Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zu "Typisch Helene", zur ersten Sendung nach den Sommerferien. Heute ist tatsächlich schon der 3. September. Als ich in meine Agenda geschaut habe, bin ich fast ein bisschen erschrocken. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit verfliegt [1]. Eigentlich habe ich noch gar keine Lust auf Herbst, dicke Pullover und die übliche Erkältung. Aber vielleicht haben wir Glück, und die nächsten Wochen werden warm und schön. Hoffen wir das Beste. Aber jetzt zu unserem Programm: Wir reden über das Schwingen, den Schulanfang und Kühe am Flughafen. Ich hoffe, Sie haben Spass daran.
Wer in den letzten Wochen in der Schweiz war, hat sicher gemerkt, dass grosse, schwere Männer, Stiere [2] und Sägemehl [3] im Mittelpunkt gestanden sind. In den Zeitungen, im Fernsehen und Radio gab es nur ein Thema: Das Eidgenössische Schwingfest in Frauenfeld. 200'000 Menschen haben das Schwingfest besucht, haben 200'000 Liter Bier getrunken und 100'000 Bratwürste gegessen. Es war das grösste Sportereignis [4] des Jahres. Nun fragen Sie sich vielleicht, warum gerade Schwingen so viele Leute interessiert. Ganz einfach: Weil das Schwingen zur Schweiz gehört wie Fondue, die sieben Bundesräte und die Kühe auf der Alp. Es erinnert an eine friedliche und traditionelle Welt. Schwingen ist eine sehr alte Sportart, bei der immer zwei Männer in einem Ring aus Sägemehl gegeneinander kämpfen. Engländer und Amerikaner bezeichnen das Schwingen als "Swiss Wrestling". Die Schwinger sind wie gesagt, sehr gross, schwer und sehr muskulös, haben dicke Hälse und riesige Hände. Und weil sie so gross und stark sind, nennt man die Schwinger auch gerne "die Bösen". Frauen, übrigens, lieben diese starken Männer. Eine Journalistin der Zeitung "Blick am Abend" erklärte dies so: "Schwinger sind eben noch wahre Männer, noch echte Kerle. Sie faszinieren uns Frauen, weil sie sogar genug Kraft haben, um zwei Harassen [5] Mineralwasser in den vierten Stock [6] hinauf zu tragen."
Die Schwinger machen nicht nur einen traditionellen Sport, sie sind selber auch traditionell: Sie sind Zimmermann, Maurer oder Bauer von Beruf und leben auf dem Land. Im Kampf tragen sie kurze Hosen über ihre normalen Hosen, die so genannten "Zwilchhosen". Die Zwilchhosen sind aus Kartoffelsäcken gemacht und sind reissfest, das heisst, sie können nicht kaputt gehen. Das ist wichtig, denn im Kampf packen die Schwinger einander an diesen Hosen und schwingen einander durch die Luft. Gewonnen hat, wer seinen Gegner [7] im Sägemehl auf den Rücken legen kann. Der Sieger eines Turniers ist der "Schwingerkönig", und als Preis bekommt er eine Krone und einen Stier. Der König bleibt drei Jahre lang auf seinem Thron, so lange, bis das nächste Eidgenössische Schwingfest wieder über die Bühne geht [8].
Ich muss zugeben: Das Schwingen ist schon sehr beeindruckend. Aber obwohl ich in Luzern geboren und nun schon 44 Jahre alt bin, habe ich noch nie ein Schwingfest live gesehen. Das muss ich ändern. Ich werde das sofort auf meine Projekt-Liste setzen. Und ich bin gespannt, wie lange die Schwinger so traditionell bleiben wie sie es heute sind. Ich bin sicher: Eines Tages wird ein Schwingerkönig seinen Stier verkaufen und sich heimlich [9] eine Yacht in Saint Tropez kaufen. Und das wird dann eine ganz andere, sehr interessante Geschichte sein.
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Und nun zu unserem zweiten Thema: Kürzlich wurde ich von einem Radiojournalisten gefragt, ob er mich zum Thema "Neuanfang im Herbst" interviewen dürfe. Ich fand das interessant und lustig. Fast eine halbe Stunde lang haben wir dann darüber diskutiert, was im Herbst alles neu anfängt. Auch wenn der Herbst symbolisiert, dass das Jahr langsam zu Ende geht, haben Menschen gerade zu dieser Zeit Lust, etwas Neues zu lernen. Deshalb beginnen viele Kurse im Herbst, Sprachkurse, zum Beispiel, Sportkurse oder Mal- und Fotokurse. Die Universitäten öffnen wieder ihre Tore, die Gymnasien und Sekundarschulen machen die Türen auf, und die Primarschulen begrüssen ihre neuen Schülerinnen und Schüler. Das ist immer ganz besonders aufregend. Für die Kinder wie auch für deren Eltern ist der Schulbeginn der Anfang eines neuen Lebens. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Schultag. Ich hatte einen roten Jupe an und rote Schuhe, auf dem Rücken trug ich einen roten Schulthek [10], und die Haare hatte mir meine Mutter zu einem Pferdeschwanz [11] zusammengebunden. Ich war sehr nervös, und ich glaube, meine Mutter war es auch. Wir waren beide beruhigt, als ich meine Kameradinnen aus dem Kindergarten vor dem Klassenzimmer traf. Karin, meine Freundin, und ich setzen uns an ein Pult [12] in der mittleren Reihe. Das Schulzimmer war hell und freundlich, es roch nach Putzmitteln, und die Lehrerin, Frau Sigrist, war sehr jung und hatte einen Pferdeschwanz wie ich. Ich verliebte mich auf der Stelle ein bisschen in sie. Und weil ich mich wie alle verliebten Menschen interessant machen wollte, tat ich sehr wichtig, als ich mich vor der Klasse vorstellen musste. "Ich heisse Helene", sagte ich, "bin 7 Jahre alt und meine Hobbys sind Indianerbücher lesen, Helikopterfliegen und Ballett." - "Das ist ja toll", sagte Frau Sigrist. "Und was willst du werden, wenn du gross bist?" - "Gerichtsmedizinerin [13]", antwortete ich keck [14]. Ich sah, dass mich Frau Sigrist genauso überrascht anblickte, wie meine Mutter, die ja während der ersten Schulstunde dabei sein durfte. Und ich fühlte mich extrem cool. Das werde ich nie vergessen. Frau Sigrist sehe ich übrigens heute noch ab und zu. Und immer wenn wir einander begrüssen, lächelt sie breit. Ich glaube, sie muss sich damals unglaublich amüsiert haben.
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Und zum Schluss, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, noch eine kleine Anekdote [15]. Wer mit dem Flugzeug nach Zürich reist und im Terminal E ankommt ist, muss mit einem Zug zum Hauptgebäude des Flughafens fahren. Vielleicht haben Sie das schon erlebt, dann ahnen Sie nun wohl, was jetzt kommt. Während der zweiminütigen Fahrt werden die Reisenden nämlich plötzlich mit Jodeln, Kuhglocken und Muhen überrascht. Es juchzt [16], bimmelt [17] und muht [18] aus allen Ecken, und die Touristen, die das noch nie durchgemacht [19] haben, reagieren erschreckt, schauen 1inks und rechts über die Schulter und fragen sich: "Was um Himmels Willen [20] ist denn das? Wo sind wir hier gelandet?" Ich finde diesen Willkommensgruss immer schrecklich peinlich. Ich finde, die Schweiz hat andere Qualitäten, die man Touristen in den ersten Minuten ihres Aufenthalts in der Schweiz zeigen könnte. Das fand auch ein japanischer Tourist, der vor kurzem neben mir im Zug stand: "Kühe! Warum zeigen die uns bloss Kühe?" rief er zornig. "Ich will die Gesichter der Banker sehen, die die Schweiz fast in den Ruin getrieben haben. Die sind zwar alle Gauner [21], aber dafür sind sie cool!"
Ich glaube zwar nicht, dass wir im Zug des Terminals E jemals die Gesichter von Schweizer Bankern sehen werden, aber die Idee ist gut.
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Und mit dieser Anekdote sind wir schon am Ende unserer ersten Sendung angelangt, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Das nächste Mal reden wir unter anderem über die Schweiz und die Armeewaffen und über die Post, die jetzt erst am Nachmittag in die Briefkästen gebracht werden soll. Und übrigens: Ich freue mich sehr über Ihre netten Kommentare. Senden Sie mir doch auch Ideen und Vorschläge zu Themen, über die wir in dieser Sendung reden können. Das wäre super! Wir hören uns dann also wieder am 17. September auf www.podclub.ch. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen schönen und inspirierenden Herbstanfang. Machen Sies gut. Auf Wiederhören!
[1] verfliegen: vergehen
[2] der Stier: männliches Rind
[3] das Sägemehl: Mehl aus Holzabfall
[4] das Sportereignis: das Sportfest
[5] die Harasse: eine Getränkekiste für 12 Flaschen
[6] der Stock: die Etage
[7] der Gegner: der Rivale
[8] über die Bühne gehen: stattfinden, sich ereignen
[9] heimlich: nicht offen, versteckt
[10] der Schulthek: die Schultasche
[11] der Pferdeschwanz: die Haare mit einem Gummiband zusammenbinden
[12] das Pult: der Schreibtisch
[13] die Gerichtsmedizinerin: Ärztin, die tote Menschen untersucht
[14] keck: mutig, gewitzt
[15] die Anekdote: kleine, lustige Geschichte
[16] juchzen: jubeln
[17] bimmeln: Geräusch von Kuhglocken
[18] muhen: Laute von Kühen
[19] durchmachen: erleben, erfahren
[20] ums Himmels Willen: oh, mein Gott!
[21] der Gauner: Bösewicht, Betrüger