Der Entfesselungskünstler Harry Houdini war berühmt dafür, sich aus jeder Fesselung befreien zu können. Am 12. August 1906 gelang es ihm sogar, sich aus einer Todeszelle des Washingtoner Gefängnisses zu befreien.
Washington, 12. August 1906
Beamte des Washingtoner Gefängnisses führen einen etwas gedrungen wirkenden dunkelhaarigen Mann in eine Todeszelle. Der Mann ist 32 Jahre alt, hat tiefliegende Augen und einen fast stechenden Blick. Er wirkt ganz ruhig, gerade so, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Ohne die geringste Gegenwehr lässt er sich fesseln und in Ketten legen ... dann schließt sich die Tür zur Außenwelt. Keineswegs hinter einem zum Tode verurteilten Verbrecher, sondern hinter einem Mann, der die Gefängnisbehörde selbst darum gebeten hatte, ihn einzusperren.
Wer ist schon so blöd und geht freiwillig in eine Todeszelle, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen. Der Mann hieß Harry Houdini und war bestimmt kein Lebensmüder - eher ein Lebenskünstler, genauer gesagt, ein Entfesselungskünstler. Manche behaupten sogar, er sei der größte Magier aller Zeiten gewesen. Er schaffte das, was die Beamten, die ihn gerade in Ketten gelegt hatten, für unmöglich hielten: Innerhalb von 27 Minuten befreite er sich erst aus seinen Fesseln, dann aus der Zelle.
Aber das war nur einer seiner spektakulären Auftritte. Er konnte durch Backsteinmauern gehen, ließ sich, in einer Zwangsjacke steckend, mit dem Kopf nach unten an Wolkenkratzern aufhängen oder in vernagelten Kisten ins Wasser werfen. Stets tauchte er unversehrt wieder auf.
Dazu brauchte er keinerlei übernatürliche Fähigkeiten. Houdini hat sich immer heftig gegen Scharlatane und Anhänger des Okkultismus gewehrt und auch keinen Hehl daraus gemacht, mit simplen Tricks zu arbeiten. Hinter dem Erfolg seiner Auftritte steckte nichts als harte Arbeit und so manche Entbehrung. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol, badete täglich im kalten Fluss, selbst wenn auf ihm Eisstücke schwammen.
Er selbst erklärte seinen Erfolg damit, dass er äußerst diszipliniert und - ein wenig krummbeinig sei. Er hielt sich also keineswegs für perfekt! Im Gegenteil, er machte aus diesem kleinen Makel eine Tugend und trainierte seine Beine so weit, dass er mit den Zehen eine Nadel aufnehmen und einen Faden hindurchziehen konnte.
Auf diese Art wäre er theoretisch in der Lage gewesen, zwei Strümpfe gleichzeitig zu stopfen - einen mit den Füßen und einen mit den Händen. Aber solche praktischen Erwägungen hatte Harry Houdini sicher nicht im Sinn. Er wollte sich und seine Künste zur Schau stellen, machte einige Filme und hatte sogar den ehrgeizigen Plan, eine "Universität der Magie" zu gründen. Zuvor wollte er aber noch an der Columbia-Universität Englischkurse belegen, denn sein Englisch - er war gebürtiger Ungar - klang nicht gerade salonfähig.
1926 arbeitete er fieberhaft an einer neuen Shownummer: Er wollte sich auf offener Bühne in einen Eisblock einfrieren lassen und sich vor den Augen des Publikums aus dem arktischen Klotz befreien. Aber dazu kam es nicht mehr. Der Entfesselungskünstler starb - erst 52 Jahre alt - an einer zu spät erkannten Bauchfellentzündung.
"Ich bin zu müde, um weiterzukämpfen. Ich glaube, diese Sache ist zu viel für mich", sollen die letzten Worte des Mannes gewesen sein, der im Laufe seines Lebens an die Tausend Tode auf der Bühne gestorben war.