Everett Ruess gehörte zu den Leuten, die die Schönheit des Monument Valley und der Canyons des Colorado entdeckten. Am 21. November 1934 verliert sich plötzlich die Spur des Poeten der Canyons im Süden von Utah.
Der einförmige Alltagstrott kann mitunter ganz schön an der Seele kauen! Vor allem an grauen Novembertagen "erkrankt" mancher Zivilisationsmensch an Aussteigerträumen. Als Medizin bietet sich da zum Beispiel die Geschichte unseres heutigen Kalenderblatt-Helden an.
Er hat das Leben in vier Wänden nämlich auch nicht mehr ausgehalten. Everett Ruess war gerade mal 16 Jahre jung, als er zum ersten Mal sein Ränzlein schnürte. Einen kalifornischen Sommer lang wandert er Meilen über Meilen auf staubigen Straßen mit nicht weniger als 50 Pfund auf dem Buckel, er malt Zypressen am Pazifik, beobachtet Hirsche und Eichhörnchen und schreibt seinen Eltern von Sonnenuntergängen im Yosemite-Park. Am Ende hat er Blut geleckt. Und er will weiter nach Osten - zu den Canyons.
"Ich war so froh, unterwegs zu sein, umherzuziehen ..."
In den folgenden vier Jahren wird er monatelang meist mutterseelenallein durch Nevada, Arizona, Utah und New Mexico wandern. Immer wieder zieht es ihn ins Monument Valley und hinab in die Canyons des Colorado und seiner Nebenflüsse. - Na ja, wird schon so ein Hippie der sechziger oder siebziger Jahre gewesen sein, so könnte man denken. Man kennt sie ja, die langhaarigen Drückeberger. Aber weit gefehlt. Diese atemberaubenden Landschaften, die wir so gut aus der Zigarettenwerbung kennen, und die heute Touristenmassen aus aller Welt durch die Scheiben von Greyhound-Reisebussen erkunden - sie waren zu Everett Ruess' Zeiten vor mehr als 70 Jahren noch so gut wie unberührt.
Er will Dichter werden oder Maler und sucht in der atemberaubenden Einsamkeit und Stille die Inspiration dafür. Er ist von der Schönheit dieser Naturdenkmäler angerührt und schreibt in seiner geschwungenen aber fahrig-taumeligen Schrift schwärmerische Briefe nachhause:
"Ich liebe die roten Felsen, die knorrigen Bäume, den roten Sand, den der Wind mit sich führt, die langsam dahinziehenden Wolken, die in der Sonne schimmern, den Mondschein auf meinem Lager. Ich war eins mit der Welt.
Ich war so froh, unterwegs zu sein, umherzuziehen. Tief im Inneren fühlte ich eine große Erhabenheit, ich schaute in die Glut meines Lagerfeuers und sah weit durch sie hindurch. Meine Arbeit macht mich glücklich, meine Existenz macht mich jubeln. Ich genieße das Leben." - Seine Familie und seine Freunde sollen sich keine Sorgen machen ...
Verschollen
Die andere, düstere Seite dieser Streifzüge findet sich in seinen Tagebüchern. Dort erfahren wir, wie den jungen Everett die Einsamkeit auffrisst, und wie sich seine kurzfristigen Reisegefährten von diesem schrägen Vogel und Streithahn meist schleunigst abwenden. Mit jedem Jahr mehr bohrt sich die Überzeugung in sein Hirn, dass er ein Outlaw ist, dass er in die Gesellschaft der 30er-Jahre nicht mehr zurückfinden wird. Phasen tiefer Niedergeschlagenheit und Depression sind die Folge.
Im November 1934 verliert sich plötzlich die Spur des 20-Jährigen im Süden von Utah. Am 21. wird er zum letzten Mal von zwei Schafhirten gesehen, dann ist er verschollen. Ein ausgesandter Suchtrupp findet nur noch seine beiden friedlich grasenden Esel.
Immer wieder geistern Gerüchte durch die Presse, jemand sei dem
"Poeten der Canyons", wie er bald genannt wird, begegnet oder habe seine Leiche gefunden. Doch keiner wird wohl je erfahren, ob er bei einer seiner waghalsigen Klettereien abgestürzt oder im Colorado River ertrunken ist, ob ihn Cowboys ermordet haben oder ob er sich den Navajos angeschlossen hat.