DER MEISTER DER STREICHE
Das Buch "Till Eulenspiegel" ist bereits 500 Jahre alt – und immer noch beliebt bei Jung und Alt. Es handelt von den Geschichten Till Eulenspiegels, der durchs Land zieht und den Menschen Streiche spielt – den Mächtigen, den Reichen, aber auch den ganz normalen Leuten. Das Buch wurde schon kurz nach seinem Erscheinen in sechs Sprachen übersetzt – heute sind es mehr als hundert.
MANUSKRIPT ZUM VIDEO
SPRECHER:
Till Eulenspiegel – ein Meister der Schadenfreude und des Spotts. Mit seinen Streichen legt er andere herein und kennt dabei kein Pardon. Schon als Kind hat er anderen am liebsten den Allerwertesten gezeigt – ein zweifelhafter, aber schlauer Held, über dessen Geschichten man lachen kann.
CHARLOTTE PAPENDORF (Leiterin des Till Eulenspiegel-Museums):
Es ist eine faszinierende Figur deswegen für mich, weil es so etwas Generationsübergreifendes ist, was diese Figur hat. Also Jung und Alt interessiert sich für die Figur, das finde ich etwas sehr Schönes. Und es hat auch etwas Grenzüberschreitendes im Grunde.
SPRECHER:
In Kneitlingen, einem niedersächsischen Dorf nahe der Stadt Braunschweig, soll der echte Eulenspiegel gelebt haben. Im Jahr 1300 wurde hier laut historischer Belege ein „Dyl Ulenspegel“ getauft. Im Nachbarort Schöppenstedt steht heute das Till-Eulenspiegel-Museum, in dem seit Freitag die Jubiläumsausstellung zu sehen ist. Von unschätzbarem Wert und 500 Jahre alt sind diese Original-Seiten des ersten Eulenspiegel-Drucks von 1511. Dieser Roman hat damals den Nerv getroffen und hatte großen Erfolg – denn Unterhaltungsromane hatte es bis dahin nicht gegeben. Till Eulenspiegel: der erste deutschsprachige Bestseller. Seit 26 Jahren erforscht der Schweizer Professor Alexander Schwarz das Phänomen Eulenspiegel.
PROF. DR. ALEXANDER SCHWARZ (Professor der Linguistik an der Universität Lausanne):
Das Eulenspiegel-Buch ist der älteste deutsche erzählende Text, der wirklich Jahrhunderte lang bekannt und erfolgreich geblieben ist – im deutschen Sprachgebiet und darüber hinaus.
SPRECHER:
94 Streiche Eulenspiegels sind bis heute überliefert, in denen der gewiefte Schelm der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Die von den Eulen und Meerkatzen ist eine der bekanntesten: Till Eulenspiegel provoziert als Bäckergeselle seinen Chef, in dem er ihn allzu wörtlich nimmt. Auf die Frage, was er denn backen solle, hatte der Bäcker ironisch geantwortet: „Backe Eulen und Meerkatzen.“ Diese Tiere aber galten im 16. Jahrhundert als böse und furchterregend.
CHARLOTTE PAPENDORF:
Wir kennen viele Historien, in denen Handwerksmeister eine Rolle spielen. Und die
nimmt Eulenspiegel sehr gerne aufs Korn. Und in diesen Geschichten wird sehr häufig den Lesern nahe gelegt, dass die Handwerksmeister oft als faul offensichtlich galten in dieser Zeit. Die gehen lieber abends feiern und lassen den Gesellen arbeiten, den Eulenspiegel-Gesellen – und haben dann eben am frühen Morgen den Schaden.
SPRECHER:
Weltweit amüsiert man sich über die Eulenspiegel-Geschichten. Sie wurden in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Innerhalb von 500 Jahren veränderte sich der Titelheld jedoch immer wieder, nicht nur im Aussehen – auch im Charakter. Auch das gehört zur Erfolgsgeschichte.
ALEXANDER SCHWARZ:
Es hat sich im Laufe der Jahrhunderte mit der Veränderung des Geschmackes eben ergeben. Es mussten viele Geschichten, die ein bisschen übelriechend sind – vielleicht antikirchliche Geschichten – die mussten raus. Und dadurch ist die Figur netter, freundlicher, lustiger geworden.
SPRECHER:
Auch in der sozialistischen DDR hatte Eulenspiegel Erfolg – frech zeigt er in diesem Spielfilm schon als Kind, was er von den Mächtigen hält. Als anarchischer Kinderheld findet er 2003 in die animierte Filmwelt.
ALEXANDER SCHWARZ:
Für mich ist die Faszination nur aus dieser Unfassbarkeit der Figur zu erklären – und nicht daraus, dass der ein Kinderfreund ist und Scherze macht.
SPRECHER:
Eulenspiegels Beerdigung ist zugleich der letzte Streich: der Sarg stürzte ab und blieb aufrecht im Grab stehen. Und die Legende Till Eulenspiegel lebt weiter.
GLOSSAR
Streich, der – eine lustige Handlung, mit der jemand geärgert wird (jemandem einen
Streich spielen)
Schadenfreude, die – die Freude, die jemand hat, wenn jemand anderem etwas Schlechtes passiert
Spott, der – die Tatsache, sich über jemand anderen lustig zu machen
jemanden hereinlegen –jemandem einen → Streich spielen; jemanden betrügen oder täuschen
kein Pardon kennen – keine Rücksicht nehmen
jemandem den Allerwertesten zeigen – umgangssprachlich für: jemandem den nackten Hintern zeigen
zweifelhaft – hier: moralisch fragwürdig
Beleg, der – der Beweis; hier: das Dokument
getauft werden – die Taufe (und dadurch einen Namen) erhalten
Jubiläum, das – der Tag oder das Jahr, in dem ein Ereignis eine bestimmte Anzahl an Tagen oder Jahren her ist (z.B. 25, 100 oder 500 Jahre)
Druck, der – hier: ein gedrucktes Bild oder Buch
etwas trifft den Nerv – etwas wird sehr beliebt, weil viele Menschen sich damit identifizieren können
Bestseller (aus dem Englischen) – etwas (z. B. ein Buch), das sehr gut verkauft wird
Phänomen, das – etwas Außergewöhnliches
etwas ist überliefert – etwas, das einen kulturellen Wert hat, ist an die folgenden Generationen weitergegeben worden
gewieft – schlau; gerissen
Schelm, der – jemand, der gerne → Streiche spielt und Witze macht
jemandem den Spiegel vorhalten – umgangssprachlich für: jemandem (durch etwas) zeigen, wie er wirklich ist
Meerkatze, die – eine Affenart
jemanden provozieren – Dinge tun oder sagen, die andere Menschen sehr ärgern (Adjektiv: provokant)
Geselle, der – der Lehrling; der Auszubildende
jemanden wörtlich nehmen – absichtlich etwas anderes verstehen als der Sprecher
meint
ironisch – so, dass man das Gegenteil von dem sagt, was man eigentlich meint
Historie, die – die Geschichte; die Erzählung
jemand/etwas spielt eine Rolle – jemand/etwas ist für etwas von Bedeutung; es geht um etwas/jemanden
jemanden aufs Korn nehmen – jemanden kritisieren, indem man sich über ihn lustig macht
sich über etwas amüsieren – über etwas lachen; Spaß an etwas haben
anarchisch – nicht bereit, Regeln oder Gesetze zu akzeptieren
animiert – hier: so, dass bewegte Bilder (z.B. Filme) am Computer geschaffen werden
Unfassbarkeit, die – die Unmöglichkeit, etwas/jemanden zu verstehen
Scherz, der – der Witz; der Streich