Man erinnert sich dieser oder jener Person, man denkt nach, wie es ihr gehen mag, und plötzlich fällt einem ein, daß sie nicht mehr auf den Trottoirs umherspaziert, daß ihre Stimme nicht mehr in dem allgemeinen Stimmenkonzert mitklingt, sondern daß sie einfach auf immer vom Schauplatz verschwunden ist und irgendwo draußen vorm Tore unter der Erde liegt.
Die Konsulin Buddenbrook, geborene Stüwing, die Witwe onkel Gottholds, war tot. Auch ihr, die ehemals die Ursache so heftigen Zwists in der Familie gewesen war, hatte der Tod seine sühnende und verklärende Krone aufgesetzt, und ihre drei Töchter, Friederike, Henriette und Pfiffi, fühlten nun das Recht, den Kondolationen ihrer Verwandten eine beleidigte Miene entgegenzusetzen, als wollten sie sagen: »Da seht, eure Verfolgungen haben sie in die Grube gebracht!« … Obgleich die Konsulin steinalt geworden war …
Auch Madame Kethelsen hatte den Frieden. Nachdem sie sich während der letzten Jahre mit der Gicht hatte plagen müssen, war sie sanft, einfältig und kindergläubig dahingegangen, beneidet von ihrer gelehrten Schwester, die immer noch hie und da gegen kleine rationalistische Anfechtungen zu kämpfen hatte und, obgleich sie beständig buckliger und winziger wurde, durch eine zähere Konstitution an diese schlechte Erde gebannt war.
Konsul Peter Döhlmann war abgerufen worden. Er hatte sein ganzes Vermögen verfrühstückt, war schließlich dem Hunyadi-Janos erlegen und hinterließ seiner Tochter eine Rente von zweihundert Mark jährlich, indem er es der öffentlichen Pietät gegen den Namen Döhlmann anheimgab, sie durch Aufnahme in das Johanniskloster zu versorgen.
Justus Kröger war ebenfalls abgeschieden, und das war schlimm; denn nun hinderte niemand mehr seine schwache Gattin, das letzte Silberzeug zu verkaufen, um dem entarteten Jakob Geld schicken zu können, der irgendwo draußen in der Welt sein Lotterleben führte …
Was Christian Buddenbrook betrifft, so hätte man ihn vergebens in der Stadt gesucht; er weilte nicht mehr in ihren Mauern. Ein knappes Jahr nach dem Tode seines Bruders, des Senators, war er nach Hamburg übergesiedelt, woselbst er sich mit einer Dame, der er längst schon nahegestanden, mit Fräulein Aline Puvogel, vor Gott und den Menschen vermählt hatte. Niemand hatte ihm wehren können. Sein mütterliches Erbe zwar, dessen Zinsen übrigens schon immer zur Hälfte nach Hamburg gewandert waren, wurde, soweit es noch nicht im voraus verbraucht war, von Herrn Stephan Kistenmaker verwaltet, der dazu durch seines toten Freundes Testament bestellt worden war; aber Christian war im übrigen Herr seines Willens … Sobald seine Verehelichung ruchbar wurde, richtete Frau Permaneder an Frau Aline Buddenbrook zu Hamburg einen langen und außerordentlich feindseligen Brief, der mit der Anrede »Madame!« begann und in sorgfältig vergifteten Worten die Erklärung enthielt, daß Frau Permaneder weder die Adressatin noch ihre Kinder jemals als Verwandte anzuerkennen gesonnen sei.
Herr Kistenmaker war Testamentsvollstrecker, Verwalter des Buddenbrookschen Vermögens und Vormund des kleinen Johann, und er hielt diese Ämter in Ehren. Sie verschafften ihm eine höchst wichtige Tätigkeit, sie berechtigten ihn, an der Börse mit allen Anzeichen der Überarbeitung sein Haupthaar zu streichen und zu versichern, daß er sich aufreibe … nicht zu vergessen, daß er für seine Mühewaltung mit großer Pünktlichkeit zwei Prozent der Revenüen bezog. Im übrigen aber hatte er nicht viel Glück bei den Geschäften und zog sich sehr bald die Unzufriedenheit Gerda Buddenbrooks zu.
Die Dinge lagen so, daß liquidiert werden, daß die Firma verschwinden sollte, und zwar binnen eines Jahres; dies war des Senators letztwillige Bestimmung. Frau Permaneder zeigte sich heftig bewegt hierüber. »Und Johann, und der kleine Johann, und Hanno?!« fragte sie … Die Tatsache, daß ihr Bruder über seinen Sohn und einzigen Erben hinweggegangen war, daß er für ihn nicht hatte die Firma am Leben erhalten wollen, enttäuschte und schmerzte sie sehr. Manche Stunde weinte sie darüber, daß man sich des ehrwürdigen Firmenschildes, dieses durch vier Generationen überlieferten Kleinods, entäußern, daß man seine Geschichte abschließen sollte, während doch ein natürlicher Erbfolger vorhanden war. Aber dann tröstete sie sich damit, daß das Ende der Firma ja nicht geradezu dasjenige der Familie sei, und daß ihr Neffe eben ein junges und neues Werk werde beginnen müssen, um seinem hohen Berufe nachzukommen, der ja darin bestand, dem Namen seiner Väter Glanz und Klang zu erhalten und die Familie zu neuer Blüte zu bringen. Nicht umsonst besaß er soviel Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater …
Die Abwicklung der Geschäfte also begann unter der Leitung Herrn Kistenmakers und des alten Herrn Marcus und sie nahm einen außerordentlich kläglichen Verlauf. Die gegebene Frist war kurz, sie sollte mit buchstäblicher Genauigkeit innegehalten werden, die Zeit drängte. Die schwebenden Angelegenheiten wurden in übereilter und ungünstiger Weise erledigt. Ein überstürzter und unvorteilhafter Verkauf folgte dem anderen. Das Lager, die Speicher wurden mit großem Schaden zu Gelde gemacht. Und was Herrn Kistenmakers Übereifer nicht verdarb, das vollbrachte die Saumseligkeit des alten Herrn Marcus, von dem man sich in der Stadt erzählte, daß er zur Winterszeit, bevor er ausgehe, nicht nur seinen Paletot und Hut, sondern auch seinen Spazierstock sorgfältig am Ofen wärme, und der, bot sich einmal eine günstige Konjunktur, sicherlich die Gelegenheit vorübergehen ließ … Kurzum, die Verluste häuften sich. Thomas Buddenbrook hatte auf dem Papiere ein Vermögen von sechsmalhundertundfünfzigtausend Mark hinterlassen; ein Jahr nach der Testamentseröffnung stellte sich heraus, daß mit dieser Summe im entferntesten nicht zu rechnen war …
Unbestimmte und übertriebene Gerüchte über die ungünstige Liquidation gingen um, und sie wurden genährt durch die Nachricht, daß Gerda Buddenbrook das große Haus zu verkaufen gedenke. Man erzählte sich Wunderdinge über das, was sie dazu nötigte, über das bedenkliche Zusammenschmelzen des Buddenbrookschen Vermögens, und so konnte es geschehen, daß allgemach in der Stadt eine Stimmung Platz zu greifen begann, die die verwitwete Senatorin anfangs mit Erstaunen und Befremdung, dann mit wachsendem Unwillen in ihrem Haushalt empfinden mußte … Als sie eines Tages ihrer Schwägerin berichtete, daß mehrere Handwerker und Lieferanten in unanständiger Weise auf die Berichtigung größerer Rechnungen gedrungen hatten, blieb Frau Permaneder lange Zeit erstarrt und brach dann in ein fürchterliches Gelächter aus … Gerda Buddenbrook war so indigniert, daß sie sogar etwas wie einen halben Entschluß laut werden ließ, mit dem kleinen Johann die Stadt zu verlassen, zu ihrem alten Vater nach Amsterdam zu ziehen und wieder Duos mit ihm zu geigen. Aber dies rief einen solchen Sturm des Entsetzens von seiten Frau Permaneders hervor, daß sie den Plan fürs erste fahren lassen mußte.
Wie zu erwarten stand, erstreckten sich Frau Permaneders Proteste auch auf den Verkauf des von ihrem Bruder erbauten Hauses. Sie jammerte laut über den üblen Eindruck, den dies hervorrufen könne, und klagte, daß es für den Namen der Familie eine neue Einbuße an Prestige bedeuten werde. Aber sie mußte doch einräumen, daß es unpraktisch gewesen wäre, das weitläufige und prächtige Haus, das Thomas Buddenbrooks kostspielige Liebhaberei gewesen war, fernerhin zu bewohnen und instand zu halten, und daß Gerdas Wunsch nach einer bequemen kleinen Villa, vorm Tore, im Grünen, seine Berechtigung hatte …
Herrn Gosch, dem Makler Sigismund Gosch, dämmerte ein erhabener Tag. Ein Erlebnis verklärte sein Greisenalter, das seinen Gliedern sogar für mehrere Stunden das Zittern nahm. Es geschah, daß er sich in Gerda Buddenbrooks Salon erblicken durfte, ihr gegenüber in einem Fauteuil, Aug' in Auge mit ihr über den Preis ihres Hauses verhandelnd. Das schlohweiße Haar von allen Seiten ins Gesicht gestrichen, starrte er ihr mit gräßlich vorgeschobenem Kinn von unten herauf ins Angesicht und erreichte es, vollkommen bucklig auszusehen. Seine Stimme zischte, aber er sprach kalt und geschäftlich, und nichts verriet die Erschütterung seiner Seele. Er machte sich anheischig, das Haus zu übernehmen, streckte die Hand aus und bot mit tückischem Lächeln fünfundachtzigtausend Mark. Das war annehmbar, denn ein Verlust war bei diesem Verkaufe unvermeidlich. Allein Herrn Kistenmakers Meinung mußte gehört werden, Gerda Buddenbrook mußte Herrn Gosch entlassen, ohne mit ihm abgeschlossen zu haben, und es zeigte sich, daß Herr Kistenmaker nicht gesonnen war, irgendwelche Eingriffe in seine Tätigkeit zu gestatten. Er mißachtete das Angebot des Herrn Gosch, er lachte darüber und schwor, daß man weit mehr bekommen werde. Und er beschwor dies so lange, bis er sich, um überhaupt einmal ein Ende zu machen, genötigt sah, das Haus für fünfundsiebenzigtausend Mark an einen alternden Junggesellen abzugeben, der, von weiten Reisen zurückkehrend, sich in der Stadt niederzulassen gedachte …
Herr Kistenmaker besorgte auch den Ankauf des neuen Hauses, einer angenehmen kleinen Villa, die vielleicht ein wenig zu teuer erstanden wurde, die aber, vorm Burgtore an einer alten Kastanienallee gelegen und von einem hübschen Zier- und Nutzgarten umgeben, den Wünschen Gerda Buddenbrooks entsprach … Dorthin zog die Senatorin, im Herbst des Jahres sechsundsiebenzig, mit ihrem Sohne, ihren Dienstboten und einem Teile ihres Hausrates, während ein anderer Teil davon unter dem Wehklagen Frau Permaneders zurückgelassen werden und in den Besitz des alternden Junggesellen übergehen mußte.
Nicht genug der Veränderungen! Mamsell Jungmann, Ida Jungmann, seit vierzig Jahren im Buddenbrookschen Hause, trat aus den Diensten der Familie und kehrte in ihre westpreußische Heimat zurück, um bei Verwandten den Feierabend ihres Lebens zu verbringen. Die Wahrheit zu sagen, so wurde sie von der Senatorin entlassen. Die gute Seele hatte, als die vorige Generation ihr entwachsen war, alsbald den kleinen Johann vorgefunden, den sie hegen und pflegen, dem sie Grimmsche Märchen vorlesen und die Geschichte des onkels erzählen konnte, welcher am Schluckauf gestorben war. Nun aber war der kleine Johann eigentlich gar nicht mehr klein, er war ein fünfzehnjähriger Junge, dem sie trotz seiner Zartheit nicht mehr beträchtlich nützen konnte … und zu seiner Mutter stand sie, lange schon, in einem ziemlich unangenehmen Verhältnis. Sie hatte diese Frau, die weit später in die Familie eingetreten war als sie, eigentlich niemals recht als zugehörig und vollwertig angesehen und begann andererseits in vorgerückten Jahren mit dem Dünkel einer alten Dienerin sich selbst übertriebene Befugnisse anzumaßen. Sie erregte Anstoß, indem sie ihre Person als allzu wichtig betrachtete, indem sie sich im Haushalte dieses oder jenes Übergriffes schuldig machte … Die Lage ward unhaltbar, erregte Auftritte fanden statt, und obgleich Frau Permaneder mit der nämlichen Beredsamkeit für sie bat, mit der sie für die großen Wohnhäuser und die Möbel gebeten hatte, erhielt die alte Ida den Abschied.
Sie weinte bitterlich, als die Stunde herankam, da sie dem kleinen Johann Lebewohl zu sagen hatte. Er umarmte sie, legte dann die Hände auf den Rücken, stützte sich auf sein eines Bein, indem er den anderen Fuß auf die Zehenspitzen stellte, und sah zu, wie sie davonging, mit demselben grüblerischen und nach innen gekehrten Blick, den seine goldbraunen, bläulich umschatteten Augen an der Leiche seiner Großmutter, beim Tode seines Vaters, bei der Auflösung der großen Haushalte und so manchem weniger äußerlichen Erlebnis ähnlicher Art angenommen hatten … Der alten Ida Verabschiedung schloß sich in seiner Anschauung folgerichtig den anderen Vorgängen des Abbröckelns, des Endens, des Abschließens, der Zersetzung an, denen er beigewohnt hatte. Dergleichen befremdete ihn nicht mehr; es hatte ihn seltsamerweise niemals befremdet. Manchmal, wenn er seinen Kopf mit dem gelockten hellbraunen Haar und den immer ein wenig verzerrten Lippen erhob und die feinen Flügel seiner Nase sich empfindlich öffneten, war es, als schnuppere er behutsam in die Atmosphäre und Lebensluft, die ihn umgab, gewärtig, den Duft, den seltsam vertrauten Duft zu verspüren, den an der Bahre seiner Großmutter alle Blumengerüche nicht zu übertäuben vermocht hatten …
Immer, wenn Frau Permaneder bei ihrer Schwägerin vorsprach, zog sie ihren Neffen an sich, um ihm von der Vergangenheit und jener Zukunft zu erzählen, welche Buddenbrooks, nächst der Gnade Gottes, ihm, dem kleinen Johann, zu verdanken haben sollten. Je unerquicklicher die Gegenwart sich darstellte, desto weniger konnte sie sich genug tun in Schilderungen, wie vornehm das Leben in den Häusern ihrer Eltern und Großeltern gewesen und wie Hannos Urgroßvater vierspännig über Land gefahren sei … Eines Tages erlitt sie einen heftigen Anfall von Magenkrampf, infolge davon, daß Friederike, Henriette und Pfiffi Buddenbrook einstimmig behauptet hatten, Hagenströms seien die Creme der Gesellschaft …