Tausend und eine Nacht, Gustav Weil, Seite 1 ( von 1 )
Man behauptet, einst lebte in Indien ein mächtiger König von hoher Statur und starkem Körperbau, sein Name war Kalad. Er gebot über zweiundsiebzig Vizekönige; dreihundert und fünfzig Kadis war die Justizpflege anvertraut, und in seinem Diwan saßen siebzig Veziere, von denen je Zehn einem Obern gehorchten. Über allen siebzig stand aber der Großvezier Schimas, der sowohl bei dem König als bei den übrigen Vezieren sehr beliebt war. Die Regierung diese Königs war sehr mild, denn er liebte seine Untertanen, war sehr wohltätig und erleichterte ihr Abgaben mehr, als alle seine Vorgänger. Er war aber doch sehr missvergnügt, weil er keinen Sohn hatte, der ihm hätte auf dem Throne folgen können. Eines Nachts, als ihn der Schlaf in diesem Gedanken überwältigte, sah er im Träume die Wurzel eines Baumes, aus dem viele Zweige hervorsprossen; dann entstieg dieser Wurzel eine Flamme, welche alle Zweige rund umher verzehrte. Der König erwachte hierauf sehr erschrocken und befahl einem seiner Diener, sogleich den Vezier Schimas zu rufen. Dieser kam schnell herbei und verbeugte sich vor dem König, der auf seinem Bette saß, wünschte ihm dauerndes Glück und sagte: "O König, Gott erhalte dich! was ist dir Unangenehmes widerfahren,, dass du mich plötzlich in der Nacht rufen lässt?" Der König hieß ihn sitzen, erzählte ihm seinen Traum und sagte: "Ich habe dich rufen lassen, weil ich dich als einen großen Gelehrten kenne, der Träume auszulegen versteht." Schimas beugte den Kopf eine Weile und erhob ihn dann wieder lächelnd. Der König bat ihn, ihm zu sagen, was er von diesem Träume halte, ihm aber ja Nichts zu verbergen. Schimas antwortete: "Beruhige dich in Gottes Namen und sei froh, denn ich sehe viel Glück für dich. Gott wird dir einen Sohn bescheren, der nach langem Leben dein Reich erben wird, doch Etwas wird vorfallen, das ich dir jetzt noch nicht mitteilen kann." Der König freute sich sehr und sagte: "Wenn deine Deutung wahr ist, so erkläre mir Alles, damit meine Freude vollkommen sei; mein ganzes Streben geht doch nur nach Gottes Wohlgefallen." Schimas aber suchte allerlei Vorwand, um sich von der gänzlichen Auslegung des Traumes loszusagen. Da ließ der König Astrologen und andere Traumdeuter rufen und bat sie, ihm seinen ganzen Traum auszulegen. Einer von ihnen bat um das Wort und sagte: "O König! dein Vezier Schimas kann den Traum eben so gut deuten, als Einer von uns, aber er scheut sich vor dir; wenn du mir deine Gnade verbürgst, will ich dir enthüllen, was er dir verborgen." Als der König ihm Gnade versprach, sagte er: "Wisse, o König, du wirst einen Sohn zeugen, der dein Reich erben und einige Zeit in deinem Pfade wandeln wird, bald aber wird er treulos gegen seine Untertanen handeln, sein Volk wird missvergnügt werden, und es wird ihm gehen, wie der Maus mit der Katze." Der König rief Gottes Hilfe an und fragte: "Was ist das für eine Geschichte?" Da begann der Traumdeuter: Geschichte der Katze mit der Maus