Der Banküberfall schrieb Geschichte. Bei der Geiselnahme am 23. August 1973 in Stockholm hatten Polizei und Justiz es erstmals mit seltsamen Reaktionen der Geiseln zu tun - mit dem Stockholm-Syndrom.
Bankräuber sind schwierige Fälle, keine Frage. Aber Bankräuber, gerade auch Geiselnehmer bei Banküberfällen, sind oft die nettesten Verbrecher. Das sagen zumindest Verhandlungsexperten bei der Polizei. Der Mensch, der da maskiert am Schalter steht und die Pistole an die Schläfe eines Angestellten drückt, setzt zwar das Leben eines Menschen aufs Spiel, aber er will reden. Und zwar mit der Polizei. Nicht weil er die Polizei so besonders gern hat, sondern weil Geiselnehmer einen Partner brauchen: In einem videoüberwachten Schalterraum sind sie auf jemanden angewiesen, der sie aus dem Schlamassel wieder herausbringt. Erfahrungsgemäß fordert er meist Geld und Fluchtauto, ist aber im Tausch dafür bereit zu kooperieren. Die Verhandlungsführer bei der Polizei wissen das. Jetzt hängt alles davon ab, wie geschickt die Taktiker sich anstellen, wenn sie versuchen, den Täter zu fassen und gleichzeitig das Leben der Geiseln zu retten.
Unter diesem Aspekt deutet zunächst nichts darauf hin, dass die Geiselnahme am Stockholmer Norrmalmstorg ein besonders außergewöhnlicher Einsatz werden würde. Als am 23. August 1973 mehrere Schüsse die Filiale der schwedischen "Kreditbanken" erschüttern, ahnt noch niemand, zu welch seltsamer Berühmtheit es der Überfall bringen würde. Eine Geiselnahme, die fast sechs Tage andauert. Und bei der man ein bisher noch nie wahrgenommenes psychologisches Phänomen beobachten konnte: Als sogenanntes "Stockholm-Syndrom" sollte es in die Kriminalgeschichte eingehen.
Beim Banküberfall im Zentrum von Stockholm nimmt der Täter vier Angestellte als Geiseln. Er verschanzt sich mit ihnen im Tresorraum, fordert drei Millionen Kronen, schusssichere Westen, Waffen und ein schnelles Fluchtfahrzeug. Die schwedische Polizei ist geduldig. Der 32-Jährige telefoniert sogar zweimal mit Ministerpräsident Olof Palme.
An Tag vier des Überfalls wird ein Loch durch die Decke des Tresorraums gebohrt und eine Mini-Kamera hindurchgeschoben. Jetzt kann die Welt sehen, was dort passiert, denn die schwedischen Medien berichten live.
Doch was nach Außen dringt, ist nicht das, was man erwartet hat: Die Geiseln im Tresorraum der Bank bangen zwar um ihr Leben, aber sie haben keine Angst vor ihrem Geiselnehmer, sondern vor der Polizei! Sie befürchten sogar, dass die Einsatzkräfte den Täter erschießen könnten. Verkehrte Welt! Auf den ersten Blick zumindest.
Heute haben Psychologen das zunächst Unerklärliche längst nachvollziehbar gemacht: Als ganz normale Überlebensstrategie von Geiseln unter extremem psychischem Druck. Als unbewusste Reaktion in einer lebensbedrohlichen Opfer-Situation. Als "Stockholm-Syndrom" eben.
Die Geiselnahme konnte unblutig beendet werden: Die Polizei leitete Gas in den Tresorraum, der Bankräuber ergab sich. Doch Monate später, nachdem der Mann zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, meldeten sich einige Geiseln nochmals zu Wort: Sie baten um Haftverschonung und besuchten ihren Peiniger sogar im Gefängnis. Er hatte gedroht, sie zu umzubringen, und sie waren noch immer von tiefer Dankbarkeit erfüllt, dass er ihnen das Leben geschenkt hatte.