In der alten glücklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als jetzt, darum ließ ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar werden, welche heut' zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur selten einmal einem Glückskinde erscheinen. Zwar die Vögel singen nach alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder Lehre noch Nutzen.
In der Wiek wohnte vor Zeiten am Strande eine schöne Meermaid, die sich den Leuten oftmals zeigte; noch meines Großvaters Vetter, der in dieser Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber das Bürschlein hatte nicht gewagt näher zu treten. Die Jungfrau erschien in mancherlei Gestalten, bald als Füllen oder Färse, bald wieder als ein anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und ließ es sich gefallen, daß sie mit ihr spielten, daß sich die Knäblein ihr auf den Rücken setzten — dann war sie plötzlich wie unter die Erde gesunken!
Wie die alten Leute jener Zeit erzählten, konnte man die Jungfrau in früheren Tagen fast jeden schönen Som[S 213]merabend am Meeresufer sehen, wo sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme glättete, und so schöne Lieder sang, daß den Hörern das Herz hinschmolz. Die Annäherung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand ihren Blicken, oder entwich in's Meer, wo sie als Schwan sich auf den Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das frühere Zutrauen zu ihnen hatte, darüber wollen wir jetzt das nähere melden.
In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier Söhnen; ihren täglichen Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr jüngster Sohn zeigte sich von klein auf in allen Stücken anders als seine Brüder, er mied die Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher, sprach mit sich selbst, mit den Vögeln oder mit Wind und Wellen, aber wenn er unter die Leute kam, öffnete er den Mund nicht viel, sondern stand wie träumend. Wenn im Herbst die Stürme aus dem Meere tobten, die Wellen sich haushoch thürmten und sich schäumend am Ufer brachen, dann ließ es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgehärteter Körper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See hinaus, ohne daß seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht hätte. Am Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in[S 214] süßem Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Geschäft zu besorgen, z. B. im Sommer das Vieh zu hüten, oder sonst kleine Arbeiten zu übernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdruß. Er warf sich irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch theilweise verliefen, so daß die Brüder Stunden lang zu thun hatten, bis sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater den Knaben die Ruthe bitter genug fühlen lassen, aber das wirkte nicht mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum Jüngling herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter seinen lässigen Händen; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsgerät, mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes.
Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerhöfe in Dienst, weil er hoffte, daß vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum ordentlichen Menschen machen möchte; aber wer den Burschen eine Woche lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der nächsten Woche wieder zurück. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Brüder hießen ihn »Schlaf-Tönnis;« binnen kurzem war dieser Spitzname in aller Munde, wiewohl er auf den Namen Jürgen getauft war. Weil nun der Schlaf-Tönnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so hätten sie gern ein Stück Geld hingegeben, wenn jemand sie von dem Faullenzer befreit hätte. Als der Schlaf-Tönnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn behalten wollte, verdingte ihn endlich der[S 215] Vater bei einem fremden Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte, und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem war er nach einigen Wochen, ich weiß nicht wie? von dem Schiffe entkommen, und hatte seine trägen Füße wieder auf den heimischen Boden gesetzt. Nur schämte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging, ohne zu arbeiten. Er war ein hübscher starker Bursche, und konnte ganz angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mußten ihn sein schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wußte sich damit bei Frauen und Mädchen einzuschmeicheln.
Da geschah es, als er an einem schönen Sommerabend nach Sonnenuntergang allein am Strande sich erging, daß der Meermaid holder Gesang an sein Ohr drang. Schlaf-Tönnis dachte alsbald: »Sie ist auch ein Weib, und wird mir nichts zu Leide thun!« Er zögerte also nicht, dem Gesange nachzugehen, um den schönen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg den höchsten Hügel, und gewahrte von da über einige Felder weg die Meermaid, die auf einem Steine saß, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar glättete und ein herrliches Lied sang. Der Jüngling hätte sich mehr Ohren gewünscht, um den Gesang zu hören, der ihm in's Herz schlug wie eine Flamme; als er aber näher kam, sah er, daß hier eben so viele Augen Noth thäten, die Schönheit der Jung[S 216]frau zu fassen. Gewiß hatte die Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr näherten. Schlaf-Tönnis mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er plötzlich still stand, unentschlossen, ob er warten oder näher treten solle. Und wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit freundlicher Miene entgegen. Grüßend bot sie dem Jüngling die Hand und sagte: »Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein bedeutsamer Traum mir deine Ankunft kündete. Du hast unter den Menschen nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen könntest, oder wo Leute deines Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abhängig sein, wenn die Eltern dir in ihrem Hause keine Stätte bieten? Ich kenne dich von klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen oft um dich war und dich schützte, wenn dein verwegener Uebermuth dich hätte verderben können. Ja, meine Hände haben oft dein schwankes Boot gehütet, daß es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und hüten wie meinen Augapfel, daß weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben sollen.« Schlaf-Tönnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich hinter den Ohren und überlegte, was er antworten solle; obgleich jedes Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in's Herz gedrungen war. Endlich fragte er schüchtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. »Wir können mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir[S 217] hast,« erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-Tönnis plötzlich mancherlei Reden ein, die er früher von den Leuten über die Meermaid gehört hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit aus. »Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte die Meermaid, »aber damit du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden, meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf daß du das Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann näher mit einander bekannt werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.« Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem Jüngling an den kleinen Finger und verschwand dann, als wäre sie in Luft zerflossen. Schlaf-Tönnis blieb mit offenen Augen stehen, und hätte das Vorgefallene für einen Traum gehalten, wenn nicht der glänzende Ring an seinem Finger das Gegentheil dargethan hätte. — Aber mit diesem Ringe schien wie ein fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch Ruhe ließ. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam immer wieder zu dem Steine zurück, auf welchem die Jungfrau gesessen hatte — aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein wenig nieder, aber unruhige Träume störten seinen Schlaf. Als er erwachte, fühlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die Vögel im Erlenbusch hörten auf zu singen, und steckten die müden Schnäbel unter die Flügel — aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends.[S 218]