Der alte Bursche erwachte erst spät am Morgen und rieb sich lange die Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem Gedanken, daß er die Beiden bald verzehren würde. Nachdem er ziemlich lange auf sie gewartet hatte, sagte er für sich: »Sie sind wohl noch nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!« Als ihm aber das Warten doch zu lange dauerte, rief er: »Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?« Fluchend und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht noch Magd ließen sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette und ging die Säumigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und bemerkte auch, daß diese Nacht die Lagerstätten unberührt geblieben waren. Jetzt stürzte er in den Stall ... als er hier das Kalb getödtet und das Zauberknäulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte, daß Alles schwarz wurde, öffnete rasch den dritten Geisterstall und schickte seine Gehülfen aus, die Entflohenen zu suchen. »Bringt sie mir, wie ihr sie findet, ich muß ihrer habhaft werden!« So sprach der alte Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon.[S 198]
Die Flüchtlinge befanden sich gerade auf einer großen Fläche, als das Mädchen den Schritt anhielt und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein sollte. Das Knäulchen bewegt sich in meiner Hand, gewiß werden wir verfolgt!« Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze Wolke, welche mit großer Geschwindigkeit näher kam. Das Mädchen drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um und sprach:
»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Würde gern alsbald zum Bächlein,
Mein Gefährte auch zum Fischlein!«
Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen floß als Bächlein dahin, und der Königssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister sausten vorüber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim, aber Bächlein und Fischlein ließen sie unangetastet. Sobald die Verfolger fort waren, verwandelte sich das Bächlein wieder in ein Mädchen und machte das Fischlein zum Jüngling, und dann setzten sie in menschlicher Gestalt ihre Reise fort.
Als die Geister müde und mit leeren Händen zurückkehrten, fragte sie der alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen wäre? »Gar nichts!« war die Antwort: »nur ein Bächlein floß in der Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.« Wüthend brüllte der Alte: »Schafsköpfe. Das waren sie ja, das waren sie ja!« Schnell riß er die Thüren des fünften Stalles auf, ließ die Geister heraus und befahl ihnen, des Bächleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen. Die Geister stoben wie der Wind von dannen.[S 199]
Unsere Wanderer näherten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das Mädchen stehen und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das Knäulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.« Als sie sich umsahen, erblicken sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und mit rothen Rändern. »Das sind unsere Verfolger!« rief die Jungfrau und drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach:
»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Wandele uns alle Beide:
Mich zum wilden Rosenstrauche,
Ihn zur Blüthe an dem Strauche.«
Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem Mädchen ward ein wilder Rosenstrauch, und der Jüngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die Geister über ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder um; da sie weder Bächlein noch Fischlein gefunden hatten, kümmerten sie sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vorüber waren, verwandelten sich Strauch und Blume wieder in Mädchen und Jüngling, welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten.
»Habt ihr sie gefunden?« fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend wiederkehren sah. »Nein,« antwortete der Anführer der Geister. »Wir fanden weder Bächlein noch Fischlein in der Ebene.« »Habt ihr denn sonst nichts Besonderes unterwegs gesehen?« fuhr der Alte auf. Der Anführer antwortete: »Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch an dem eine Rose hing.« Schafsköpfe!« schrie der Alte, »das waren sie ja, das waren sie ja!« Er schloß darauf den siebenten Stall auf[S 200] und schickte seine mächtigsten Geister aus, sie zu suchen. »Bringt sie mir, wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich muß ihrer habhaft werden. Reißt den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt Alles mit, was euch Befremdliches aufstößt.« Wie der Sturmwind flogen die Geister davon.
Die Flüchtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und stärkten die ermüdeten Glieder durch Speise und Trank. Plötzlich rief das Mädchen. »Alles ist nicht, wie es sein soll; das Knäulchen will mit Gewalt aus meinem Busen. Gewiß verfolgt man uns wieder, und die Gefahr ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.« Dann nahm sie das Knäulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und sprach:
»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Mache mich alsbald zum Lüftchen,
Den Gefährten mein zum Mücklein!«
Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen löste sich in Luft aus, der Königssohn aber schwebte darin als Mücklein. Die mächtige Geisterschaar brauste wie ein Sturm über sie hin, und kehrte nach einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister vorüber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das Mädchen, und machte aus der Mücke den Jüngling. »Jetzt müssen wir eilen,« rief das Holdchen, »bevor der Alte selber kommt zu suchen — der wird uns in jeder Verwandlung erkennen.«
Sie liefen nun eine gute Strecke vorwärts, bis sie den dunklen Gang erreichten, in welchem sie bei dem hellen[S 201] Schein des Knäulchens ungehindert emporstiegen. Erschöpft und athemlos kamen sie endlich an den großen Stein. Hier wurde das Knäulchen wiederum dreimal gedreht, wobei die kluge Jungfrau sprach:
»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Laß den Stein empor sich heben,
Eine Pforte sich bereiten!«Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren glücklich wieder auf der Erde. »Gott sei Dank!« rief das Mädchen aus: »wir sind gerettet. Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr über uns, und vor seiner List wollen wir uns hüten. Aber jetzt, Freund, müssen wir uns trennen. Du gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.« — »Mit nichten,« erwiederte der Königssohn: »ich kann mich nicht mehr von dir trennen, du mußt mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, daß du nun auch Freudentage mit mir theilst.« Zwar sträubte sich das Mädchen Anfangs, aber endlich ging sie doch mit dem Jüngling.
Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, daß im Schlosse, wie im ganzen Lande, große Trauer herrsche über das unbegreifliche Verschwinden des Königssohnes, von dem seit Jahren jede Spur verloren sei. Mit Hülfe des Zauberknäulchens schaffte das Mädchen dem heimkehrenden Sohne seine früheren Kleider wieder, damit er vor seinem Vater erscheinen könne. Sie selbst aber blieb einstweilen in einer Bauernhütte zurück, bis der Königssohn Alles mit seinem Vater besprochen hätte.[S 202]
Aber der alte König war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin geschieden: der Kummer über den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges Versprechen und seinen Betrug bereut, daß er dem alten Burschen ein armes unschuldiges Mädchen überlieferte, wofür Gott ihn durch den Verlust des Sohnes gezüchtigt habe. Der Königssohn beweinte, wie es einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und ließ ihn mit großen Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als neuer Herrscher, versammelte seine Räthe und theilte ihnen mit, was für wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen habe, vergaß auch nicht zu erzählen, wie die kluge Jungfrau seine Lebensretterin geworden.
Da riefen die Räthe wie aus einem Munde: »Sie muß eure Gemahlin und unsere Herrscherin werden.«
Als der junge König sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen, erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in königlicher Pracht entgegenkam. Mit Hülfe des Zauberknäulchens hatte sie sich alles Nöthige verschafft, weßhalb auch das ganze Land glaubte, daß sie die Tochter eines unermeßlich reichen Königs und aus fernen Landen gekommen sei. Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und sie lebten darnach glücklich und zufrieden noch manches liebe Jahr.