EHRGEIZIGE EINWANDERER
Vietnamesen gelten als eine der am besten integrierten Einwanderergruppen in Deutschland. Viele Familien schaffen es, ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Um diese Chance zu nutzen, strengen sich die vietnamesischen Kinder besonders an. Das ist nicht immer leicht, denn für persönliche Interessen haben sie wenig Zeit. Doch den Eltern ist vor allem eins wichtig: Ihren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen.
MANUSKRIPT ZUM VIDEO
SPRECHER:
Der Kontakt zur Nachbarschaft ist Hoang Quang wichtig. Er ist schon seit den 80er Jahren in Leipzig. Er kam als Arbeiter, wie viele Vietnamesen. Später hat sich Hoang Quang eine eigene Existenz mit seinem Laden aufgebaut. Sein Sohn soll einmal mehr Chancen haben als er. Huang Quangs Rezept: eine gute Ausbildung.
HOANG QUANG (Geschäftsmann):
Ich bin Diplomingenieur für Mathematik und Informatik. Ja, ich wollte auch meinen Beruf weiter machen. Aber keine Chance. Ich bin der Meinung, ja mein Sohn, er muss so in Firma oder in Amt arbeiten. Da besser.
SPRECHER:
Häufig besucht der 17-jährige Viet seine Eltern nach der Schule. Die sind stolz auf den Gymnasiasten, der seine deutschen Mitschüler überflügelt. Eine mögliche Fußballerkarriere hat er vor wenigen Monaten aufgegeben, freiwillig, um seine Abiturnote und das geplante Wirtschaftsstudium nicht zu gefährden.
VIET QUANG:
Es war auch eine schwere Entscheidung, also, ich, es klingt komisch, aber ich war den Tränen nahe. Weil es war Leistungssport, ich hab' fünf Jahre Leistungssport gemacht, und das war dann einfach so wie fünf Jahre Leistungssport umsonst. Und ja, aber Schule ist halt wichtiger. Und ich glaub', das war 'ne richtige Entscheidung.
SPRECHER:
Nicht nur bei der eigenen Sprache und Kultur haben gute Schulleistungen für viele Vietnamesen Priorität. Darin unterscheiden sie sich von deutschen Mitschülern, die es im internationalen PISA-Vergleich nicht auf die Spitzenplätze schaffen.
OLAF BEUCHLING (Erziehungswissenschaftler Universität Hamburg):
Das waren also so Aspekte, wo viele Vietnamesische Jugendliche dann gesagt haben:
"Das kenne ich aus meiner Heimat nicht, das ist ja erstaunlich", so, ne? Und dass sie dann auch durchaus kritisch gesagt haben, dass deutsche Lehrer mehr Respekt einfordern sollten von ihren Schülern, und andererseits auch dass sich deutsche Schüler doch etwas stärker, etwas stärker darauf besinnen sollten, wie wichtig ein Lehrer im Leben ist.
SPRECHER:
In vielen Ländern Europas haben sich die ehrgeizigen Einwanderer aus Fernost etabliert. Aber nicht überall sind sie gleichermaßen integriert.
CHING LIN PANG (Migrationsforscherin Universität Lüttich):
Im republikanischen Frankreich zum Beispiel fühlen sich viele Vietnamesen gleichwertig, weil sie rechtlich schnell als französische Staatsbürger anerkannt werden. Das ist auch das Ziel der französischen Regierung. In Deutschland hat das Modell des multikulturellen Nebeneinanders Vorrang, das birgt aber auch die Gefahr, dass sich Gruppen wie die Vietnamesen nicht so schnell zugehörig fühlen.
SPRECHER:
Und für die zweite Generation kommt oft auch der Druck der Eltern dazu: Quinh Tran aus Berlin musste kämpfen, um zu studieren, was sie wollte: Philosophie. Ihre Eltern
bestanden auf eine[r] Karriere als Naturwissenschaftlerin.
QUYNH TRAN:
Meine Eltern und alle anderen Vietnamesen ihrer Generation sind unter politischen
Repressionen aufgewachsen und unter bitterster Armut. Und insofern ist diese
Unsicherheit der Eltern nachvollziehbar.
SPRECHER:
Wie schon in Vietnam kämpfen die Vietnamesen auch im Ausland um Prestige und
Aufstieg. Doch die Anerkennung ihrer guten Bildung ist gerade der ersten Generation der Einwanderer vielfach verwehrt geblieben. So wie Hoang Quang, der keinen Job als Akademiker gefunden hat. Aber er hat sich eingelebt und unter den Deutschen viele Freunde. Von einer streng vietnamesischen Erziehung seines Sohnes ist er heute nicht mehr überzeugt.
HOANG QUANG:
Ich [habe] mit meiner Frau gesprochen, ja, und wir merken, das geht nicht. Wenn wir
immer Zwang machen. Dann kaputt alles, ja? Deswegen, ja, ich habe schon, danach ja, ich hab' schon, noch mal mit ihm gesprochen: Jetzt kannst du Party machen, und wenn notwendig, du kannst bei deinem Freund bleiben, übernachten, das geht auch.
SPRECHER:
Hoang Quang hat seinem Sohn in Deutschland alle Chancen eröffnet, ohne sein
wichtigstes Ziel aus den Augen zu verlieren: Dass Bildung der Weg zum Erfolg ist.
GLOSSAR
sich eine eigene Existenz aufbauen – beruflich selbstständig werden
Rezept, das – hier: die Anleitung; der Ratschlag
jemanden überflügeln – besser sein als ein anderer
etwas aufgeben – hier: etwas nicht weiter machen
etwas/jemanden gefährden – etwas/jemanden in Gefahr bringen
den Tränen nahe sein – kurz davor sein, zu weinen; sehr traurig sein
Leistungssport, der – Sport, den man betreibt, um an Wettkämpfen teilzunehmen
umsonst – hier: vergeblich; für nichts; ohne Grund
etwas hat Priorität – etwas ist wichtig; etwas steht an erster Stelle
PISA-Vergleich, der – eine Untersuchung der OECD, die die Leistung von Schülern aus verschiedenen Ländern vergleicht
etwas einfordern – etwas verlangen; etwas fordern
sich auf etwas besinnen – sich einer Sache bewusst werden; sich an etwas erinnern
ehrgeizig – so, dass man große Dinge erreichen möchte
sich etablieren – zu etwas dazu gehören
integriert sein – hier: Teil einer Gesellschaft sein
republikanisch – die Republik befürwortend
Nebeneinander, das – gemeint ist: das parallele Leben verschiedener sozialer und
ethnischer Gruppen (z.B. Vietnamesen)
etwas birgt eine Gefahr – etwas hat ein Risiko
sich zugehörig fühlen – das Gefühl haben, zu einer Gruppe zu gehören
auf etwas bestehen – etwas fordern; einer Meinung Nachdruck verleihen
politische Repression, die – die Unterdrückung und Verfolgung von Menschen durch ein politisches System
Prestige, das (aus dem Französischen) – das Ansehen; die Geltung
Aufstieg, der – hier: der Erfolg
etwas bleibt jemandem verwehrt – etwas ist für jemanden nicht zu erreichen
Akademiker, der – jemand, der seinen Beruf an einer Universität (oder Hochschule)
gelernt hat (z.B. ein Professor)
sich einleben – hier: sich an ein fremdes Land gewöhnen
jemandem eine Chance eröffnen – jemandem die Möglichkeit zu etwas geben
etwas aus den Augen verlieren – hier: etwas vergessen; etwas nicht beachten