Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter. Alle drei waren ihm theuer, aber die jüngste von ihnen liebte er doch mehr als die beiden andren, weil sie die schönste war. Einst beabsichtigte der König, gegen ein feindliches Land zu Felde zu ziehen, um es sich zu unterwerfen und die Schlösser seines Königs in Besitz zu nehmen. Ehe er nun in den Krieg zog, fragte er seine Töchter, was er ihnen mitbringen solle, wenn er siegreich aus dem Feldzug zurückkehre. Da sprach die älteste von ihnen: 'Ich wünsche mir, lieber Vater, ein Armband von lauterem Golde.' Die zweite sprach: 'Mir magst du einen schönen Schleier mitbringen.' Die dritte und jüngste aber sagte: 'Ich begehre keine Kostbarkeiten, ich wünsche nur eine Rose.' Hierauf zog der König in den Krieg; und nachdem er die Feinde besiegt hatte, erinnerte er sich der Geschenke für die älteste und für die mittlere seiner Töchter; das für die jüngste dagegen vergass er, weil es so unbedeutend war. Auf der Rückkehr nach seinem Reiche musste er auch über ein Meer fahren. Er bestieg also mit seinen siegreichen Truppen die Schiffe; aber kaum waren sie eine kleine Strecke vorwärts gesegelt, so ward das ganze Meer zu Stein, und die Schiffe standen still. Der König konnte dieses Wunder nicht begreifen. Nach einer Weile aber sagte er: 'Vielleicht ist dieses Uebel uns begegnet, weil ich nicht gedacht habe an das Geschenk für meine schönste Tochter.' Er kehrte daher in das eroberte Land zurück, begab sich in den Garten des königlichen Schlosses, sah sich überall um und suchte eine schöne Rose für seine jüngste Tochter. Es gab deren hier unzählige, aber eine war die schönste von allen. Er trat herzu, um sie abzuschneiden. Aber wie er eben Hand anlegte, vernahm er aus der Erde heraus eine Stimme, die sprach zu ihm: 'Schneide mich nicht ab, oder, wenn du's doch thust, so versprich mir, dass du deine jüngste Tochter für so und so lange Zeit hierher senden willst.' Der König versprach das und schnitt die Rose ab. Hierauf machte er sich wieder auf den Heimweg, fand das Meer diesmal in seinem gewöhnlichen Zustande, gelangte zu Hause an und überreichte seinen Töchtern die gewünschten Geschenke. Indem er aber der jüngsten die Rose gab, theilte er ihr auch gleich die Bedingung mit, unter welcher er sie abgeschnitten hatte. Die nahm die Bedingung an, und schon nach wenigen Tagen reiste sie nach dem Lande ab, aus dem ihr Vater die Rose mitgebracht hatte. Dort angekommen begab sie sich in den Garten des Schlosses, erging sich darin und betrachtete alle die schönen Blumen und reifen Früchte, die hier zu finden waren. Und sie strahlte einer Neraïde gleich, so dass der ganze Garten erglänzte von ihrer Schönheit. Als aber der Abend herankam, ängstigte sie sich; sie suchte einen Menschen, aber nirgends war einer zu sehen. Nach eingebrochener Nacht entschloss sie sich, in den Palast zu gehen, zu dem der Garten gehörte. Sie stieg also die Treppe hinauf, ging durch eine Reihe von Zimmern und suchte einen Menschen. Aber auch hier zeigte sich niemand. Sie ging noch weiter und kam in ein prächtiges Gemach, darin stand ein mit frischen Speisen besetzter Tisch. Da sie hungrig war, so setzte sie sich nieder und ass. Nach Beendigung ihrer Mahlzeit bemerkte sie nebenan ein zweites Gemach, darin befanden sich sehr schöne Möbeln und ein trefflich hergerichtetes Bett. Da legte sie sich nieder und schlief. Am andern Morgen stand sie auf, ging in den Garten, blieb hier bis Mittag und begab sich dann, da sie Hunger verspürte, in das nämliche Gemach, wo sie Tags zuvor gespeist hatte. Nachdem sie darauf den Nachmittag wieder im Garten zugebracht und später ihr Abendbrod eingenommen hatte, legte sie sich schlafen. Um Mitternacht vernahm sie vor der Thür ihres Schlafgemachs eine klagende, rührende Stimme, die rief: 'Oeffne mir, bedauerst du mich denn nicht?' Allein sie öffnete nicht, denn sie fürchtete sich. In der folgenden Nacht hörte sie die nämliche Stimme wieder, welche diesmal rief: 'Lass mich ein, ich thue dir nichts. Ich liebe dich wie meinen Augapfel.' Da öffnete sie die Thür, in dem Glauben, dass irgend ein unglücklicher Mensch bei ihr Zuflucht suche. Aber als sie nun geöffnet hatte, was sah sie da? Eine grosse, furchtbare Schlange, die zischend auf sie zukroch. Die Prinzessin war starr vor Schreck über diesen Anblick, die Schlange aber sprach zu ihr: 'Fürchte dich nicht, liebes Mädchen, ich thue dir nichts. Ich liebe dich.' Darauf entfernte sich die Schlange wieder, kam aber nun jede Nacht zurück und ward allmählich so vertraut mit dem Mädchen, dass dieses, in Ermangelung eines andren Gefährten, ohne Furcht mit ihr spielte und sie liebkoste.