Herr Meister: Guten Tag, meine Freunde. Wollen Sie gütigst entschuldigen, daß ich so spät komme?
Louis: Wir glaubten (= dachten), Sie wären nicht wohl und könnten nicht kommen.
Herr Meister: Nein, mein lieber Louis; ich bin wohl und bin glücklich, weil alle in meinem Hause gestern so glücklich waren.
Anna: Ja, glücklich waren wir alle, und es war bis heute der schönste Abend in meinem Leben, ich werde noch lange, lange an ihn denken.
Bella: Herr Meister, ich bin ein wenig neugierig, ich möchte sehr gern wissen, warum Sie heute so spät kommen. Es ist dieses die letzte Stunde für lange Zeit, und gewiß ..... Ah, Sie lächeln — gewiß, gewiß, Sie haben einen Grund.
Herr Meister: Wohl gesprochen, mein liebes Fräulein. Erraten Sie, erraten Sie: Warum komme ich spät?
Bella: Warum Sie spät kommen, ja, das weiß ich nicht, ich kann nicht raten, Herr Meister, heute nicht; gewiß, ich kann nicht.
Otto: Ich vermute (= denke), das kleine Paket in Ihrer Hand ist der Grund Ihres Spätkommens.
Herr Meister: Erraten! Sie haben es erraten, Otto.
Louis: Und was ist darin, Herr Meister?
Herr Meister: Nun, sind auch Sie neugierig, Louis?
Anna: Sagen Sie es, Herr Meister, bitte, bitte!
Herr Meister: O, nein, nein, noch nicht.
Bella: Ah, Herr Meister, Sie sind heute in sehr guter Laune.
Herr Meister: Ja, meine Lieben, das bin ich, und wie könnte ich anders sein! Monate lang komme ich zu Ihnen, oft zwei Mal an einem Tage, und spreche mit Ihnen in meiner Muttersprache, und .....
Louis: O, ich liebe Ihre Muttersprache, Herr Meister!
Herr Meister: ..... und wir sind die besten Freunde geworden.
Louis: Ja, Herr Meister, das sind wir geworden.
Herr Meister: Und wissen Sie auch, was das heißt (= ist): »Wir sind Freunde«? Wissen Sie, was es heißt: »Ich habe einen Freund. Ich habe einen Freund, der fühlt, wie ich, — einen Freund, der mir gehört«? Muß dieser Gedanke uns nicht glücklich machen? Und welche Wunder thut dieser Gedanke! Die Freude fühlen wir doppelt, das Leid nur halb. Ich bitte, lassen Sie mich zum Ende noch wenige Worte sprechen.
Bella: O, bitte, Herr Meister, sprechen Sie noch recht viel! Ich höre Sie so gerne Deutsch sprechen, es klingt so musikalisch.
Herr Meister: Sie haben recht, mein Fräulein. Deutsch, schön gesprochen, klingt musikalisch. Freundschaft! Die Freundschaft und die Liebe zu allem, was groß ist und gut und schön, macht uns selbst gut, groß, schön, und stark, das Größte zu thun. Freundschaft und Liebe ist überall in der Natur. Kommen Sie mit mir, meine teuren Freunde, in das Feld. Früh am Sommermorgen, wenn die Sonne den Tau von Gras und Blumen küßt, — o sehen Sie dann, sehen Sie wie diese Blumen alle lächeln; hören Sie nur, wie diese Bäume wispern in stiller Freude, und wie die Vögel singen, und die Insekten so fröhlich summen, so froh!
Sie alle freuen sich, sie alle sind glücklich, denn die Sonne sendet ihre Strahlen. Das ist Freundschaft zwischen Sonne und Erde, und in dieser Freundschaft zwischen Sonne und Erde wird alles groß und reif. In dem Wald! Wie kühl, wie frisch! Alles ist so still, ich höre nur das Murmeln des klaren Baches. Kommt, dieser Bach ist nicht sehr tief, wir wollen springen von einem Stein zum andern bis auf jenen großen dort in seiner Mitte. Da wollen wir ruhen. Wie schön, o wie schön ist es hier! Sehen Sie auf der einen Seite des Baches, auf jenem Busche da, das Nest? O, seht, die grünen Blätter bedecken es ein wenig. Konnte die Liebe einen schöneren Platz finden als diesen? Still, still, nun kommt die Mutter; o sehen Sie, die Kleinen öffnen den Mund; nun legt die Mutter ihnen Körner hinein. So, jetzt haben sie alle. Nun fliegt die Mutter wieder fort; — sie kommt wieder, o wie die Jungen sich freuen! O, die kleinen, kleinen lieben Vögel! Hier stehe ich, wundere mich und freue mich. Wie warm muß das kleine Herz der Mutter fühlen für ihre Kinder! Das, das ist Mutterliebe .....
Louis: Bitte, Herr Meister, vergessen Sie nicht, von dem Pakete in Ihrer Hand zu sprechen.
Bella: Louis! Sie sind sehr ungeduldig!
Herr Meister: Es war gut, Louis, daß Sie von dem Pakete sprachen, ich hätte es vergessen. Ich habe Ihnen noch so viel zu sagen, Fräulein Bella, aber wir sehen uns ja wieder, nicht wahr? und ich hoffe, bald. Damit Sie aber oft an diese schönen Stunden denken, habe ich Ihnen dieses mitgebracht. Ich öffne nun das Paket hier.
Anna: O, wie schön!
Herr Meister: Dieses Buch ist für Sie, Fräulein Bella.
Bella: Ich danke Ihnen aus vollem Herzen, Herr Meister. »Goethes Gedichte.« Wie schön! Und Sie haben auch etwas geschrieben: »Zum Andenken schöner Stunden.«
Herr Meister: Dieses Buch, Fräulein Anna, ist für Sie.
Anna: Ich danke Ihnen viel, vielmal, Herr Meister. »Schillers Gedichte«! — und hier steht: »Denken Sie oft an Ihren Freund W. Meister.« O, wie schön das ist, und wie glücklich ich bin!
Herr Meister: Dieses Buch ist für Sie, mein lieber Louis, lesen Sie?
Louis: »Märchen von Grimm.« O, Herr Meister! Darüber freue ich mich aber sehr! »Dornröschen,« — hier ist »Dornröschen,« Otto, und hier »Aschenputtel,« und hier ....., sieh, Otto, o sieh!
Bella: Louis' Freude ist so groß, das er vergißt (ich vergesse, er vergißt), Herrn Meister zu danken.
Louis: O, Herr Meister, ich danke Ihnen recht herzlich!
Herr Meister: Und für Sie, Freund Otto, habe ich einen Roman von Paul Heyse: »Die Kinder der Welt.«
Otto: Von Paul Heyse und von »Kinder der Welt« habe ich schon so viel gehört. Herr Meister, ich danke Ihnen für Ihre Güte!
Anna: Kann ich wohl die Gedichte von Schiller verstehen, Herr Meister?
Herr Meister: Nicht alle, mein Fräulein, aber viele. Sehen Sie, hier ist ein wundervolles Gedicht: »Die Bürgschaft.« Das müssen Sie lesen, ich will Ihnen ein wenig davon erzählen.