Heske. Hast du Syrup in den Kaffee gethan?
Heinrich. Ja, gewiß.
Heske. Seid dann so freundlich, ihr lieben Damen, vorlieb zu nehmen.
Holbergs politischer Kannengießer.
Lemvig liegt bekanntlich an einem Arme des Limfjords. Die Sage erzählt, daß hier im schwedischen Kriege ein Trupp feindlicher Reiter einen Bauer zwang, sich zu Pferde zu setzen und ihnen den Weg zu zeigen. Als die Dunkelheit einbrach, befanden sie sich schon auf den hohen Sandbänken. Der Bauer ritt auf einen steilen Abhang zu; von hier aus bemerkten sie in einem Gehöfte jenseits des Fjords ein Licht. »Das ist Lemvig!« rief der Bauer, »laßt uns nun eilen!« Mit diesen Worten gab er seinem Pferde die Sporen, die Schweden folgten seinem Beispiele und Alle stürzten in den Abgrund hinab. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen. In der Sage und in den Liedern der Dichter ist dem braven Lemviger Bauern sein Denkmal errichtet, und solche Denkmäler dauern am längsten. Dadurch erhielt der kahle Abhang eine geistige Schönheit, die sich dreist mit dem sonst schönen Blick über die Stadt und den Fjord hinweg messen konnte.
Rosalie und Otto fuhren in die Stadt hinein. Nur zwei Jahre waren seit seiner letzten Anwesenheit hierselbst vergangen, aber in dieser kurzen Zeit schien alles zusammengeschrumpft zu sein. Alles, was sich seinen Blicken zeigte, kam ihm eng und klein vor. Seine Erinnerung hatte ihm Lemvig stets in ganz anderer Größe dargestellt.
Jetzt hielten sie vor dem Hause des Kaufmanns. Der Eingang führte durch den Laden, dessen Wände voller Holzschuhe, wollener Handschuhe und Eisengeräth hingen. Dicht neben der Thür standen zwei Fässer mit Theer. Ueber dem Ladentische schwebte ein ausgestopfter seltener Fisch, und neben ihm hatte eine ganze Reihe Hüte zum Gebrauche für beide Geschlechter ihr Unterkommen gefunden. Der Handel, dem der Sohn des Hauses vorstand, wurde en gros und en detail betrieben. Der Vater selbst war Nummer Eins in Lemvig, er hatte Schiffe auf der See und machte, wie es in der Gegend hieß, ein feines Haus.
Die Stubenthür ging auf, und die Frau des Hauses, eine corpulente vierschrötige Erscheinung mit einem ehrlichen heiteren Gesichte, trat in eigener Person heraus und empfing ihre Gäste mit Küssen und Umarmungen; leider läßt sich ihr gutmüthig klingender jütländischer Dialect in der Schriftsprache nicht wiedergeben.
»Nein, wie prächtig ist es doch, daß die Mamsell uns besucht und Herrn Zostrup mitbringt! Wie schön und groß er geworden ist! An der Thür ist noch sein Maß zu sehen!« und dabei zog sie Otto hin. »Ueber eine ganze Viertelelle ist er emporgeschossen!«
Er betrachtete alle Gegenstände rings umher.
»Ja,« sagte sie, »seit Sie zum letzten Male hier waren, ist jenes Instrument dort angeschafft worden. Maren hat es von ihrem Bruder erhalten. Sie werden ja hören, wie sie singt. Es ist ganz erschrecklich, was für eine Brust sie hat! Letzte Pfingsten sang sie mit dem Musikverein in der Kirche; ich konnte ihre Stimme durch die Orgelklänge hindurch hören!«
Otto näherte sich dem Sopha, über welchem eine große und höchst eigenthümliche Stickerei in einem prächtigen vergoldeten Rahmen hing.
»Das ist Marens Modelltuch,« erklärte die freundliche Wirthin. »Es ist sehr hübsch. Sehen Sie, da finden Sie alle unsere Namen. Können Sie wol errathen, Herr Zostrup, was das Uebrige vorstellen soll? Hier sind sämmtliche Zahlen, und zwar in Hohlstichen genäht. Das Schiff dort ist die Jacht Mariane, die ihren Namen nach mir erhalten hat. In jener Ecke ist Lemvigs Wappen angebracht: ein Thurm, der auf Wellen steht, und an der andern Ecke steht in gleichen und ungleichen Stichen: »Maren, den 24. October 1828.« Ja, seit Vollendung dieser Arbeit sind schon zwei Jahre vergangen. Jetzt hat sie ein Sophakissen gestickt, das einen Türken darstellt. Es machte die Runde durch die ganze Stadt, denn Alle wollten es gar zu gern sehen! Es ist ganz erschrecklich, wie Maren ihre Hände zu brauchen versteht!«
Rosalie erkundigte sich nach dem vortrefflichen Mädchen.
»Sie ist mit einigen Vorbereitungen beschäftigt!« antwortete die Mutter. »Heute Abend besuchen uns einige gute Freunde. Der Secretär kommt ebenfalls und wird mit Maren musiciren. Sie werden in Kopenhagen freilich weit Schöneres gehört haben, denn unsere musikalischen Leistungen sind sehr einfacher Natur, aber sie singen doch wenigstens nach Noten, und ich hoffe auch, daß der Secretär seine Spieldose mitbringen wird. Die ist unübertrefflich! Neulich sang er ein Liedchen zu der Dose; das klang niedlicher, als wenn er sich auf dem Instrument begleitet hätte. Ich muß Ihnen nämlich nur sagen, daß er nicht die starke Brust hat wie Maren!«
Erst bei Tische versammelte sich die ganze Familie. Die beiden Personen, welche die untersten Plätze einnahmen, schienen am meisten auf Originalität Anspruch machen zu können. Es war der Ladendiener und die Tante. Diese Beiden hatten nur beim Mittagstische die Ehre, mit der Familie in Berührung zu kommen; von den Abendgesellschaften waren sie ein- für allemal ausgeschlossen. Der Ladendiener, welcher in seinem Laden der Erste war und dort ganz gut zu plaudern verstand, saß hier, das Haar nach der einen Seite gekämmt, schüchtern und befangen da und wußte nicht, was er mit seinen rothen aufgeschwollenen Händen anfangen sollte. Nicht ein Sterbenswörtchen entschlüpfte seinen Lippen. Der Frau vom Hause beim Eintritt in das Zimmer und bei Aufhebung der Mahlzeit die Hand zu küssen, war alles, was er außer dem Essen that.
Die Tante, wie sie nicht nur von der Familie, sondern von der ganzen Stadt genannt wurde, war zwar eben so wortkarg, zeigte aber beständig ein lächelndes Gesicht. Ein geblümtes Mützchen von rothem Kattun schloß sich eng um das magere Gesicht, dem die hervortretenden Kinnbacken und die herabhängende Unterlippe etwas ungemein Charakteristisches verliehen. »Sie diente,« wie sich die Frau des Hauses ausdrückte, »als Stütze im Hauswesen, konnte aber an feiner Gesellschaft nicht Theil nehmen.« Nie konnte sie es der Tante vergessen, wie sie am Reformationsfeste, wo nur der Musikverein in der Kirche sang, aus ihrem Gesangbuche mitzusingen begann, so daß der Küster sie bitten mußte, zu schweigen. Nun aber gerieth sie in sittliche Entrüstung und behauptete, sie hätte eben so gut wie die Andern das Recht, ihren Gott zu preisen, und nun sang sie Allen zum Trotz erst recht. Wäre sie nicht die Tante und ein Mitglied einer so hervorragenden Familie gewesen, so würde man sie bestimmt hinausgewiesen haben.
Heute war sie die Letzte, welche sich zum Essen einfand und am Tische Platz nahm. Eine halbe Stunde hatte man nach ihr suchen müssen, ehe man sie finden konnte. Sie hatte am äußersten Ende des Gartens vor dem hölzernen Gitter gestanden. Auf der Wiese dicht vor dem Garten hatte man Heu gemacht und in einen Schober gestellt. Um diesen besser betrachten zu können, war sie bis an das Gitter herangetreten. Der süße Duft des Heu's, den sie begierig einsog, hatte sie in eine angenehme Stimmung versetzt, glückselig hatte sie die Kinnbacken zwischen die Stäbe des Gitters gesteckt und nun war sie während ihres bewundernden Anschauens des Schobers in Gedanken, oder eigentlich richtiger, aus den Gedanken gefallen. Man fand sie und schüttelte die Träumende, bis wieder Bewegung in ihre Glieder zurückkehrte. Jetzt war sie ziemlich lebhaft und lachte, so oft Otto sie anblickte. Letzterem war sein Platz am oberen Ende des Tisches zwischen der Frau des Hauses und Maren angewiesen worden. Diese war ein recht niedliches Mädchen, klein, etwas wohlbeleibt, weiß und roth und zierlich gekleidet. Nur ein Ueberfluß an Schleifen und gar zu viele abstechende Farben waren ihre schwache Seite. In dieser Zeit las sie »Kabale und Liebe.«
»Dieses Schauspiel liesest du ja deutsch!« sagte die Mutter. »Es soll ein herrliches Stück sein! Ich kann zwar ganz gut deutsch sprechen, wenn ich es aber lesen soll, so geht es mir zu langsam, und ich will immer gern das Ende des Buches wissen!«
Der Hausvater nahm den obersten Platz am Tische ein. Ein schwarzes Sammetkäppchen saß glattaufliegend auf seinem grauen Haar, und aus seinen Augen leuchteten Witz und Klugheit. Mit gefalteten Händen betete er still für sich und neigte darauf das Haupt nach allen Seiten, bevor angerichtet werden durfte. Er hatte Rosalie zu Tische geführt. Ihr Nachbar zur Rechten schien sehr beredt. Es war ein alter Soldat, der in seinem vierzigsten Jahre als Lieutenant seinen Abschied genommen und die Erlaubniß erhalten hatte, die Uniform tragen zu dürfen, weshalb er in einer Art militärischem Waffenrocke und mit steifer Halsbinde dasaß. Er befand sich schon mitten in dem Ministerium Polignac und in dem Triumphe der Julitage, hatte aber das Unglück, beständig Lafitte und Lafayette mit einander zu verwechseln. Der Sohn des Hauses sprach wieder nur von Stierkälbern. Seine Tischnachbarin war ein kleines Fräulein aus Holstebrø, die, wie eine Confirmandin geputzt, in schwarzseidenem Kleide, über welches ein langer rother Shawl herabfiel, neben ihm saß. Sie war in großer Toilette, da sie zum Besuche war. Uebrigens verstand sich die junge Dame auf die Schneiderei und konnte die Flöte blasen, was sie jedoch nur mit einer gewissen Verschämtheit that; außerdem sprach sie gut, namentlich über traurige Begebenheiten. Die Weinflasche kreiste nur am oberen Ende des Tisches; der Ladendiener und die Tante tranken Bier, aber es schäumte herrlich, da es auf Rosinenstengel abgelagert war.
»Der Comptoirchef, welchen Sie zum Curator erhalten haben, Herr Zostrup, ist ein braver Mann!« bemerkte der Herr des Hauses. »Ich stehe mit ihm in vielfacher Verbindung.«
»Auffallend ist es jedoch,« unterbrach ihn seine Gattin, »daß bis jetzt nur eine seiner fünf Töchter verlobt ist. Gehen die Mädchen in Kopenhagen nicht besser ab, was soll man dann erst bei uns sagen?«
»Nun, Herr Zostrup wird sich wol einer derselben erbarmen,« meinte der Vater. »Dort ist Geld und Ihnen fehlt es ja ebenfalls nicht an Vermögen. Erhalten Sie dann noch ein Amt, so können Sie in floribus leben!«
Maren erröthete, obgleich keine Ursache zum Erröthen vorhanden war. Sie schlug sogar die Augen nieder.
»Was soll wol Herr Zostrup mit einer von diesen?« ergriff die Frau des Hauses wieder das Wort. »Er muß sich ein jütländisches Mädchen wählen! Es gibt auf den Gütern hier herum ja genug hübsche Fräulein!« fügte sie hinzu und legte ihm das beste Stück auf den Teller.
»Werden auf der königlichen Bühne hübsche Opern aufgeführt?« fragte Maren und lenkte das Gespräch damit auf einen andern Gegenstand.
Otto zählte verschiedene Stücke auf, unter andern auch den Freischütz.
»Darin soll es gräßlich zugehen!« versicherte der Lieutenant. »Die Wolfsschlucht soll ganz natürlich sein, mit einem Wasserfall und einer Eule, die mit den Flügeln schlägt. Bürgermeisters Mimi hat von einem jungen Mädchen in Aarhuus, das in Kopenhagen gewesen ist und das Stück gesehen hat, darüber schriftliche Nachrichten erhalten. Es war so schrecklich, daß sich ihre Freundin die Augen zuhalten mußte und beinahe ohnmächtig geworden wäre. Das Theater muß dort wirklich prächtig sein!«
»Ja, aber unser kleines Theater war doch auch ganz nett!« fiel die Hausfrau ein. »Es ist sehr zu beklagen, daß das Liebhabertheater eingehen mußte. Ich erinnere mich des letzten Stückes, welches wir gaben, noch ganz genau. Es hieß: »Die Zerstreuten.« Ich war damals gerade krank. Da ich es gar zu gern sehen wollte, hatte das ganze Personal die Aufmerksamkeit, es noch einmal aufzuführen, und zwar hier im Saale, wo ich auf dem Sopha liegend zusah. Es war in der That eine außerordentliche Artigkeit von den Mitgliedern, die ich ihnen um so höher anrechne, da selbst der Herr Bürgermeister mitspielte!«
Den Fremden zu Ehren sollte der Kaffee nach Tische im Garten eingenommen werden, wo unter den Pflaumenbäumen eine Schaukelbank aufgestellt war. Daran sollte sich später eine Segelfahrt auf dem Fjord schließen. Eine kleine Jacht des Kaufmanns lag eben ausgeladen an der Schiffbrücke.
Otto fand Maren und das junge Mädchen von Holstebrø in der Laube sitzend. Erschrocken suchten sie bei seinem Eintritte etwas zu verbergen.
»Die Damen haben Geheimnisse! Darf man in dieselben nicht eingeweiht werden?«
»Nein, um alles in der Welt nicht!« versetzte Maren.
»Jenes kleine Buch enthält sicherlich abgeschriebene Gedichte!« sagte Otto und näherte sich kühn. »Vielleicht eigene Dichtungen?«
»O, es ist nur mein Album!« entgegnete Maren erröthend. »Wenn ich etwas wahrhaft Schönes lese, so schreibe ich es mir ab, da wir die Bücher nicht behalten können.«
»Dann darf ich es wol ansehen?« fragte Otto. Sein Auge fiel auf die Worte:
»So fließen nun zwei Wasser
Wol zwischen mir und dir.
Das eine sind die Thränen,
Das andere ist der See!« [Fußnote]
»Das ist sehr schön!« sagte er, nachdem er den Vers laut gelesen hatte. »Der verlorene Schwimmer« heißt das Gedicht. Nicht wahr?«
»Ja, ich habe es aus dem Album des Secretärs abgeschrieben; es enthält gar viele reizende Gedichte.«
»Der Secretär hat ja über viele Schätze zu gebieten!« sagte Otto lächelnd. »Album, Spieldose ...!«
»Und auch eine Wappensammlung besitzt er!« fügte die junge Dame aus Holstebrø hinzu.
»Ich muß noch mehr lesen!« meinte Otto, allein die Damen flüchteten sich mit glühenden Wangen.
»Machen Sie mir die Mädchen nicht scheu!« redete ihn die Wirthin an, die in diesem Augenblicke in den Garten trat. »Sie können sich nicht denken, wie sehr sich Maren nach Ihnen gesehnt, wie viel sie von Ihnen gesprochen hat. Nicht ein einziges Mal haben Sie an uns geschrieben. Nur, wenn uns Mamsell Rosalie einige Mittheilungen aus Ihren Briefen machte, erfuhren wir etwas von Ihnen. Das ist wirklich nicht hübsch! Sie und Maren wurden doch immer mit einander geneckt. Sie waren ein paar bildhübsche Kinder, und jetzt, als Erwachsene, sind Sie Beide auch nicht häßlicher.« –
Schon um vier Uhr versammelte sich die Abendgesellschaft, ein ganzer Schwarm junger Damen, einige alte Jungfern und der vielbesprochene Secretär, der sich durch eine wahre Sammlung von Petschaften, welche ihm, an einer langen Uhrkette befestigt, unaufhörlich an den Leib schlugen, ferner durch einen blendend weißen Busenstreif, steifen Halskragen und einen förmlichen Hahnekamm, in welchem jedes einzelne Haar in eine besondere affectirte Lage gebracht zu sein schien, bemerklich machte. Sie wanderten Alle nach dem Fjord hinab. Otto war durch einige Geschäfte aufgehalten worden. Indem er, um der Gesellschaft nachzueilen, allein über den Hof schritt, vernahm er aus dem Hinterhause ein entsetzlich wildes Geschrei, welches in ein heiseres Schluchzen überging. Erschrocken trat er näher und sah nun zu seiner Ueberraschung, wie die Tante mitten in einem großen Torfhaufen dasaß. Die delphische Priesterin hätte unmöglich verstörter aussehen können. Sie hatte sich die Mütze vom Kopfe gerissen, wild flatterte ihr das lange graue Haar um die Schultern, und wie ein eigensinniges Kind stampfte sie mit den Füßen auf den Torf, daß die Stücke nach allen Seiten umherflogen. Als sie Otto gewahrte, wurde sie augenblicklich ruhig, dann aber preßte sie plötzlich ihre mageren Hände vor das Gesicht und begann laut zu schluchzen. Aus ihrem eigenen Munde zu hören, was ihr denn zugestoßen wäre, daran war gar nicht zu denken.
»Das hat weiter nichts zu sagen,« versicherte die Dienstmagd, an welche Otto sich wandte, »sie hat nur ihren Raptus! Tante ist böse, weil sie nicht zur Mitfahrt aufgefordert ist. So treibt sie es immer; sie kann schrecklich boshaft werden. Als sie mir neulich helfen sollte, die Laken auswringen, drehte sie dieselben beständig nach der nämlichen Seite wie ich, so daß wir nie fertig werden konnten und ich mir die Hände wund rieb.«
Otto wandelte nach dem Fjord hinunter. Das Segel wurde aufgehißt, der Secretär holte seine Spieldose hervor, und unter ihren Klängen glitt man in dem brennenden Sonnenschein über das Wasser dahin.
An dem andern Ufer sollte Thee getrunken werden und nach demselben Maren sich hören lassen. Die Mutter bat sie um das Lied mit den starken Tönen, damit Otto hören könnte, was für eine Brust sie hätte.
Sie trug ihr Lieblingslied »Dannevang« vor. Ihre Stimme hatte in der That eine ungewöhnliche Stärke, aber es fehlte ihr sowol an Schule, wie an Vortrag.
»Eine solche Stimme haben Sie, meinem Bedünken nach, nicht bei dem Theater in Kopenhagen!« bemerkte der Secretär mit absprechendem Ernste.
»Eine solche Brust möchten sich die Opersängerinnen wünschen!« sagte der Lieutenant beistimmend.
Nun sollte der Secretär singen, der aber eine Erkältung vorschützte. Daran litt er indeß beständig.
»Sie müssen zur Dose singen!« entschied die Wirthin, und ihrem Ausspruche fügte er sich. Hätte Maren ihn begleitet, so würde man es für ein Spiel zwischen Boreas und Zephyr haben halten können.
Nun wurde ein wenig promenirt, abermals Thee getrunken und dann wurde die Heimfahrt angetreten, um zu Hause noch einen kleinen Imbiß, Fisch, Braten, eine Scheibe gekochten Schinken und andere gute Sachen zu sich zu nehmen.
Schon am nächsten Morgen an die Abreise zu denken, konnte Otto unter keinen Umständen gestattet werden. Einige Tage sollte er noch hier bleiben und Kräfte zu dem bevorstehenden Herbstexamen in Kopenhagen sammeln. Allein er wollte nur für einen einzigen Tag alle die Freundlichkeiten annehmen, mit denen man ihn hier überhäufte. Er sehnte sich nach anderen Menschen, nach einer geistreicheren Umgebung. Noch vor zwei Jahren hatte er sich in diesem Kreise wohlbefunden, war er ihm interessant und geistvoll vorgekommen, jetzt aber wurde in ihm das Gefühl vorherrschend, daß Lemvig doch nur eine kleine Stadt wäre, deren biederen braven Bewohnern jedes Interesse für etwas Höheres fehlte.
Der folgende Tag brachte wieder eine prächtige Schmauserei, leckere Speisen, feine Weine. Es geschah, wie ausdrücklich bemerkt wurde, Herrn Zostrup zu Ehren. Es wurde auf sein Wohl getrunken, Maren wurde zutraulicher, Tante hatte ihren Kummer vergessen und saß mit lächelnder Miene neben dem verlegenen Ladendiener. Uebrigens mußte man sich heute mit der Tafel ein wenig beeilen, da die Stadtspritze probirt werden sollte, und Otto, da es sich eben so glücklich traf, nicht um diese Augenweide kommen durfte.
»Wie kannst du aber nur glauben, Mutter, daß dies Herrn Zostrup Vergnügen macht?« sagte Maren. »Daran ist doch wahrlich nichts zu sehen!«
»Es hat ihm doch sonst immer Vergnügen gemacht!« versetzte die Mutter. »Es ist auch wirklich ein gar zu lächerlicher Anblick, wenn die Jungen unter dem Spritzenregen umherlaufen und sie der Strahl gerade in den Nacken trifft.« Darauf verglich sie Otto's früheres und sein jetziges Benehmen. Er hätte so großstädtische Manieren, wäre sowol im Schnitt seiner Kleider, als in seinem ganzen Wesen so fein und nett geworden. Trotzdem fand sie Gelegenheit, ihm einen kleinen Wink zu noch größerer Feinheit zu geben. Man denke nur! Er erlaubte sich den weißen Zucker zum Kaffee mit den bloßen Fingern zu nehmen!
»Aber wo in aller Welt ist denn die Zuckerzange, die Zuckerzange von massivem Silber?« fragte sie. »Maren, wie kannst du ihn nur den Zucker mit den Fingern nehmen lassen?«
»Das ist bequemer!« erwiderte Otto unbefangen. »Das thue ich stets!«
»Wenn nun aber Fremde hier gewesen wären!« sagte die Frau des Hauses in freundlich belehrendem Tone, »so hätte ich es wie jene vornehme Dame machen müssen, die, wie Sie wissen werden, den Zucker zum Fenster hinauswerfen ließ.«
»In den höheren Gesellschaften, in denen man reine Finger hat, pflegt man sich dieser zu bedienen,« versetzte Otto. »Bei dem steten Gebrauch der Zange würde man nie zu Ende kommen.«
»Sie ist von massivem Silber!« wandte die Mutter halb entschuldigend ein und wog sie in der Hand.
Gegen Abend suchte Rosalie die Pflaumenanlage im Garten auf. »Diese Bäume,« sagte sie zur Erklärung, »erinnern mich ebenfalls an meine Berge. Diese Frucht ist die einzige, die dort noch gut fortkommt. Lemvig liegt wie Le Locle in einem Thale!« Lächelnd deutete sie dabei auf die sich rundum erhebenden Sandhügel. »In allem Uebrigen ist aber ein großer Unterschied zwischen dem hiesigen Aufenthalte und dem auf deines Großvaters Gute. Dort war ich so an die Einsamkeit gewöhnt, daß es mir hier fast zu lebhaft ist. Eine Zerstreuung reiht sich an die andere!«
Auch Otto konnte sich damit nicht befreunden. Die Kleinstädterei widerte ihn an; er konnte an diesem Treiben kein Gefallen finden, am allerwenigsten an demselben Theil nehmen.
Früh am folgenden Morgen wollte er aufbrechen. Alle behaupteten aber, die Fahrt auf dem sandigen Wege in der Sonnenhitze würde zu ermüdend sein, und forderten ihn auf, die kühlen Abendstunden abzuwarten, zumal eine Nachtreise weit angenehmer wäre. Rosaliens Bitten gaben den Ausschlag. Also erst nach dem Mittagstische und dem Kaffee sollte angespannt werden.
Es war der letzte Tag. Maren war etwas ernst gestimmt. Otto mußte sich in ihr Stammbuch einschreiben, denn nun würde er wol, meinte sie, nie wieder nach Lemvig kommen. Als Kinder hätten sie doch schon mit einander gespielt. Seit seiner Übersiedlung nach Kopenhagen habe sie manchen Abend auf der Schaukelbank neben der Laube gesessen und seiner gedacht. – Wer weiß, ob sie es nicht auch gethan hatte, als sie aus des Secretärs Album die Verse abschrieb:
»So fließen nun zwei Wasser
Wol zwischen mir und dir!«
»Maren kommt vielleicht zum Winter nach Kopenhagen!« erzählte ihre Mutter, »indeß dürfen wir noch nicht laut davon reden, weil es noch nicht fest abgemacht ist. Die Reise würde wirklich zu ihrer Aufheiterung viel beitragen. Es hat sich ihrer in der letzten Zeit eine sehr trübe Stimmung bemächtigt, obgleich Gott mein Zeuge ist, daß wir ihr kein Vergnügen versagen.«
Nun langte ein wahrer Berg von Briefen an, die Otto von den verschiedensten Bekannten, und wieder von deren Bekannten mit der Bitte zugeschickt wurden, ob Herr Zostrup nicht die Güte haben wollte, diese nach Viborg, jene nach Aarhuus und die übrigen nach Kopenhagen zu besorgen. Eine ganze Ladung war zusammengekommen, denn noch immer pflegt man leider in den Städten die Reisenden mit dergleichen Aufträgen zu behelligen, als ob es keine Posten gäbe.
Der Wagen hielt vor der Thüre.
Rosalie brach in Thränen aus. »Schreibe mir!« sagte sie. »Dich selbst werde ich wol nie wieder sehen! Grüße meine Schweiz, wenn du hinkommst!«
Die Andern waren guter Dinge. Marens Mutter sang:
»O könnt' ich mit den Wolken eilen!«
Die junge Dame von Holstebrø verneigte sich vor Otto mit einem Stammbuchblatte in der Hand und bat ihn um einige Zeilen der Erinnerung. Maren reichte ihm die Hand, erröthete und zog sich zurück; als sich aber der Wagen in Bewegung setzte, fächelte ihr weißes Taschentuch aus dem offenen Fenster: »Lebe wohl! Lebe wohl!«