Vor Zeiten erging sich einmal ein Herr von Pahlen am Strande des Meeres, da sah er auf einem Steine eine Jungfrau sitzen, die bitterlich weinte. Der Herr trat alsbald näher und fragte sie, was ihr fehle, daß sie so bitterlich weine. Die Jungfrau sah ihn eine Weile mit thränenden Augen an, seufzte tief auf, antwortete aber nicht. Da streichelte ihr der Herr sanft Kopf und Wangen und fragte abermals mit liebreicher Rede: »Sage mir deines Herzens Kummer, denn ich frage nicht zum bloßen Zeitvertreib, sondern will, wenn irgend möglich, dir helfen und deine Thränen trocknen.« Die Jungfrau erwiderte weinend: »Du bist ein sterblicher Mensch, darum kannst du mir keine Hülfe bringen, da ich unter einem höheren Gesetze stehe, aber da du freundlich gegen mich warst, so will ich dir meine Noth klagen. Sieh, ich bin des Meervaters[80] einzige Tochter und muß seine Befehle unweigerlich ausführen, wenn mir auch das Herz zu springen droht und die Thränen mir aus den Augen stürzen. Heute morgen erhielt ich den Befehl, vor Abende die Wellen hoch aufschäumen zu machen und sie die Nacht durch im Toben zu erhalten. Denke ich daran, wie viele Schiffe und Menschen da zu Grunde gehen werden, so kann ich mein kummervolles Herz nicht beschwichtigen[81].« Der Herr forschte nun weiter, weßhalb der Meeresvater ein so grauenvolles Spiel liebe, welches Niemandem Nutzen bringe, worauf das Mädchen erwidertet: »Ich glaube, er wirkt die Verzauberung der Wellen lediglich der Windesmutter zum Ergötzen, mit welcher er heimlich[S 173] Freundschaft geschlossen hat und nach deren Pfeife er jetzt tanzen muß. Wenn Jemand den Machtring mir vom Finger ablösen könnte, so daß es mir unmöglich würde die Wellen zu erregen, dann hätte der Vater von mir gar keine Unterstützung, sondern müßte die häusliche Arbeit allein vollbringen.« Der Herr bat, den Ring besehen zu dürfen, und fand daß derselbe ganz in's Fleisch hinein gewachsen war, und daß keine Gewalt ihn abzuziehen vermochte. Nachdem nun der Herr den Machtring eine Zeit lang betrachtet hatte, bat er die Jungfrau, sie möchte ihm erlauben zu versuchen, ob es nicht möglich sei den Ring durchzubeißen. »O, wenn dir das möglich wäre!« rief sie freudig — »dann würde ich dir ewig dankbar sein und dir reichen Lohn für deine Mühe zahlen!« Darauf packte der Herr den Ring kräftiglich mit den Zähnen, die Jungfrau schrie vor Schmerz auf — ein Ruck! und der Ring war mitten durchgebrochen. Jetzt fiel die Jungfrau dem Herrn um den Hals, dankte und reichte ihm den durchgebissenen Ring mit den Worten: »Nimm ihn zum Andenken und verliere ihn ja nicht, er wird dir Glück bringen. Morgen sollst du den Lohn für deine Mühe empfangen.« Dann ging sie singend und hüpfend dem Meere zu, setzte sich auf den Kamm einer Welle und schwamm wie eine Wildgans bald so weit, daß der Herr sie aus den Augen verlor.