Heute ist der 1. Juni, guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich begrüsse Sie ganz herzlich zur Sendung "Typisch Helene". Heute habe ich ein ganz besonderes Thema für Sie bereit: Ich erzähle Ihnen nämlich gleich über die Taufe meiner kleinen Nichte. Danach reden wir über Thunfisch und über Poulet aus Brasilien, und zum Schluss verrate ich Ihnen noch, welchen Ort in Luzern ich am schönsten finde. Ich freue mich, sind Sie heute wieder mit dabei!
Nun ist es also endlich so weit: Meine fünf Monate alte Nichte Mia-Sophia wird getauft [1]. Und das ist ein ganz grosses Abenteuer, das sehr viele Diskussionen gebraucht hat. Hier in der Schweiz ist es nämlich ziemlich ungewöhnlich geworden, dass Eltern ihr Kind taufen, oder sagen wir: es ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Das liegt daran, dass die Kirche im Leben von vielen Schweizerinnen und Schweizern nicht mehr so wichtig ist, wie früher. Viele treten aus der Kirche aus, weil sie sich nicht mehr mit dieser Institution identifizieren können, oder weil sie das Gefühl haben, dass sie für die Kirche zu hohe Steuern bezahlen müssen. Deshalb heiraten auch immer weniger Leute in der Kirche und lassen ihre Kinder seltener taufen. Na ja, ich finde, jeder soll das tun, was ihn glücklich macht. Ich kann sehr gut verstehen, wenn Eltern ihre Kinder nicht taufen lassen oder warten wollen, bis das Kind alt genug ist, um selber entscheiden zu können. Aber ich muss sagen, dass ich mich sehr darüber freue, dass Mia-Sophia getauft wird. Mit der Taufe wird das Kind in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen und kann dann später Kommunio, Firmung oder Konfirmation feiern. Die Taufe ist somit ein wichtiges Ritual und vor allem, sie ist auch ein sehr schönes Fest.
Und wie gesagt: Das hat einiges zu Tun gegeben. Wir haben hin- und her überlegt, wo wir das Fest machen wollen: In einem Restaurant? Im Haus unserer Mutter? In der Wohnung meiner Schwester und ihres Mannes? Wir haben Listen gemacht mit Verwandten, Freunden und Kindern, die wir einladen wollten, haben diskutiert, was wir zum Essen auftischen könnten, wie die Torte aussehen müsste, welche Musik wir während des Gottesdienstes spielen wollten - und natürlich: Was wir anziehen würden. Aber keine Angst: Wir haben bei all diesen Diskussionen selbstverständlich nicht vergessen, dass wir nur die Statisten [2] sind, und das Baby allein die Hauptperson ist. Aus diesem Grund wird Mia-Sophia auch ein langes, weisses Taufkleid tragen. Ich erzähle Ihnen das, weil es nicht einfach irgendein Taufkleid ist, das ihre Eltern in irgendeinem Geschäft gekauft haben und das irgendeinem Modetrend folgt. Ich glaube, die wenigsten Kinder tragen überhaupt noch Taufkleider heute. Aber in unserer Familie hat das Tradition. Mia-Sophias Kleid ist aus weisser Spitze, und, das ist das Besondere daran: Es ist genau 44 Jahre alt. Denn ich habe es als erste getragen, als ich getauft wurde. Danach trugen es meine beiden Schwestern, unsere beiden Cousins in Schweden und dann auch deren Kinder. Alle unsere Namen sind in das Taufkleid eingestickt [3] und nun kommt Mia-Sophias Namen hinzu. Mal sehen, welcher Namen als nächstes auf dem Kleid erscheinen wird.
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Und nun zu unserem zweiten Thema, liebe Zuhörer: zum Essen. Essen ist etwas Wunderbares, und es gibt kaum jemanden, der lieber isst, als ich. Ich esse zwar nur in Gesellschaft, wenn ich alleine bin, interessiert mich das Essen überhaupt nicht. Dann ernähre [4] ich mich von Knäckebrot, Yoghurt und Pulversuppe. Aber darüber reden wir gerne ein anderes Mal. Jetzt geht es darum, wie schwierig es ist, sich bewusst zu ernähren. Das heisst, gesunde und vor allem auch gesund produzierte Nahrungsmittel zu essen. Wenn ich in der Migros oder im Coop einkaufen gehe, ist es einfach. Denn es gibt heute so viele Lebensmittel [5] mit dem Bio-Zertifikat: Fleisch, Gemüse, Yoghurt, Käse, ja sogar Schokolade und Kaffeerahm. Ich kaufe nur noch Lebensmittel, die biologisch hergestellt sind. Die sind ein bisschen teuerer, aber schmecken einfach besser. Ausserdem will ich, dass die Tiere, deren Produkte ich esse, glücklich und gesund gelebt haben. Einkaufen ist also nicht das Problem. Sehr viel schwieriger ist es aber in Restaurants oder in Lokalen, wo man das Essen auch mitnehmen kann. Es gibt zwar mittlerweile [6] Restaurants und Fast-Food-Lokale, die deklarieren, woher ihr Fleisch und ihr Fisch kommt. Aber viele tun das immer noch nicht so richtig. Da bleibt einem nichts anderes übrig [7], als nachzufragen. Und genau das tue ich auch. Letzte Woche ging ich zum Beispiel zu einem chinesischen Take Away und fragte, woher das Rindfleisch stammt. "Aus Brasilien", sagte der Verkäufer. Na ja, brasilianische Rinder müssen ja nicht zwingend schlechter leben, als ihre Schweizer Kollegen. Aber wenn man bedenkt, wie viel Energie in den ganzen Transport investiert werden muss, dann ist es heute unverantwortlich, Fleisch aus Brasilien zu essen. Ich entschied mich für das Gemüsecurry.
Am nächsten Tag ging ich an den Thaifood-Stand in einem teueren Warenhaus und fragte, woher das Poulet stammt. "Aus Ungarn", sagte die Verkäuferin. "Hmm", sagte ich und schaute sie nachdenklich an. "Aber ich habe gehört, dass Hühner in Ungarn vor allem in engen Käfigen leben müssen. Das gefällt mir nicht." - "Tut mir Leid", antwortete die Verkäuferin. "Aber Schweizer Poulet ist zu teuer für uns." Am Tag darauf wollte ich einen Salat und ging zu einer sehr schönen Salatbar in Zürich. Dort kann man aussuchen, welche Zutaten man für den Salat will, und ich fragte, woher der Thunfisch stammt, den sie als Beilage [8] verkaufen. "Tut mir Leid, das weiss ich nicht", sagte der Verkäufer. "Hmm", sagte ich, "aber heute, da es fast keinen Thunfisch mehr gibt und Thunfisch oft mit schmutzigen Methoden gefangen wird, will ich als Kundin wissen, woher Ihr Thunfisch kommt." Der Verkäufer blickte mich nur müde an und zuckte die Schultern. Ich verzichtete [9] auf den Salat und ging. Das Schlimmste erlebte ich dann aber in einer so genannten Zürcher Trend-Beiz. Ich studierte die Menükarte und sah, dass rosa Thunfisch darauf stand. Ich rief den Kellner und fragte ihn, woher der Thunfisch kommt, den sie servieren. "Ich weiss es nicht", sagte er. "Aber ich kann versichern, dass er sehr fein ist." - "Das glaube ich Ihnen", sagte ich. "Aber ich will wissen, was ich esse." - "Ich gehe mal nachfragen", sagte der Kellner und verschwand Richtung Küche. Zwei Minuten später kam er wieder zurück. "Wir kaufen den Fisch direkt bei einem imp0rteur", sagte er. Aber was es genau für eine Sorte Thunfisch war und wo und wie sie gefangen wurde, konnte er mir nicht sagen. "Wissen Sie, das ist mir eigentlich auch völlig egal", sagte der Kellner. "Ich persönlich esse Thunfisch bis es keinen mehr gibt, und dann steige ich auf Kalbsleber um!" Ich war ziemlich empört [10]. Das war also die Aussage eines Kellners in einem teueren Restaurant in Zürich. Ich legte die Menükarte zur Seite - und ging.
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Und jetzt zum Schluss noch folgendes, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Gestern hat mich eine Freundin aus Kairo gefragt, welches für mich der schönste Ort in der Schweiz ist. Erinnern Sie sich noch? Ich habe Ihnen doch einmal versprochen, immer wieder darüber zu reden, was mir gefällt, und nicht bloss darüber, was mir nicht gefällt. Also, voilá, hier ist ein weiteres Beispiel: Der schönste Ort in der Schweiz ist für mich - der kleine Aussichtspavillon beim Schloss Meggenhorn in Luzern. Ich weiss nicht mehr, wann ich ihn entdeckte und wer in diesem Augenblick bei mir war. Aber das spielt auch keine Rolle, denn ich habe mich sofort in diesen Pavillon verliebt. Gebaut hat ihn der damalige Schlossherr um 1940, weil er sich nach seinen Spaziergängen darin ausruhen und den Blick über die Landschaft geniessen wollte. Inzwischen ist das Holz des Pavillons sehr alt geworden und in seine Wände sind Herzchen geritzt [11], die zeigen, dass vor allem viele verliebte Paare den Pavillon besuchen. Vor Jahren ging auch ich einmal mit einem Geliebten zum Pavillon hoch, um den Abschluss meines Studiums zu feiern. Wir tranken Rosé-Wein und assen gebratene Pouletschenkel mit Rosmarin, es regnete, und wir blickten still über den See. Wir schauten auf die Stelle, wo der Vierwaldstättersee, so heisst der See bei Luzern, 83 Meter tief ist und das Wasser kristallklar ist, und wir schauten auf das Alpenpanorama, die Rigi, den Bürgenstock, das Stanserhorn, den Pilatus. Und ich wusste, dass ich diesen Moment nie vergessen würde, weil er Abschluss und Abschied in Einem war: Ich stand vor einem neuen Abschnitt in meinem Leben und mein Liebster würde am Tag nach unserem Picknick in die USA auswandern. Ich war froh um den Regen, denn er vermischte sich mit meinen Tränen.
Ein anderes Mal besuchte ich den Pavillon mit einem Mann, den ich nicht liebte. Ich verstehe heute noch nicht, warum ich das tat. Aber er war Amerikaner und wollte diesen Ort unbedingt besuchen, und ich hatte, ehrlich gesagt, einfach keine gute Ausrede. Ich vergesse nie, wie ich am Fenster des Pavillons stand und hoffte, dass er nicht näher kommen und versuchen würde, mich zu küssen. Ich redete deshalb extrem viel, erklärte ihm die Geographie und sagte dann, dass wir nun endlich gehen müssten. Der arme Mann. Das war sehr peinlich, immer noch, und ich hasste mich in diesem Moment. Nächstes Mal, das habe ich mir geschworen, gehe ich alleine hin. Allein mit meinen Gedanken und meinen Erinnerungen.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, das war's für heute. Wir hören uns wieder am 17. Juni auf www.podclub.ch. Dann reden wir unter anderem über Bikinis, Badehose und das Sonnenbaden. Bis dahin wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit. Geniessen Sie Pfingsten! Auf Wiederhören.
[1] die Taufe, taufen: Christliches Sakrament, bei dem das Kind in die kirchliche Gemeinde aufgenommen wird
[2] der Statist: Nebenfigur im Theater
[3] einsticken: einen Namen oder ein Muster in ein Kleidungsstück einnähen
[4] sich ernähren: essen
[5] das Lebensmittel: Nahrungsmittel, Essen
[6] mittlerweile: inzwischen
[7] nichts anderes übrig bleiben: keine andere Wahl haben
[8] die Beilage: die Zutat
[9] verzichten: nicht nehmen
[10] empört: böse
[11] ritzen: einschneiden, gravieren