Mit dem chinesischen Sprichwort „Nan Ke Yi Meng", auf Deutsch „Ein Traum unter dem Südzweig", werden Gedanken und Ideen bezeichnet, die sich niemals verwirklichen lassen.
Diese Redewendung geht auf die Kurzgeschichte „Der Gouverneur vom Südbezirk" des Tang-zeitlichen Autors Li Gongzuo zurück. Im Zentrum der Erzählung steht ein Mann namens Chunyu Fen, der wie der Verfasser der Geschichte während der Tang-Dynastie (618-907) gelebt haben soll. Im Garten des besagten Chunyu Fens befand sich demnach ein prächtig gedeihender Schnurbaum mit weit ausladenden Wurzeln. Gerade in warmen Sommernächten fand der Hausherr hier einen Ort der Entspannung und angenehm kühle Luft.
Einst wurde Chunyu Fen anlässlich seines Geburtstages von zahlreichen Verwandten und Freunden besucht, in deren Gesellschaft er dem Wein herzlich zusprach. Als sich schließlich auch die letzten Gäste verabschiedet hatten, setzte er sich unter den Schnurbaum und hing einigen Gedanken nach, bis ihm die Augen zufielen.
Er war kaum eingeschlafen, da wurde Chunyu Fen im Traum von zwei Gesandten eingeladen, in eine Baumhöhle einzutreten. Als er ihnen folgte, fand er sich in einer sonnigen Welt wieder, die von ihren Bewohnern Schnurbaumland genannt wurde. Just zur Zeit seiner Ankunft wurden in der Hauptstadt Beamtenprüfungen abgehalten, und Chunyu Fen meldete sich nach kurzem Überlegen als Examenskandidat. In jeder der drei folgenden Prüfungen reichte er ausgezeichnete Aufsätze ein, und als die Ergebnisse schließlich verkündet wurden, stand Chunyu Fens Name an erster Stelle. In der folgenden Befragung durch den Kaiser wusste er ebenfalls zu überzeugen. Der Herrscher schätzte den gut aussehenden und offensichtlich begabten Chunyu Fen sehr und erklärte ihn zum Zhuangyuan, also zum besten Prüfling der kaiserlichen Examen. Doch nicht nur das, er gab ihm sogar seine Tochter zur Frau, ein Ereignis, welches schnell in aller Munde war.
Die beiden Eheleute führten eine vorbildliche und glückliche Ehe. Bald darauf wurde Chunyu Fen zum Gouverneur der Provinz Südzweig ernannt und brach in seine neue Heimat auf. Er nahm sein Amt sehr ernst und genoss für seinen Fleiß und seine Aufrichtigkeit den Respekt der gesamten Bevölkerung. Häufig überzeugte er sich persönlich von der Lage vor Ort und kontrollierte die Arbeit seiner Untergebenen mit strengem Blick. So kam es, dass die Verwaltung des gesamten Bezirks bald reibungslos lief und jeder der Beamten seinen Aufgaben nachkam. Nach dreißig Amtsjahren war Chunyu Fen längst im ganzen Land für seine herausragenden Leistungen berühmt. Noch immer führte er ein glückliches Leben mit seiner Frau, die ihm mittlerweile fünf Söhne und zwei Töchter geschenkt hatte. Der Kaiser hatte wiederholt versucht, Chunyu Fen in die Hauptstadt zu versetzen, um ihm höhere Aufgaben zuteil werden zu lassen. Doch als die Anwohner der Provinz Südzweig davon hörten, versperrten sie alle Straßen und verhinderten die Abreise des Gouverneurs. Denn damit, so hofften sie, würde ihnen ihr gütiger Landesvater auch weiterhin erhalten bleiben. Chunyu Fen war von der Zuneigung der Menschen so gerührt, dass er es nicht übers Herz brachte, sein Amt aufzugeben. Nachdem er dem Kaiser den Sachverhalt dargestellt hatte, akzeptierte dieser seine Entscheidung und belohnte ihn reichlich für seine politischen Errungenschaften. Als Zeichen seiner Zufriedenheit machte er ihm unzählige Gold- und Silberwaren sowie auserwählte Kostbarkeiten zum Geschenk.
Eines Jahres wurde das Schnurbaumland von den Truppen des angrenzenden Landes Shanluo angegriffen. Die Generäle rüsteten sich und führten ihre Armeen in den Kampf, doch wurden sie in jeder einzelnen Schlacht vernichtend geschlagen. Der Kaiser war aufgrund der Niederlagen erschüttert und rief die gesamte Beamtenschaft zusammen, um über Gegenmaßnahmen zu beraten. Doch die Beamten waren vor Angst wie gelähmt und wussten keinerlei Rat.
Den Kaiser ärgerte das sehr, und voller Wut sprach er zu ihnen: „In Friedenszeiten lebt ihr alle in Luxus. Doch wenn euer Land in höchster Gefahr schwebt und auf euch angewiesen ist, seid ihr auf einmal sprachlos und zittert vor Angst. Zu nichts seid ihr zu gebrauchen!"
In diesem Moment erinnerte sich der Kanzler der Verdienste Chunyu Fens und empfahl ihn als Heerführer. Sofort erließ der Kaiser den Marschbefehl und wies Chunyu Fen dazu an, die besten Soldaten des Landes gegen den Feind zu führen.
Dieser nahm den Befehl gehorsam entgegen und trat den Armeen von Shanluo entgegen. Allerdings war er in der Kunst des Krieges keineswegs bewandert: Die Schlacht hatte kaum begonnen, da war er bereits vernichtend geschlagen. Um ein Haar wäre er auch selbst gefangen genommen worden.
Die Nachricht von dieser letzten Niederlage enttäuschte den Kaiser über die Maßen. Als Strafe für sein klägliches Versagen entzog er Chunyu Fen sämtliche Titel und Privilegien und degradierte ihn zum einfachen Bürger. Dass ihm die Früchte seiner lebenslangen Mühen in einem einzigen Moment aberkannt wurden, empörte Chunyu Fen zutiefst. Voller Empörung gab er einen Schrei der Entrüstung von sich – und erwachte aus seinem Traum. Als er sich nun nach dem Eingang des Schnurbaumlandes umsah, erblickte er nur eine kleine Ameisenhöhle, die unter einem Ast des Schnurbaumes verborgen war.
Das Sprichwort „Ein Traum unter dem Südzweig" wird häufig auch benutzt, um das Leben mit einem Traum zu vergleichen und die Vergänglichkeit von Macht und Reichtum aufzuzeigen.