Es war Spätsommer und die letzten heißen Sonnenstrahlen sorgten für ein reges Treiben in der Nachbarschaft von Dackel Walter.
Walter lag gemütlich auf der aufgewärmten Holzbank, die an einer warmen Mauer angelehnt im Garten stand. Von hier aus hatte er das Haus aber auch die Straße gut im Blick und konnte immer mal wieder ein paar spannende Gespräche von den vorbeilaufenden Passanten aufschnappen. Zugleich verpasste er aber auch nicht das hektische Treiben in der Küche.
Für den heutigen Abend stand ein Grillfest an. „Das letzte mal Grillen, bevor der Herbst kommt!“, sagte sein Herrchen in einer leicht melancholischen Stimmlage. Dackel Walter freute das sehr. „Es gibt nichts besseres als ein Stückchen Wurst, das aus Versehen zu Boden fällt. Und auch der ganze Trubel mit Besuch aus der Nachbarschaft ist immer eine willkommene Abwechslung“, dachte er.
Walters Frauchen und Herrchen waren in der Küche damit beschäftigt, etliche Salate und Vorspeisen vorzubereiten. Doch als sie sich gerade über die verschiedenen Soßen unterhielten, wurde Walter von einem lauten Aufschrei im Garten seiner Nachbarin aus seinen Gedanken gerissen.
Er hüpfte galant von der Gartenbank auf den weichen Rasen und schlich sich langsam an die Hecke heran. Er hörte seine Nachbarin, Frau Wiesenthal, laut schimpfen. „Das gibt es doch nicht, wie kann man nur so ungeschickt sein! Meine schönen Blumen!“
Walter konnte durch die Hecke nicht viel sehen. Die Blätter waren einfach zu buschig. Aber es gab eine Stelle – etwas weiter hinten – an der einmal die Heckenschere abgerutscht sein musste. Hier waren die Blätter nicht so dicht und Walter versuchte einen Blick hindurch zu erhaschen.
Seine Nachbarin stand wild gestikulierend mit ihrem Telefon in der Mitte des Gartens. Weil gerade der Schulbus vorbei fuhr und etliche lachende und herumtollende Kinder ausstiegen, konnte Walter aber nicht genau verstehen, was sie dem anderen Gesprächspartner am Telefon erzählte.
Einige Sekunden später legte sie wieder auf und ging durch die Terrassentür ins Haus hinein. „So ein Ärger!“, dachte sich Walter. „Das klingt doch nach einem neuen Fall für mich als Kommissar und ausgerechnet den Anfang habe ich verpasst!“
Ganz in seinen Gedanken versunken, dachte Kommissar Walter über verschiedene Theorien nach und fragte sich dabei, wer seine Nachbarin so aufgeregt haben könnte. Dabei entging ihm völlig, dass sich bereits zunehmend mehr Gäste im Garten versammelten und sich bereits freudig um den Grill herum positionierten.
Erst als sich jemand zu ihm herunterbeugte, um auch ihn zu begrüßen und über den Kopf zu streicheln, bemerkte er, dass das Gartenfest bereits begonnen hatte. „Na gut, dann muss der Fall eben noch bis morgen warten. Aber dann darf mich niemand mehr stören!“
Am nächsten Morgen ging Dackel Walter mit seinem Frauchen wie jeden Tag am Zeitungskiosk vorbei. Eine Schar Kinder drängelte sich um die Eistruhe und eine Gruppe Eltern unterhielt sich über die baldigen Herbstferien.
Da entdeckte Walter auch die Nachbarin Frau Wiesenthal, die sich gerade das aktuelle Tagesblatt aus dem Regal nahm und zur Kasse ging. Kommissar Walter schaute zu seinem Frauchen auf, die scheinbar ebenfalls eine Zeitschrift kaufen wollte. Einige Sekunden später kamen die beiden Frauen vor dem Kiosk ins Gespräch.
Frau Wiesenthal berichtete, dass in ihrem Garten die wunderschönen Blüten an ihren Blumen abgeschnitten wurden. Dabei schilderte sie aufgewühlt, dass sie seit einiger Zeit einen neuen Gärtner angestellt hatte, da sie sich wegen ihres hohen Alters nicht mehr so anstrengen durfte.
Doch seit einigen Tagen sind an den wunderbaren Staudenrosen alle Knospen abgeknipst und auch die Dahlien und Kornblumen stehen nun kahl und ohne Blüte in ihrem Beet. „Da steckt so viel Arbeit in diesem Garten und von heute auf morgen sind alle bunten Blüten verschwunden. Wieso macht er das bloß? Das ist ein richtiger Blütendieb!“.
Die vorbeilaufenden Passanten drehten sich neugierig um, als sie von dem sogenannten „Blütendieb“ hörten. Einige blieben unauffällig stehen und tuschelten.
Kommissar Walter wusste, was nun zu tun war. „Ich werde mir diesen Gärtner mal genauer ansehen und auch das Beet von meiner Nachbarin nehme ich heute Nachmittag mal genauer unter die Lupe.“
Als sie wieder zu Hause angekommen waren, machte sich Walter auf den Weg zur Hecke, die die beiden Grundstücke voneinander trennte. Es gab ein klitzekleines Schlupfloch, durch das er sich vielleicht hindurch quetschen könnte. Zuvor hat er es noch nie probiert.
„Na wenn die gut genährte Katze von Frau Wiesenthal durch das Loch kommt, werde ich es doch wohl auch schaffen!“, grinste Walter schelmisch. Und tatsächlich. Er schob sich durch die Hecke und war im Nu auf der anderen Seite angekommen.
Der Garten war ganz anders angelegt, als der Seinige und viel ordentlicher, als er es gewohnt war. Die Blumen und Pflanzen waren nach Größen geordnet und bildeten eine richtige Formation, nein – ein Kunstwerk!
Aber was war das? Erschrocken sah Walter neben den kunstvoll geschnittenen Bäumchen und Büschen die traurige Wahrheit. Dornige Rosengewächse und schön gewachsene Staudenpflanzen standen inmitten des großen Beets, blütenlos und traurig.
Jetzt konnte er die Aufregung seiner Nachbarin verstehen. „Man hat ihnen ihrer Schönheit beraubt!“, dachte sich Walter. „Ich werde den Blütendieb auf frischer Tat ertappen, das verspreche ich!“ Walter drehte sich wieder zur Hecke um, schlüpfte erneut durch das kleine Loch und wollte sich am nächsten Morgen auf die Lauer legen.
Bereits früh am Morgen wurde er von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt. „Nanu, was ist das denn jetzt für ein Krach da draußen?“ Neugierig sprang er auf das Fensterbrett und stupste mit seiner Nase gegen das Küchenfenster. Aus dem Blickwinkel heraus konnte er den Gärtner von Frau Wiesenthal erkennen, der mit einer elektrischen Schere die grünen Pflanzen abschnitt.
„Aha da haben wir ihn doch! Auf frischer Tat ertappt. Und offensichtlich hält er es nicht einmal für nötig, die Pflanzen und Blüten unauffällig abzuschneiden“, dachte sich Walter. „Ich habe den Dieb, ich habe den Dieb!“ Kommissar Walter bellte so laut, dass sein Herrchen im Morgenmantel erschrocken die Treppe hinunter polterte.
„Was ist denn hier los, Walter?“, rief er. „Erst der ohrenbetäubende Lärm da draußen und nun bellst du die ganze Nachbarschaft zusammen.“ Er ging nun ebenfalls zum Fenster und einige Sekunden später zur Tür hinaus. Von dort aus konnte er den Gärtner sehen, der sich gerade an der Hecke zu schaffen machte.
Doch anders, als von Walter erwartet, beobachtete er das Treiben des Gärtners wohlwollend. „Na endlich kümmert sich mal jemand um diese Hecke. Die wäre ja sonst noch bis zum Himmel gewachsen.“
Zufrieden ging Walters Herrchen wieder in die Küche und berichtete seiner – nun ebenfalls am Küchenfenster stehenden Frau – von dem neuen Gärtner. „Meinetwegen könnte er bei uns gleich weitermachen. Und den Busch vor unserem Haus könnte er sich ebenfalls mal ansehen!“
Walter war enttäuscht: „Hmm, der Gärtner scheint es wohl doch nicht zu sein. Aber wer ist dann der Blütendieb?“
Im Laufe des Tages spitze Kommissar Walter seine Ohren. Er versuchte Gesprächsfetzen auf der Straße zu erhaschen und Telefongespräche von Frau Wiesenthal beiläufig mitzuhören. Außerdem befragte er einige Tiere aus der Nachbarschaft.
Zwar würde er freiwillig nie mit einer Katze ins Gespräch gehen, aber in diesem Fall musste es einfach sein. „Es war ja für den guten Zweck!“, dachte er sich. Doch auch die Katze von Frau Wiesenthal hatte keine Idee.
Neben einem Wellensittich, der häufig am Fenster gegenüber auf einem Holzsteg schaukelte, hatte er jetzt nur noch das Eichhörnchen im Sinn, welches seit einigen Tagen fleißig von einem Baum zum nächsten Sprang, um Nüsse und Eicheln zu sammeln.
„Hey du!“, rief Walter hoch hinauf in die Baumkrone. „Hast du zufällig beobachtet, wer die Blüten im Beet von Frau Wiesenthal geklaut hat?“
Das Eichhörnchen schüttelte den Kopf und versicherte, dass es tagsüber keinen Blütendieb gesehen hätte.
„Aha!“, schlussfolgerte Walter. „Tagsüber wurde also kein Dieb gesichtet. Doch Nachts ist der Garten scheinbar unbeaufsichtigt. Komisch! Sind Katzen nicht angeblich nachtaktiv und streunen im Dunkeln durch die Gegend?“ Dabei dachte Kommissar Walter an seine unliebsame Nachbarskatze, die nichts zur Aufklärung des Falls beitragen konnte.
Walter nahm sich vor, in dieser Nacht den Garten im Blick zu behalten und legte sich daher vorsorglich bereits am Nachmittag schlafen.
Mitten in der Nacht, als alle schliefen, wurde er plötzlich von einem Rascheln geweckt. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er eigentlich längst wach sein wollte, um den Garten seiner Nachbarin zu observieren.
Er öffnete vorsichtig die Tür und schlich auf leisen Pfoten aus dem Haus – geradewegs zur Hecke. Und tatsächlich! Jemand war im Garten von Frau Wiesenthal und wenn sich Walter nicht täuschte, dann hörte er sogar ein genüssliches Schmatzen.
Er steckte vorsichtig seine Schnauze durch das schmale Loch in der Hecke und was er dann sah, konnte er selbst kaum glauben. Es war kein Dieb, der die Blüten von Frau Wiesenthal klaute. Nein – es war ein Reh, das genüsslich Knospe für Knospe und Blüte für Blüte abriss und verspeiste.
„Was machst du da um Himmels Willen?“, rief Walter und bellte dabei lauter als beabsichtigt. Das Reh erschrak dabei so sehr, dass es vor Schreck noch einige weitere Blumen platt trampelte. „Pass doch auf! Du hast ohnehin schon das ganze Beet ruiniert!“, sagte Walter aufgeregt. „Meine Nachbarin ist seit Tagen außer sich, weil ihre liebevolle Gartenarbeit zerstört wurde!“
Das Reh guckte Walter traurig an. „Ich wollte das Beet doch gar nicht ruinieren! Und ich wusste auch nicht, dass sich jemand so viel Mühe damit gemacht hat…“ Das Reh senkte dabei den Blick und wirkte nun gar nicht mehr wie ein Dieb.
„Wo kommst du überhaupt her? Ich habe dich hier noch nie zuvor gesehen“, fragte Walter.
Das Reh erzählte ihm seine Geschichte. Es lebte eigentlich im Wald, aber eines Tages wurde mitten im Wald ein Zaun gebaut. Es waren Bagger und große, laute Fahrzeuge auf der Baustelle. Vor lauter Schreck ist das Reh weggelaufen und hatte sich in der Stadt verirrt. Und nun war es seit einigen Tagen auf der Suche nach Pflanzen, die es fressen konnte.
Als das Reh gerade zu Ende erzählt hatte, kam das Eichhörnchen vom Baum heruntergeklettert. „Ich habe gehört, was dir passiert ist und ich kenne den Zaun, den du meinst. Wenn du möchtest, zeige ich dir einen Weg, wie du sicher zurück in den Wald gelangst. Denn hier gehörst du wirklich nicht hin und obendrein ist es für ein Reh in der Stadt viel zu gefährlich!“
Walter stimmte dem Eichhörnchen zu und auch das Reh schien erleichtert. Walter nickte dem Reh wohlwollend zu und sah den Beiden nach, wie sie sich immer weiter vom Garten und der Siedlung entfernten.