist das treibende Prinzip dieser Entwicklung gewesen? Die Harmonik? O nein! Keineswegs! Sondern die Kontrapunktik, verehrteste Frau! Die Kontrapunktik!… Wozu, frage ich Sie, hätten wohl die absoluten Experimente der Harmonik geführt? Ich warne … solange meine Zunge mir gehorcht, warne ich vor den bloßen Experimenten der Harmonik!«
Sein Eifer war groß bei solchen Gesprächen, und er ließ ihm freien Lauf, denn er fühlte sich zu Hause in diesem Salon. Jeden Mittwoch, am Nachmittage, erschien seine große, vierschrötige und ein wenig hochschultrige Gestalt, in einem kaffeebraunen Leibrock, dessen Schöße die Kniekehlen bedeckten, auf der Schwelle, und in Erwartung seiner Partnerin öffnete er liebevoll den Bechstein-Flügel, ordnete die Violinstimmen auf dem geschnitzten Stehpult und präludierte dann einen Augenblick leicht und kunstvoll, indem er seinen Kopf wohlgefällig von einer Schulter auf die andere sinken ließ.
Ein erstaunlicher Haarwuchs, eine verwirrende Menge von kleinen, festen, fuchsbraun und graumelierten Löckchen ließ diesen Kopf ungewöhnlich dick und schwer erscheinen, obgleich er frei auf dem langen, mit einem sehr großen Kehlkopfknoten versehenen Halse thronte, der aus dem Klappkragen hervorragte. Der unfrisierte, gebauschte Schnurrbart, von der Farbe des Haupthaares, trat weiter aus dem Gesichte hervor, als die kleine, gedrungene Nase … Unter seinen runden Augen, die braun und blank waren, und deren Blick beim Musizieren die Dinge träumerisch zu durchschauen und jenseits ihrer Erscheinung zu ruhen schien, war die Haut ein wenig beutelartig geschwollen … Dies Gesicht war nicht bedeutend, es trug zum mindesten nicht den Stempel einer starken und wachen Intelligenz. Seine Lider waren meist halb gesenkt, und oft hing sein rasiertes Kinn, ohne daß sich doch die Unterlippe von der oberen trennte, schlaff und willenlos abwärts, was dem Munde einen weichen, innig verschlossenen, stupiden und hingebenden Ausdruck verlieh, wie ihn derjenige eines süß Schlummernden zeigt …
Übrigens kontrastierte mit dieser Weichheit seines äußeren Wesens ganz seltsam die Strenge und Würde seines Charakters. Edmund Pfühl war ein weithin hochgeschätzter Organist, und der Ruf seiner kontrapunktischen Gelehrsamkeit hatte sich nicht innerhalb der Mauern seiner Vaterstadt gehalten. Das kleine Buch über die Kirchentonarten, das er hatte drucken lassen, wurde an zwei oder drei Konservatorien zum Privatstudium empfohlen, und seine Fugen und Choralbearbeitungen wurden hie und da gespielt, wo zu Gottes Ehre eine Orgel erklang. Diese Kompositionen, sowie auch die Phantasien, die er Sonntags in der Marienkirche zum besten gab, waren unangreifbar, makellos, erfüllt von der unerbittlichen, imposanten, moralisch-logischen Würde des Strengen Satzes. Ihr Wesen war fremd aller irdischen Schönheit, und was sie ausdrückten, berührte keines Laien rein menschliches Empfinden. Es sprach aus ihnen, es triumphierte sieghaft in ihnen die zur asketischen Religion gewordene Technik, das zum Selbstzweck, zur absoluten Heiligkeit erhobene Können. Edmund Pfühl dachte gering von aller Wohlgefälligkeit und sprach ohne Liebe von der schönen Melodie, das ist wahr. Aber so rätselhaft es sein mag: dennoch war er kein trockener Mensch und kein verknöcherter Gesell. »Palestrina!« sagte er mit einer kategorischen und furchteinflößenden Miene. Aber gleich darauf, während er am Instrumente eine Reihe von archaistischen Kunststücken ertönen ließ, war sein Gesicht eitel Weichheit, Entrücktheit und Schwärmerei, und als sähe er die letzte Notwendigkeit alles Geschehens unmittelbar an der Arbeit, ruhte sein Blick in einer heiligen Ferne … Dieser Musikantenblick, der vag und leer erscheint, weil er in dem Reiche einer tieferen, reineren, schlackenloseren und unbedingteren Logik weilt, als dem unserer sprachlichen Begriffe und Gedanken.
Seine Hände waren groß, weich, scheinbar knochenlos und mit Sommersprossen bedeckt – und weich und hohl, gleichsam als stäke ein Bissen in seiner Speiseröhre, war die Stimme, mit welcher er Gerda Buddenbrook begrüßte, wenn sie die Portieren zurückschlug und vom Wohnzimmer aus eintrat: »Ihr Diener, gnädige Frau!«
Während er sich ein wenig von dem Sessel erhob und mit gesenktem Kopfe ehrerbietig die Hand entgegennahm, die sie ihm reichte, ließ er mit der linken schon fest und klar die Quinten erklingen, worauf Gerda die Stradivari ergriff und rasch, mit sicherem Gehör die Saiten stimmte.
»Das G-Moll-Konzert von Bach, Herr Pfühl. Mich dünkt, das ganze Adagio ging noch ziemlich mangelhaft …«
Und der Organist intonierte. Kaum aber waren die ersten Akkorde einander gefolgt, so pflegte es zu geschehen, daß langsam, ganz vorsichtig die Tür zum Korridor geöffnet ward und mit lautloser Behutsamkeit der kleine Johann über den Teppich zu einem Lehnsessel schlich. Dort ließ er sich nieder, umfaßte seine Knie mit beiden Händen, verhielt sich still und lauschte: auf die Klänge sowohl, wie auf das, was gesprochen wurde.
»Nun, Hanno, ein bißchen Musik naschen?« fragte Gerda in einer Pause und ließ ihre nahe beieinander liegenden, umschatteten Augen, in denen das Spiel einen feuchten Glanz entzündet hatte, zu ihm hinübergleiten …
Dann stand er auf und reichte mit einer stummen Verbeugung Herrn Pfühl die Hand, der sacht und liebevoll über Hannos hellbraunes Haar strich, das sich so weich und graziös um Stirn und Schläfen schmiegte.
»Horche du nur, mein Sohn!« sagte er mit mildem Nachdruck, und das Kind betrachtete ein wenig scheu des Organisten großen, beim Sprechen in die Höhe wandernden Kehlkopfapfel, worauf es sich leise und schnell an seinen Platz zurückbegab, als könne es die Fortsetzung des Spieles und der Gespräche kaum erwarten.
Ein Satz Haydn, einige Seiten Mozart, eine Sonate von Beethoven wurden durchgeführt. Dann jedoch, während Gerda, die Geige unterm Arm, neue Noten herbeisuchte, geschah das Überraschende, daß Herr Pfühl, Edmund Pfühl, Organist an Sankt Marien, mit seinem freien Zwischenspiel allgemach in einen sehr seltsamen Stil hinüberglitt, wobei in seinem fernen Blick eine Art verschämten Glückes erglänzte … Unter seinen Fingern hub ein Schwellen und Blühen, ein Weben und Singen an, aus welchem sich, leise zuerst und wieder verwehend, dann immer klarer und markiger, in kunstvoller Kontrapunktik ein altväterisch grandioses, wunderlich pomphaftes Marschmotiv hervorhob … Eine Steigerung, eine Verschlingung, ein Übergang … und mit der Auflösung setzte im fortissimo die Violine ein. Das Meistersinger-Vorspiel zog vorüber.
Gerda Buddenbrook war eine leidenschaftliche Verehrerin der neuen Musik. Was aber Herrn Pfühl betraf, so war sie bei ihm auf einen so wild empörten Widerstand gestoßen, daß sie anfangs daran verzweifelt hatte, ihn für sich zu gewinnen.
Am Tage, da sie ihm zum ersten Male Klavierauszüge aus »Tristan und Isolde« aufs Pult gelegt und ihn gebeten hatte, ihr vorzuspielen, war er nach fünfundzwanzig Takten aufgesprungen und mit allen Anzeichen des äußersten Ekels zwischen Erker und Flügel hin und wider geeilt.
»Ich spiele dies nicht, gnädige Frau, ich bin Ihr ergebenster Diener, aber ich spiele dies nicht! Das ist keine Musik … glauben Sie mir doch … ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von Musik zu verstehen! Dies ist das Chaos! Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller Moral in der Kunst! Ich spiele es nicht!« Und mit diesen Worten hatte er sich wieder auf den Sessel geworfen und, während sein Kehlkopf auf und nieder wanderte, unter Schlucken und hohlem Husten weitere fünfundzwanzig Takte hervorgebracht, um dann das Klavier zu schließen und zu rufen:
»Pfui! Nein, Herr du mein Gott, dies geht zu weit! Verzeihen Sie mir, verehrteste Frau, ich rede offen … Sie honorieren mich, Sie bezahlen mich seit Jahr und Tag für meine Dienste … und ich bin ein Mann in bescheidener Lebenslage. Aber ich lege mein Amt nieder, ich verzichte darauf, wenn Sie mich zu diesen Ruchlosigkeiten zwingen …! Und das Kind, dort sitzt das Kind auf seinem Stuhle! Es ist leise hereingekommen, um Musik zu hören! Wollen Sie seinen Geist denn ganz und gar vergiften?« …
Aber so fürchterlich er sich gebärdete, – langsam und Schritt für Schritt, durch Gewöhnung und Zureden, zog sie ihn zu sich herüber.
»Pfühl«, sagte sie, »seien Sie billig und nehmen Sie die Sache mit Ruhe. Seine ungewohnte Art im Gebrauch der Harmonien verwirrt Sie … Sie finden, im Vergleich damit, Beethoven rein, klar und natürlich. Aber bedenken Sie, wie Beethoven seine nach alter Weise gebildeten Zeitgenossen aus der Fassung gebracht hat … und Bach selbst, mein Gott, man warf ihm Mangel an Wohlklang und Klarheit vor!… Sie sprechen von Moral … aber was verstehen Sie unter Moral in der Kunst? Wenn ich nicht irre, ist sie der Gegensatz zu allem Hedonismus? Nun gut, den haben Sie hier. So gut wie bei Bach. Großartiger, bewußter, vertiefter als bei Bach. Glauben Sie mir, Pfühl, diese Musik ist Ihrem innersten Wesen weniger fremd, als Sie annehmen!«
»Gaukelei und Sophismen – um Vergebung«, murrte Herr Pfühl. Aber sie behielt recht: diese Musik war ihm im Grunde weniger fremd, als er anfangs glaubte. Zwar mit dem Tristan söhnte er sich niemals vollständig aus, obgleich er Gerdas Bitte, den »Liebestod« für Violine und Pianoforte zu setzen, schließlich mit vielem Geschick erfüllte. Gewisse Partien der »Meistersinger« waren es, für die er zuerst ein oder das andere Wort der Anerkennung fand … und nun begann unwiderstehlich erstarkend die Liebe zu dieser Kunst sich in ihm zu regen. Er gestand sie nicht, er erschrak fast darüber und verleugnete sie mit Murren. Aber seine Partnerin brauchte nun nicht mehr in ihn zu dringen, damit er, hatten die alten Meister ihr Recht erhalten, seine Griffe kompliziere und, mit jenem Ausdrucke eines verschämten und fast ärgerlichen Glückes im Blick, in das Leben und Weben der Leitmotive hinüberführe. Nach dem Spiele aber entspann sich vielleicht eine Auseinandersetzung über die Beziehungen dieses Kunststiles zu dem des Strengen Satzes, und eines Tages erklärte Herr Pfühl, er sähe sich, obgleich das Thema ihn persönlich ja nicht berühre, nun doch verpflichtet, seinem Buche über den Kirchenstil einen Anhang »über die Anwendung der alten Tonarten in Richard Wagners Kirchen- und Volksmusik« hinzuzufügen.
Hanno saß ganz still, die kleinen Hände um sein Knie gefaltet und, wie er zu tun pflegte, die Zunge an einem Backenzahn scheuernd, wodurch sein Mund ein wenig verzogen wurde. Mit großen, unverwandten Augen beobachtete er seine Mutter und Herrn Pfühl. Er lauschte auf ihr Spiel und auf ihre Gespräche, und so geschah es, daß, nach den ersten Schritten, die er auf seinem Lebenswege getan, er der Musik als einer außerordentlich ernsten, wichtigen und tiefsinnigen Sache gewahr wurde. Kaum hie und da verstand er ein Wort von dem, was gesprochen wurde, und was erklang, ging meist weit über sein kindliches Verständnis hinaus. Wenn er dennoch immer wiederkam und ohne sich zu langweilen Stunde für Stunde reglos an seinem Platze ausharrte, so waren es Glaube, Liebe und Ehrfurcht, die ihn dazu vermochten.
Er war erst sieben Jahre alt, als er mit Versuchen begann, gewisse Klangverbindungen, die Eindruck auf ihn gemacht, auf eigene Hand am Flügel zu wiederholen. Seine Mutter sah ihm lächelnd zu, verbesserte seine mit stummem Eifer zusammengesuchten Griffe und unterwies ihn darin, warum gerade dieser Ton nicht fehlen dürfe, damit sich aus diesem Akkord der andere ergäbe. Und sein Gehör bestätigte ihm, was sie ihm sagte.
Nachdem Gerda Buddenbrook ihn ein wenig hatte gewähren lassen, beschloß sie, daß er Klavierunterricht bekommen sollte.
»Ich glaube, er inkliniert nicht zum Solistentum«, sagte sie zu Herrn Pfühl, »und ich bin eigentlich froh darüber, denn es hat seine Schattenseiten. Ich rede nicht über die Abhängigkeit des Solisten von der Begleitung, obgleich sie unter Umständen sehr empfindlich werden kann, und wenn ich Sie nicht hätte … Aber dann besteht immer die Gefahr, daß man in mehr oder minder vollendetes Virtuosentum gerät … Sehen Sie, ich weiß ein Lied davon zu singen. Ich bekenne Ihnen offen, ich bin der Ansicht, daß für den Solisten eigentlich die Musik erst mit einem sehr hohen Grade von Können beginnt. Die angestrengte Konzentration auf die Oberstimme, ihre Phrasierung und Tonbildung, wobei die Polyphonie nur als etwas sehr Vages und Allgemeines zum Bewußtsein kommt, kann bei mittelmäßig Begabten ganz leicht eine Verkümmerung des harmonischen Sinnes und des Gedächtnisses für Harmonien zur Folge haben, die später schwer zu korrigieren ist. Ich liebe meine Geige und habe es ziemlich weit mit ihr gebracht, aber eigentlich steht das Klavier mir höher … Ich sage nur dies: die Vertrautheit mit dem Klavier, als mit einem Mittel, die vielfältigsten und reichsten Tongebilde zu resümieren, einem unübertrefflichen Mittel zur musikalischen Reproduktion, bedeutet für mich ein intimeres, klareres und umfassenderes Verhältnis zur Musik … Hören Sie, Pfühl, ich möchte Sie gleich selbst für ihn in Anspruch nehmen, seien Sie so gut! Ich weiß wohl, es gibt hier in der Stadt noch zwei oder drei Leute – ich glaube, weiblichen Geschlechts –, die Unterricht geben; aber das sind eben Klavierlehrerinnen … Sie verstehen mich … Es kommt so wenig darauf an, auf ein Instrument dressiert zu werden, sondern vielmehr darauf, ein wenig von Musik zu verstehen, nicht wahr?… Auf Sie verlasse ich mich. Sie nehmen die Sache ernster. Und Sie sollen sehen, Sie werden ganz guten Erfolg mit ihm haben. Er hat die Buddenbrookschen Hände … Die Buddenbrooks können alle Nonen und Dezimen greifen. – Aber sie haben noch niemals Gewicht darauf gelegt«, schloß sie lachend, und Herr Pfühl erklärte sich bereit, den Unterricht zu übernehmen.
Von nun an kam er auch am Montagnachmittag, um sich, während Gerda im Wohnzimmer saß, mit dem kleinen Johann zu beschäftigen. Er ging in nicht gewöhnlicher Art dabei vor, denn er fühlte, daß er dem stummen und leidenschaftlichen Eifer des Kindes mehr schuldig war, als es ein bißchen auf dem Klavier spielen zu lehren. Kaum war das Erste und Elementarste überwunden, als er schon anfing, in leicht faßlicher Form zu theoretisieren und seinen Schüler die Grundlagen der Harmonielehre sehen zu lassen. Und Hanno verstand; denn man bestätigte ihm nur, was er eigentlich von jeher schon gewußt hatte.
Soweit wie nur immer möglich, trug Herr Pfühl dem sehnsüchtigen Vorwärtsdrängen des Kindes Rechnung. Mit liebevoller Sorgfalt war er darauf bedacht, die Bleigewichte zu erleichtern, mit denen die Materie die Füße der Phantasie und des eifernden Talentes beschwert. Er verlangte nicht allzu streng eine große Fingerfertigkeit beim Üben der Tonleitern, oder sie war ihm doch nicht der Zweck dieser Übungen. Was er bezweckte und schnell erreichte, war vielmehr eine klare, umfassende und eindringliche Übersicht über alle Tonarten, eine innere und überblickende Vertrautheit mit ihren Verwandtschaften und Verbindungen, aus welcher nach gar nicht langer Zeit sich jener rasche Blick für viele Kombinationsmöglichkeiten, jenes intuitive Herrschaftsgefühl über die Klaviatur ergab, das zur Phantasie und Improvisation verführt … Mit einer rührenden Feinfühligkeit würdigte er die geistigen Bedürfnisse dieses kleinen, vom Hören verwöhnten Schülers, die auf einen ernsten Stil gerichtet waren. Er ernüchterte die Tiefe und Feierlichkeit seiner Stimmung nicht mit dem Üben banaler Liedchen. Er ließ ihn Choräle spielen und ließ keinen Akkord sich aus dem anderen ergeben, ohne auf die Gesetzmäßigkeit dieses Ergebnisses hinzuweisen.
Bei ihrer Stickerei oder ihrem Buche verfolgte Gerda jenseits der Portieren den Gang des Unterrichtes.
»Sie übertreffen alle meine Erwartungen«, sagte sie gelegentlich zu Herrn Pfühl. »Aber gehen Sie nicht zu weit? Gehen Sie nicht zu außerordentlich vor? Ihre Methode ist, wie mir scheint, eminent schöpferisch … Manchmal fängt er wahrhaftig schon mit Versuchen an, zu phantasieren. Aber wenn er Ihre Methode nicht verdient, wenn er nicht begabt genug dafür ist, so lernt er gar nichts …«
»Er verdient sie«, sagte Herr Pfühl und nickte. »Manchmal betrachte ich seine Augen … es liegt so vieles darin, aber seinen Mund hält er verschlossen. Später einmal im Leben, das vielleicht seinen Mund immer fester verschließen wird, muß er eine Möglichkeit haben, zu reden …«
Sie sah ihn an, diesen vierschrötigen Musikanten mit seiner Fuchsperücke, seinen Beuteln unter den Augen, seinem gebauschten Schnurrbart und seinem großen Kehlkopf – und dann reichte sie ihm die Hand und sagte: »Haben Sie Dank, Pfühl. Sie meinen es gut, und wir können noch gar nicht wissen, wieviel Sie an ihm tun.« –
Und Hannos Dankbarkeit für diesen Lehrer, seine Hingabe an seine Führerschaft war ohnegleichen. Er, der trotz aller Nachhilfestunden in der Schule dumpf und ohne Hoffnung auf Verständnis über seiner Rechentafel brütete, er begriff am Flügel alles, was Herr Pfühl ihm sagte, er begriff es und eignete es sich an, wie man nur das sich aneignen kann, was einem schon von jeher gehört hat. Edmund Pfühl aber, in seinem braunen Schoßrock, erschien ihm wie ein großer Engel, der ihn jeden Montag Nachmittag in die Arme nahm, um ihn aus aller alltäglichen Misere in das klingende Reich eines milden, süßen und trostreichen Ernstes zu entführen …
Manchmal fand der Unterricht in Herrn Pfühls Hause statt, einem geräumigen alten Giebelhause mit vielen kühlen Gängen und Winkeln, das der Organist ganz allein mit einer alten Wirtschafterin bewohnte. Manchmal auch, am Sonntag, durfte der kleine Buddenbrook dem Gottesdienst in der Marienkirche droben an der Orgel beiwohnen, und das war etwas anderes als unten mit den anderen Leuten im Schiff zu sitzen. Hoch über der Gemeinde, hoch noch über Pastor Pringsheim auf seiner Kanzel saßen die beiden inmitten des Brausens der gewaltigen Klangmassen, die sie gemeinsam entfesselten und beherrschten, denn mit glückseligem Eifer und Stolz durfte Hanno seinem Lehrer manchmal beim Handhaben der Register behilflich sein. Wenn aber das Nachspiel zum Chorgesang zu Ende war, wenn Herr Pfühl langsam alle Finger von den Tasten gelöst hatte und nur den Grund- und Baßton noch leise und feierlich hatte verhallen lassen – wenn dann nach einer stimmungsvollen Kunstpause unter dem Schalldeckel der Kanzel Pastor Pringsheims modulierende Stimme hervorzudringen begann, so geschah es gar nicht selten, daß Herr Pfühl ganz einfach sich über die Predigt zu mokieren, über Pastor Pringsheims stilisiertes Fränkisch, seine langen, dunklen oder scharf akzentuierten Vokale, seine Seufzer und den jähen Wechsel zwischen Finsternis und Verklärung auf seinem Angesicht zu lachen anfing. Dann lachte auch Hanno, leise und tiefbelustigt, denn ohne sich anzusehen und ohne es sich zu sagen, waren die beiden dort oben der Ansicht, daß diese Predigt ein ziemlich albernes Geschwätz und der eigentliche Gottesdienst vielmehr das sei, was der Pastor und seine Gemeinde wohl nur für eine Beigabe zur Erhöhung der Andacht hielten: nämlich die Musik.
Ja, das geringe Verständnis, das er unten im Schiff, unter diesen Senatoren, Konsuln und Bürgern und ihren Familien, für seine Leistungen vorhanden wußte, war Herrn Pfühls beständige Kümmernis, und eben darum hatte er gern seinen kleinen Schüler bei sich, den er wenigstens leise darauf aufmerksam machen konnte, daß das, was er soeben gespielt, etwas außerordentlich Schwieriges gewesen sei. Er erging sich in den sonderbarsten technischen Unternehmungen. Er hatte eine »rückgängige Imitation« angefertigt, eine Melodie komponiert, welche vorwärts und rückwärts gelesen gleich war, und hierauf eine ganze »krebsgängig« zu spielende Fuge gegründet. Als er fertig war, legte er mit trübem Gesichtsausdruck die Hände in den Schoß. »Es merkt es niemand«, sagte er mit hoffnungslosem Kopfschütteln. Und dann flüsterte er, während Pastor Pringsheim predigte: »Das war eine krebsgängige Imitation, Johann. Du weißt noch nicht, was das ist … es ist die Nachahmung eines Themas von hinten nach vorn, von der letzten Note zur ersten … etwas ziemlich Schwieriges. Später wirst du erfahren, was die Nachahmung im strengen Satze bedeutet … Mit dem Krebsgang werde ich dich niemals quälen, dich nicht dazu zwingen … Man braucht ihn nicht zu können. Aber glaube nie denen, die dergleichen als Spielerei ohne musikalischen Wert bezeichnen. Du findest den Krebsgang bei den großen Komponisten aller Zeiten. Nur die Lauen und Mittelmäßigen verwerfen solche Übungen aus Hochmut. Demut ziemt sich; das merke dir, Johann.« –
– Am 15. April 1869, seinem achten Geburtstage, spielte Hanno der versammelten Familie zusammen mit seiner Mutter eine kleine, eigene Phantasie vor, ein einfaches Motiv, das er ausfindig gemacht, merkwürdig gefunden und ein wenig ausgebaut hatte. Natürlich hatte Herr Pfühl, dem er es anvertraut, mancherlei daran auszusetzen gehabt.
»Was ist das für ein theatralischer Schluß, Johann! Das paßt ja gar nicht zum übrigen? Zu Anfang ist alles ganz ordentlich, aber wie verfällst du hier plötzlich aus H-Dur in den Quart-Sext-Akkord der vierten Stufe mit erniedrigter Terz, möchte ich wissen? Das sind Possen. Und du tremolierst ihn auch noch. Das hast du irgendwo aufgeschnappt … Woher stammt es? ich weiß es schon. Du hast zu gut zugehört, wenn ich deiner Frau Mama gewisse Sachen vorspielen mußte … Ändere den Schluß, Kind, dann ist es ein ganz sauberes kleines Ding.«
Aber gerade auf diesen Mollakkord und diesen Schluß legte Hanno das allergrößte Gewicht, und seine Mutter amüsierte sich so sehr darüber, daß es dabei blieb. Sie nahm die Geige, spielte die Oberstimme mit und variierte dann, während Hanno den Satz ganz einfach wiederholte, den Diskant bis zum Schluß in Läufen von Zweiunddreißigsteln. Das klang ganz großartig, Hanno küßte sie vor Glück, und so trugen sie es am 15. April der Familie vor.
Die Konsulin, Frau Permaneder, Christian, Klothilde, Herr und Frau Konsul Kröger, Herr und Frau Direktor Weinschenk, sowie die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße und Fräulein Weichbrodt hatten zur Feier von Hannos Geburtstag um vier Uhr beim Senator und seiner Frau zu Mittag gegessen; nun saßen sie im Salon und blickten lauschend auf das Kind, das in seinem Matrosenanzug am Flügel saß, und auf die fremdartige und elegante Erscheinung Gerdas, die zuerst auf der g-Saite eine prachtvolle Kantilene entwickelte und dann, mit unfehlbarer Virtuosität, eine Flut von perlenden und schäumenden Kadenzen entfesselte. Der Silberdraht am Griff ihres Bogens blitzte im Licht der Gasflammen.
Hanno, bleich vor Erregung, hatte bei Tische fast nichts essen können; aber jetzt war die Hingebung an sein Werk, das, ach, nach zwei Minuten schon wieder zu Ende sein sollte, so groß in ihm, daß er in vollständiger Entrücktheit alles um sich her vergessen hatte. Dies kleine melodische Gebilde war mehr harmonischer als rhythmischer Natur, und ganz seltsam mutete der Gegensatz an, der zwischen den primitiven, fundamentalen und kindlichen musikalischen Mitteln und der gewichtigen, leidenschaftlichen und fast raffinierten Art bestand, in welcher diese Mittel betont und zur Geltung gebracht wurden. Mit einer schrägen und ziehenden Bewegung des Kopfes nach vorn hob Hanno bedeutsam jeden Übergangston hervor, und, ganz vorn auf dem Sessel sitzend, suchte er durch Pedal und Verschiebung jedem neuen Akkord einen empfindlichen Wert zu verleihen. In der Tat, wenn der kleine Hanno einen Effekt erzielte – und beschränkte sich derselbe auch ganz allein auf ihn selbst –, so war der Effekt weniger empfindsamer als empfindlicher Natur. Irgendein ganz einfacher harmonischer Kunstgriff ward durch gewichtige und verzögernde Akzentuierung zu einer geheimnisvollen und preziösen Bedeutung erhoben. Irgendeinem Akkord, einer neuen Harmonie, einem Einsatz wurde, während Hanno die Augenbrauen emporzog und mit dem Oberkörper eine hebende, schwebende Bewegung vollführte, durch eine plötzlich eintretende, matt hallende Klanggebung eine nervös überraschende Wirkungsfähigkeit zuteil … Und nun kam der Schluß, Hannos geliebter Schluß, der an primitiver Gehobenheit dem Ganzen die Krone aufsetzte. Leise und glockenrein umperlt und umflossen von den Läufen der Violine, tremolierte pianissimo der E-Mollakkord … Er wuchs, er nahm zu, er schwoll langsam, langsam an, im forte zog Hanno das dissonierende, zur Grundtonart leitende Cis herzu, und während die Stradivari wogend und klingend auch dieses Cis umrauschte, steigerte er die Dissonanz mit aller seiner Kraft bis zum fortissimo. Er verweigerte sich die Auflösung, er enthielt sie sich und den Hörern vor. Was würde sie sein, diese Auflösung, dieses entzückende und befreite Hineinsinken in H-Dur? Ein Glück ohnegleichen, eine Genugtuung von überschwänglicher Süßigkeit. Der Friede! Die Seligkeit! Das Himmelreich!… Noch nicht … noch nicht! Noch einen Augenblick des Aufschubs, der Verzögerung, der Spannung, die unerträglich werden mußte, damit die Befriedigung desto köstlicher sei … Noch ein letztes, allerletztes Auskosten dieser drängenden und treibenden Sehnsucht, dieser Begierde des ganzen Wesens, dieser äußersten und krampfhaften Anspannung des Willens, der sich dennoch die Erfüllung und Erlösung noch verweigerte, weil er wußte: Das Glück ist nur ein Augenblick … Hannos Oberkörper reckte sich langsam empor, seine Augen wurden ganz groß, seine geschlossenen Lippen zitterten, mit einem stoßweisen Beben zog er die Luft durch die Nase ein … und dann war die Wonne nicht mehr zurückzuhalten. Sie kam, kam über ihn, und er wehrte ihr nicht länger. Seine Muskeln spannten sich ab, ermattet und überwältigt sank sein Kopf auf die Schulter nieder, seine Augen schlossen sich, und ein wehmütiges, fast schmerzliches Lächeln unaussprechlicher Beseligung umspielte seinen Mund, während mit Verschiebung und Pedal, umflüstert, umwoben, umrauscht und umwogt von den Läufen der Violine, sein Tremolo, dem er nun Baßläufe gesellte, nach H-Dur hinüberglitt, sich ganz rasch zum fortissimo steigerte und dann mit einem kurzen, nachhallosen Aufbrausen abbrach. –
Es war unmöglich, daß die Wirkung, die dieses Spiel auf Hanno selbst ausübte, sich auch auf die Zuhörer erstreckte. Frau Permaneder zum Beispiel hatte von dem ganzen Aufwand nicht das allermindeste verstanden. Wohl aber hatte sie des Kindes Lächeln gesehen, die Bewegung seines Oberkörpers, das selige Zur-Seite-Sinken seines kleinen, zärtlich geliebten Kopfes … und dieser Anblick hatte sie in den Tiefen ihrer leicht gerührten Gutmütigkeit ergriffen.
»Wie spielt der Junge! Wie spielt das Kind!« rief sie aus, indem sie beinahe weinend auf ihn zueilte und ihn in die Arme schloß … »Gerda, Tom, er wird ein Mozart, ein Meyerbeer, ein …« und in Ermangelung eines dritten Namens von ähnlicher Bedeutung, der ihr nicht sogleich einfiel, beschränkte sie sich darauf, ihren Neffen, der, die Hände im Schoße, noch ganz ermattet und mit abwesenden Augen dasaß, mit Küssen zu bedecken.
»Genug, Tony, genug!« sagte der Senator leise. »Ich bitte dich, was setzest du ihm in den Kopf …«