Wär' ich die Luft, um die Flügel zu schlagen,
Wolken zu jagen,
Das wär' ein Leben.
Fr. Rückert.
Den ersten Abend nach Otto's Rückkunft nach Kopenhagen brachte er in Fräulein Sophiens Gesellschaft zu, und das Gespräch drehte sich um seine kleine Reise. »Die schöne Eva ist verschwunden!« erzählte er.
»Sie hatten sich wol schon auf ein Zusammentreffen mit ihr gefreut?« fragte Sophie.
»Keineswegs!« erwiderte Otto.
»Das reden Sie mir vergeblich vor! Sie ist wirklich schön, und besitzt in ihrem Wesen etwas unaussprechlich Zartes, das einen jungen Herrn wohl zu fesseln vermag. Mit meinem Bruder ist es in diesem Punkte ebenfalls nicht ganz richtig. Allein, offen gestanden, hege ich Ihretwegen, Herr Zostrup, doch eine größere Besorgniß. Stille Wasser – Sie kennen ja das Sprichwort! – Sie haben also nach der schönen Eva Nachforschungen angestellt? Diese Mühe hätte ich Ihnen ersparen können. In dem Briefe, welchen ich neulich Abend erhielt, wurde mir ihre Abreise mitgetheilt. Mama hat sie mit nach unserm Gute genommen. Es schien ihr sündhaft, daß das niedliche und unschuldige Mädchen in einem Wirthshause zu Grunde gehen sollte. Der Wirth und die Wirthin haben, da sie auf unserem Gute geboren sind, Mama unendlich lieb, und da Eva unzweifelhaft bei dem Tausche gewinnt, ist die Angelegenheit schnell abgemacht worden. Es ist gut, daß sie unter Mama's Obhut gekommen ist.«
»Das Mädchen ist mir fast völlig gleichgiltig!« entgegnete Otto.
»Fast,« wiederholte Sophie. »Aber wie viel Grad Wärme schließt dieses Fast in sich? ›O Verité! où sont tels autels et tes prêtres?‹« [Fußnote] fügte sie hinzu und erhob lächelnd den Zeigefinger.
»Die Zeit wird Ihnen den Beweis liefern, wie sehr Sie sich im Irrthum befinden!« erwiderte Otto mit großer Ruhe.
Die Frau des Hauses, welche mehrere Besuche abgestattet hatte, kehrte jetzt zurück und erzählte, wie überall nur von den Geisterbriefen gesprochen würde; auch hier wurden sie sofort wieder zum Mittelpunkte des Gesprächs gemacht. Otto war ein sehr fleißiger Gast des Hauses. Die Damen saßen bei seinen Besuchen gewöhnlich an ihren Canevas und stickten Prachtstücke, während ihnen Otto aus den Geisterbriefen vorlas. Darauf begann er den Calderon, bei welchem Sophie etwas Verwandtes mit dem anonymen Dichter entdeckte. Die Dichtungen boten Stoff zur Unterhaltung, und das Alltagsleben schlang seine leichten bunten Bänder dazwischen; kam nun noch Wilhelm hinzu, so mußte er musiciren, und Alle machten die Bemerkung, daß seine Phantasien viel weicher, viel abgerundeter geworden waren. Sein Piano hatte er nach ihrer Behauptung Weysen abgelauscht. Niemand dachte daran, wie viel man von seinem eigenen Herzen lernen kann. Uebrigens war er noch immer derselbe muntre lebensfrohe Jüngling, wie sonst. Niemand verfiel darauf, sich ihn und Eva zusammen zu denken. Seit jenem Abende, an welchem sich die Freunde beinahe verunreinigt hätten, hatte er ihren Namen nie wieder erwähnt; aber es war Otto nicht entgangen, wie Wilhelms Auge bei jeder weiblichen Gestalt, die an ihnen vorüberging, aufflammte, und wie er in Gesellschaften stets den Schönsten seine Huldigungen darbrachte. Otto bemerkte dann wol scherzend, er bekäme wieder seine morgenländischen Gedanken. Oehlenschlägers Helge und Goethes italienische Sonette waren jetzt Wilhelms Lieblingslectüre. Das Ueppige in denselben floß mit den Träumen, die sein heißes Blut erzeugte, zusammen. Eva's Schönheit, nichts als ihre Schönheit, hatte das erste Gefühl bei ihm erweckt. Das sittsame und anmuthige Wesen des armen Mädchens hatten ihn dann noch mehr gefesselt und dahin gebracht, Stand und Verhältnisse zu vergessen. In dem Augenblicke, da er sich ihr zu nähern beabsichtigte, war sie verschwunden. Nun drang das Gift in sein Blut. Sein leichter glücklicher Sinn bewahrte ihn jedoch davor, in Wehmuth und Grübeleien zu versinken; sein Schönheitssinn war erwacht, wie er behauptete. In Gedanken drückte er die Schönheit an sein Herz, nur in Gedanken – und doch auch dies ist, wie die Schrift sagt, Sünde.
Otto dagegen bewegte sich auf den Gebieten der Philosophie und Dichtkunst. Das Schöne in ihnen faßte seine Seele auf; begeistert sprach er es aus, und Sophiens Augen blitzten und ruhten mit Wohlgefallen auf ihm. Das schmeichelte ihm und gab seiner Begeisterung neue Nahrung. Seit vielen Jahren war ihm kein Winter so angenehm, so abwechselungsreich verflossen, wie dieser. Er haschte nach der ihn umgaukelnden Freude, und doch gab es Augenblicke, in denen der Gedanke in ihm aufstieg: »Das Leben fließt dahin, und ich genieße seine Freuden nicht!« Mitten in seinem besten Wohlsein fühlte er sich von einer wunderbaren Sehnsucht nach dem beweglichen Reiseleben ergriffen. Paris stand wie ein leuchtender Glücksstern vor seinen Augen.
»Hinaus in das Leben und Treiben der Welt!« wiederholte er so oft zu Wilhelm, bis auch in diesem derselbe Gedanke erwachte. »Mit Frühlings Anfang reisen wir!« – Pläne wurden entworfen, die Umstände fügten sich günstig. So sollten denn mit der Wiederkehr des Lenzes, im April, die glücklicheren Tage beginnen. »Wir fliegen nach Paris,« sagte Wilhelm, »fliegen der Freude und Fröhlichkeit entgegen!«
Diese waren freilich auch in der Heimat zu finden und ließen sich finden. Wir wollen den Abend festhalten, der sie brachte. Vielleicht können wir daselbst noch mehr als Freude und Fröhlichkeit finden.