Der Junge, der sich in einen Löwen, einen Falken und eine Ameise verwandeln konnte
Es war einmal ein Mann, der hatte einen einzigen Sohn; aber er lebte in Armut und Elend. Und als er auf dem Totenbette lag, da sagte er zu seinem Sohne, daß er nichts weiter sein eigen nenne als ein Schwert, ein Tuch und ein paar Brotkrumen, und dies solle er erben. Als der Mann tot war, wollte der Junge hinaus in die Welt, sein Glück zu versuchen. So gürtete er das Schwert um und nahm die Brotkrumen und knüpfte sie in das Tuch; denn sie wohnten oben in einer Einöde, fern von allen Menschen.
Auf seinem Wege mußte er über ein Gebirge. Als er so hoch gekommen war, daß er weit über das Land sehen konnte, erblickte er einen Löwen, einen Falken und eine Ameise, die rings um ein totes Pferd standen und miteinander zankten. Dem Jungen wurde angst und bange, als er den Löwen sah; aber der rief ihn zu sich und sagte, er müsse kommen und den Zwist zwischen ihnen schlichten und das Pferd so teilen, daß jeder das kriegte, was ihm zukäme.
Der Junge nahm sein Schwert und teilte das Pferd, so gut er konnte. Dem Löwen gab er den größten Teil und das Gerippe; der Falke bekam das Herz und Eingeweide und andere Kleinigkeiten; aber die Ameise bekam den Kopf.
Als er dies getan hatte, sagte er: "Jetzt, glaube ich, ist recht geteilt. Der Löwe muß das meiste haben, weil er am größten und stärksten ist, der Falke muß das beste haben, weil er so fein und edel ist, die Ameise soll den Schädel haben, weil sie in Ritzen und Winkel kriecht."
Ja, mit dieser Teilung waren sie alle wohl zufrieden, und sie fragten ihn, was er haben wolle, weil er so gut zwischen ihnen geteilt hatte, "habe ich euch einen Dienst erwiesen und seid ihr damit zufrieden, so ist mir das recht," sagte er, "aber Vezahlung nehme ich nicht." Ja, aber etwas müßte er doch haben, sagten sie. "Willst du nichts andres," sagte der Löwe, "so sollst du wenigstens drei Wünsche haben!" Aber der Junge wußte nicht, was er sich wünschen sollte. Da fragte ihn der Löwe, ob er sich nicht wünschen wollte, sich in einen Löwen verwandeln zu können, und die zwei andern fragten, ob er sich nicht in einen Falken oder eine Ameise verwandeln wollte. Das schien ihm gut und schön, und so wünschte er sich das.
Er warf das Schwert und das Tuch hin, verwandelte sich in einen Falken und begann zu fliegen. Und so flog er, bis er an ein großes Wasser kam. Aber da war er so müde, und die Flügel taten ihm so weh, daß er nicht weiter konnte, und als er einen steilen Felsen sah, der aus dem Wasser emporragte, setzte er sich darauf, um sich auszuruhen. Es schien ihm ein sehr wunderlicher Felsen, und er ging ein Weilchen darauf herum. Aber als er ausgeruht war, verwandelte er sich wieder in einen Falken und flog weiter, bis er zu einem Königsschloß kam. Da setzte er sich in einen Baum vor den Fenstern der Königstochter. Als diese den Vogel sah, bekam sie Lust, ihn zu fangen. Sie Bockte ihn an sich, und als der Falke in das Gemach gekommen war, — husch! — schlug die Königstochter das Fenster wieder zu, nahm den Vogel und setzte ihn in einen Käfig.
Aber nachts verwandelte der Junge sich in eine Ameise und kroch aus dem Käfig, und dann verwandelte er sich wieder in seine Menschengestalt, ging hin und setzte sich zu der Königstochter. Da erschrak sie so sehr, daß sie zu schreien anfing, so daß der König erwachte und hereinkam und fragte was hier los sei.
"Es ist jemand hier!" schrie die Prinzessin. Aber in demselben Augenblick war der Junge schon wieder eine Ameise, kroch in den Käfig und verwandelte sich wieder in einen Falken. Der König konnte nichts sehen, wovor man Angst zu haben brauchte, und so sagte er zu seiner Tochter, daß sie wohl der Alp gedrückt hätte. Aber kaum war er zur Türe draußen, so geschah wieder dasselbe. Der Junge kroch als Ameise aus dem Käfig, wurde wieder Mensch und setzte sich zu der Prinzessin.
Da schrie sie laut auf, und der König kam und wollte wissen, was nun schon wieder los wäre.
"Es ist jemand hier!" schrie die Königstochter. Aber der Junge huschte wieder in den Käfig und saß da als ein Falke. Der König forschte und suchte oben und unten, und als er nichts fand, wurde er zornig, daß er gar keine Nachtruhe finden konnte, und meinte, daß die Prinzessin Narrenspossen treibe, "schreist du noch einmal so," sagte er, "so wirst du schon merken, daß der König dein Vater ist!"
Aber der König war noch nicht ganz bei der Türe draußen, als der Junge schon wieder bei der Prinzessin war. Diesmal schrie sie nicht, obgleich sie solche Angst hatte, daß sie nicht aus noch ein wußte.
Da fragte der Junge, wovor sie sich so fürchtete.
Ja, sie war einem Bergtroll versprochen, sagte sie, und sowie sie das erstemal unter freien Himmel käme, da würde er erscheinen und sie holen. Und als nun der Junge gekommen war, da hatte sie geglaubt, es sei der Bergtroll. Jeden Donnerstagmorgen kam ein Bote von dem Troll, das war ein Drache, dem der König jedesmal, wenn er kam, neun wohlgemästete Schweine geben mußte. Und darum hatte er verkünden lassen, daß, wer ihn von dem Drachen befreie, die Prinzessin und das halbe Königreich bekommen sollte.
Das, sagte der Junge, wolle er schon tun. Und als es morgens hell wurde, ging die Prinzessin zum König und sagte, daß einer da sei, der ihn von dem Drachen und der Steuer befreien wolle. Als der König dies hörte, wurde er sehr froh; denn der Drache hatte so viele Schweine gefressen, daß bald im ganzen Königreich keine mehr übrig wären. Es war gerade ein Donnerstagmorgen, und der Junge zog sogleich dorthin, wo der Drache sich zu zeigen und die Schweine in Empfang zu nehmen pflegte, und einer der Unechte aus dem Königsschlosse zeigte ihm den weg.
Ja, der Drache kam auch, und er hatte neun Köpfe und war so zornig und böse, daß er Feuer und Flammen sprühte, als er seine Schweine nicht sah, und er stürzte auf den Jungen los, als wollte er ihn mit Haut und Haar verschlingen. Aber husch — verwandelte sich dieser in einen Löwen und kämpfte mit dem Drachen und riß ihm einen Kopf nach dem andern ab. Aber der Drache war auch stark, und er spie Feuer und Gift; aber so nach und nach hatte er nur noch einen Kopf übrig, das war der zäheste, und schließlich riß ihm der Junge auch den ab, und dann war es mit dem Drachen aus. Dann ging er zum König, und es herrschte große Freude im ganzen Königsschloß, und der Junge sollte die Prinzessin haben.
Aber als sie einmal im Garten spazierengingen, da kam der Bergtroll selber durch die Luft gefahren, nahm die Königstochter und flog mit ihr davon. Der Junge wollte ihm sogleich nacheilen; aber der König sagte, das sollte er nicht tun, denn er habe jetzt niemand anders mehr, nachdem er die Tochter verloren hatte. Aber da half weder Bitte noch Befehl. Der Junge verwandelte sich in einen Falken und flog davon.
Als er aber die beiden nirgends sah, erinnerte er sich an den wunderlichen steilen Felsen, auf dem er das erstemal grastet hatte. Er ließ sich dort nieder und verwandelte sich in eine Ameise und kroch durch eine spalte des Berges. Als er ein Weilchen gekrochen war, kam er zu einer Türe, die verschlossen war. Aber er wußte schon Rat, wie er hineinkommen sollte: er kroch durchs Schlüsselloch. Da saß eine
fremde Prinzessin und kraute [krauelte?] einen Bergtroll, der drei Köpfe hatte.
"Ich bin schon richtig gegangen," dachte der Junge bei sich selbst; denn er hatte gehört, daß der König schon früher zwei Töchter verloren hatte, die auch von den Unholden geraubt waren. "Vielleicht finde ich die andern auch," sagte er zu sich selbst und kroch durch das Schlüsselloch der nächsten Tür. Da saß eine andre fremde Prinzessin und kraute einen Bergtroll, der sechs Köpfe hatte. Dann kroch er durch noch ein Schlüsselloch, da saß die jüngste Königstochter und kraute einen Bergtroll mit neun Köpfen. Er kroch ihr aufs Bein und biß sie. Da merkte sie, daß das der Junge war, der mit ihr sprechen wollte, und sie bat den Bergtroll, ob sie nicht ein bißchen hinausgehen dürfte.
Als sie herauskam, war der Junge wieder in Menschengestalt, und er sagte ihr, sie solle den Bergtroll fragen, ob sie denn nie von hier fort und heim zu ihrem Vater kommen könne. Dann verwandelte er sich wieder in eine Ameise und setzte sich auf ihren Fuß, und die Königstochter ging wieder hinein und begann den Bergtroll wieder zu krauen.
Als sie das ein Weilchen getan hatte, versank sie in Gedanken. "Du vergißt mich zu krauen; worüber grübelst du?" sagte der Troll.
"Ach, ich grüble, ob ich denn nie von hier fort und heim zu meinem Vater kommen kann!" sagte die Königstochter.
"Nein, dahin kommst du nie," sagte der Bergtroll; "nicht eher, als bis jemand das Sandkorn findet, das unter der neunten Zunge des neunten Kopfes des Drachen liegt, dem dein Vater tributpflichtig war. Aber das findet niemand. Denn kommt dieses Sandkorn über den Berg, so zerspringen alle Bergtrolle, und der Berg wird ein güldenes Schloß und das Wasser zu Wiesen und Feldern."
Als der Junge das hörte, kroch er wieder durch alle Schlüssellöcher und durch die Spalte hinaus auf den Felsen; da verwandelte er sich in einen Falken und flog dorthin, wo der Drache lag. Dann suchte er, bis er das Sandkorn fand unter der neunten Zunge des neunten Kopfes, und flog damit davon. Aber als er an das Wasser kam, wurde er so müde, daß er sich herablassen und auf einen Stein am Strande setzen mußte, wie er so saß, schlummerte er einen Augenblick ein, und unterdessen fiel ihm das Sandkorn aus dem Schnabel hinab in den Strandsand. Dann suchte er drei Tage, bis er es wiederfand. Aber als er es gefunden hatte, flog er schnurstracks zu dem Felsen und ließ es durch die Spalte fallen. Da zersprangen alle Bergtrolle; der Felsen öffnete sich, und da stand ein güldenes Schloß, das war das herrlichste Schloß auf der ganzen Welt, und das Wasser wurde zu den schönsten Feldern und grünen Fluren, die nur jemand sehen konnte.