Familienangelegenheiten, Sorgen, Enttäuschungen und Trübsal
Mrs. Nickleby hatte Madelines ganze Geschichte von ihren Kindern, soweit Nikolas und Kate sie selbst kannten, gehört, und Nikolas hatte ihr genau auseinandergesetzt, in welcher verantwortlichen Stellung er sich befände, und sie auf die Möglichkeit vorbereitet, die junge Dame in ihrem Hause aufnehmen zu müssen. Trotzdem war alles der guten Frau von dem Augenblick an, wo man sie ins Vertrauen gezogen, so unerklärlich und geheimnisvoll, daß sie kaum begriff, um was es sich in den Hauptzügen handelte.
»Du lieber Himmel, Kate«, jammerte sie immer wieder, »wenn die Herren Cheeryble nicht haben wollten, daß das Mädchen heiratet, warum haben sie nicht eine Klage gegen den Lordkanzler angestrengt oder sie der Vormundschaft des Kanzleigerichts übergeben oder sie der Sicherheit wegen in das Fleet-Gefängnis eingeschlossen? Ich habe von dergleichen Maßregeln doch schon hundertmal in Zeitungen gelesen. Oder, wenn sie die junge Dame so gern haben, wie Nikolas behauptet, warum heiraten sie sie nicht selber? – Ich meine natürlich einer von ihnen. Und angenommen, es sei ihnen wirklich nicht recht, daß sie sich vereheliche, und sie sie selber schon nicht heiraten wollen, warum, um Gottes willen, läuft Nikolas auf der Straße herum und stört fremde Hochzeiten?«
»Mir scheint, du hast die Sache immer noch nicht recht begriffen«, wendete Kate ein.
»So? Wirklich? Das ist ja recht höflich von dir, liebe Kate«, versetzte Mrs. Nickleby vorwurfsvoll. »Ich dächte doch, ich wäre selbst auch einmal verheiratet gewesen und hätte so manche andere Menschen ebenfalls heiraten sehen. Ich hätte es nicht verstanden? Da hört sich alles auf!«
»Ich zweifle nicht im geringsten, daß du eine sehr welterfahrene Frau bist, liebe Mama«, entschuldigte sich Kate, »aber trotzdem denke ich, daß du die Umstände hier nicht ganz begriffen hast. Wir werden sie dir wahrscheinlich etwas übereilt mitgeteilt haben.«
»Das ist allerdings sehr wahrscheinlich«, lenkte Mrs. Nickleby rasch ein; »aber dann trifft natürlich mich keine Schuld. Da aber die Umstände für sich selbst sprechen, so möchte ich mir doch erlauben, mein Kind, dir zu sagen, daß ich sie vollständig begreife, wie sehr auch du und Nikolas anderer Meinung zu sein scheinen. Warum wird nur so viel Aufhebens gemacht, weil diese Miss Madeline da einen Mann heiraten soll, der viel älter ist als sie? Auch dein seliger Vater war älter als ich. – Viereinhalb Jahre! Miss Jane Dibabs – ihre Familie wohnte in einem allerliebsten kleinen einstöckigen weißen Haus mit einem Strohdach, das ganz mit Efeu und Schlingpflanzen bewachsen war, und einem wunderhübschen Portal und allem, was sonst noch dazugehört, davor, und wenn wir an Sommerabenden dort Tee tranken, so fielen uns die Ohrwürmer nur so in die Tassen hinein, und die Frösche hüpften uns in den Schoß und sahen uns, ach Gott, so klug an aus ihren großen Augen wie wirkliche Menschen –, also Jane Dibabs heiratete einen Mann, der weit älter war als sie und ließ sich durch nichts abbringen, ihm zum Traualtar zu folgen. Sie liebte ihn über alle Maßen. Siehst du, mit Jane Dibabs wurde gar kein Wesens gemacht. Ihr Gatte war ein höchst ehrenwerter und vortrefflicher Mann, und alle Welt sprach nur Gutes von ihm. Warum also bei dieser Madeline da solche Umstände?«
»Der ihr bestimmte Gatte ist weit älter als sie, er ist ein Greis; er ist außerdem überall verhaßt und durchaus kein ehrenwerter oder vortrefflicher Mann«, gab Kate zu bedenken; »der Fall ist also doch wohl sehr verschieden.«
Mrs. Nickleby erwiderte darauf nur spitz, sie müsse wahrscheinlich sehr dumm sein, da ihre eigenen Kinder ihr dies jeden Tag vorhielten. Sie sei doch immerhin ein bißchen älter als Kate und Nikolas, und die Leute, die dächten, sie müsse dergleichen wohl besser wissen, seien wohl auch sehr töricht. Natürlich habe sie ja immer unrecht! Selbstverständlich! – Recht könne sie ja nie haben, und sie tue wohl am klügsten, überhaupt still zu schweigen. Eine ganze Stunde lang bemühte sich Kate, sie auszusöhnen und ihr den richtigen Standpunkt vor Augen zu führen, aber immer wieder bekam sie die spitzigen Worte zu hören: schon recht – ganz recht – warum fragt ihr mich überhaupt – meine Meinung hat ja kein Gewicht, was ich sage, wird doch nicht beachtet, und so weiter.
So stand die Sache noch immer, und Mrs. Nickleby gab ihrer Verstimmung nur zuweilen durch ein Kopfnicken, einen zum Himmel gerichteten schmerzlichen Blick und ein leichtes Geseufz, das sie, wenn sie sich vom Dienstmädchen bemerkt sah, in ein kurzes affektiertes Hüsteln verwandelte, kund, als die Geschwister mit Madeline zurückkehrten. Immerhin hatte sie jedoch inzwischen über das Schicksal der jungen und schönen Dame ein wenig genauer nachgedacht und nachgerade Interesse daran genommen. Sie wandte Madeline daher jetzt nicht nur ihre eifrigste Aufmerksamkeit zu, sondern tat sich auch ungemein viel darauf zugute, das von ihrem Sohn eingeschlagene Verfahren von Anfang an gelobt zu haben. Dabei ließ sie fallen, alles wäre längst anders, wenn man rechtzeitig auf ihren weisen Rat gehört hätte.
Ob sich die Sache nun auch wirklich so verhielt oder nicht, jedenfalls hatte sie später allen Grund, sich Glück zu wünschen, denn die Gebrüder Cheeryble waren nach ihrer Rückkehr über Nikolas' Handlungsweise voller Lob und legten so viel Freude über die veränderte Sachlage an den Tag, zumal die junge Dame von so schwerem und drohendem Mißgeschick erlöst sei, daß Mrs. Nickleby ihrer Tochter des öfteren wiederholte, sie sähe das Glück der Familie als »so gut wie gemacht« an. Mr. Charles Cheeryble habe, wie sie bestimmt versicherte, in seiner ersten Freude und Überraschung dieselben Worte gebraucht, und sie halte sich daher für vollkommen überzeugt, daß die Angelegenheiten der Familie vortrefflich stünden.
Der plötzliche und schreckliche Schlag, dazu die Nachwirkung des furchtbaren Seelenkampfes, den sie durchgemacht, war zuviel für Madelines Kräfte, und sie verfiel in eine gefährliche Krankheit, die eine Zeitlang ihren Verstand und ihr Leben bedrohte. Nur sehr allmählich genas sie unter Kates zartsinniger und teilnehmender Pflege.
»Mein liebes Kind«, pflegte Mrs. Nickleby zu Kate zu sagen, wenn sie mit einer so ausgesuchten Vorsicht ins Zimmer trat, daß es die Nerven eines Patienten mehr angreifen mußte, als wenn ein Reiter in vollem Galopp hereingesprengt wäre, »wie geht es Madeline heute abend? Ich hoffe, besser?«
Und Kate antwortete dann: »O ja, es macht sich, Mama«, legte ihre Handarbeit weg und ergriff Madelines Hand.
»Kate«, lautete dann jedesmal Mrs. Nicklebys verweisende Rede, »sprich doch nicht so laut!«
Die gute Dame selbst flüsterte nämlich immer, und zwar in einer Weise, daß einem baumstarken Mann dabei das Blut in den Adern hätte gerinnen können.
Kate jedoch nahm solche Verweise stets mit größter Ruhe hin, und Mrs. Nickleby fügte, wenn sie sodann in einer Weise umherschlich, daß jede Diele krachte und knarrte, hinzu:
»Nikolas ist soeben nach Hause gekommen, und ich besuche Sie, mein liebes Kind, um von Ihren eigenen Lippen zu hören, wie es Ihnen geht, denn er will sich nie beruhigen, wenn ich nicht Ihre eigenen Worte zitiere.«
»Er ist heute abend länger als gewöhnlich ausgeblieben«, erwiderte Madeline dann vielleicht, »fast eine halbe Stunde.« Und Mrs. Nickleby rief jedesmal erstaunt aus: »Merkwürdig, daß euch das auffällt, Kinder! Ich habe noch nicht einen Augenblick daran gedacht, daß Nikolas später als sonst kommt. Mein seliger Nickleby pflegte zu sagen – ich spreche von deinem armen Papa, liebe Kate –, er pflegte zu sagen: der Hunger sei die beste Uhr in der Welt. Aber das scheint's bei Ihnen nicht zu sein, Miss Bray, denn Sie haben noch immer keinen Appetit, sosehr ich auch wünschte, daß es der Fall wäre. Sie sollten mehr essen, dann bekämen Sie sicher Appetit; ich weiß es zwar nicht mehr recht, aber ich glaube gehört zu haben, daß ein paar Dutzend Krebse Appetit machen. Aber schließlich kommt's ja auf eins heraus, ob man zuerst Appetit haben muß, bevor man Krebse ißt, oder umgekehrt. Habe ich übrigens ›Krebse‹ gesagt? Ich meinte natürlich – aber das ist ziemlich gleichgültig – Austern. Sagen Sie doch nur, wie konnten Sie wissen, daß Nikolas –«
»Aus dem einfachen Grunde, weil wir eben von ihm gesprochen haben«, fiel Kate ein, als sich eines Tages das Gespräch wieder in dieser Weise entwickelt hatte.
»Ich glaube, du sprichst nie von etwas anderem«, sagte Mrs. Nickleby unwirsch. »Es überrascht mich, daß du gar so gedankenarm bist. Es gibt doch Themen genug, über die man sprechen kann, und du weißt, wie wichtig es ist, Miss Bray ein wenig aufzuheitern, zu zerstreuen und so fort. Ich kann gar nicht begreifen, wie du immer dasselbe Thema vornimmst. Du bist ja eine sehr freundliche und gute Pflegerin, Kate, und ich sehe auch ein, daß dich die besten Absichten dabei beseelen, aber ich glaube, mit Miss Brays Aufheiterung stünde es schlecht, wenn ich nicht wäre. Das sage ich jeden Tag auch dem Arzt. Er meint, er könne gar nicht begreifen, wie ich das auszuhalten imstande sei, und ich wundere mich selbst auch oft darüber. Es greift natürlich an, aber ich mache mir nichts daraus, da ich ja weiß, daß alles im Hause auf mir liegt. Ich will auch nicht deswegen gelobt sein, denn was nun einmal nötig ist, das tue ich gerne.«
Während solcher und ähnlicher Worte zog sich dann Mrs. Nickleby immer einen Stuhl ans Bett und konnte wohl dreiviertel Stunden in ununterbrochenem Redeschwall in der konfusesten Art über die verschiedensten Themen plaudern, bis sie sich endlich mit dem Vorwande losriß, gehen zu müssen, um Nikolas beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Nachdem sie sodann ihren Sohn allenfalls mit der Nachricht erquickt hatte, der Zustand der Patientin habe sich entschieden verschlimmert, setzte sie wohl auch noch hinzu, wie stumpf, niedergeschlagen und apathisch Miss Bray sei, da ihr Kate von nichts als von ihm und von Familienangelegenheiten vorschwätze. Wenn sie Nikolas durch diese und jene Bemerkungen recht behaglich gestimmt, erzählte sie ihm vielleicht noch ein langes und breites von den schweren Pflichten, die den Tag über auf ihr gelegen, und konnte zuweilen bis zu Tränen gerührt sein, wenn sie daran dachte, was wohl aus der Familie werden würde, wenn ihr selbst etwas zustieße oder sie am Ende gar stürbe.
War Nikolas, wenn er nach Hause kam, von Frank Cheeryble begleitet, der sich dem Auftrag seiner beiden onkel gemäß nach Madelines Befinden erkundigen sollte, hielt es Mrs. Nickleby jedesmal für ganz besonders wichtig, »ihre fünf Sinne beisammenzuhaben«, denn gewisse Anzeichen, sagte sie sich, wiesen darauf hin, Mr. Frank erschiene nicht bloß, um sich im Auftrag der Brüder nach Madelines Zustand zu erkundigen, über den sich diese ja jeden Morgen von Nikolas selbst Bericht erstatten lassen könnten, sondern auch Kates wegen. Das waren stolze Stunden für Mrs. Nickleby. Nie war wohl jemand auch nur halb so geschäftig und weise wie sie dann, oder auch nur halb so geheimnisvoll. Ihre Manöver waren von unergründlicher Tiefe, und nie gab es wohl schlauer angelegte Pläne als die, mit denen sie Mr. Frank auszuholen trachtete, um sich die Überzeugung zu verschaffen, daß ihr Verdacht begründet sei, und ihn im zutreffenden Falle Tantalusqualen ausstehen zu lassen, bis er sie endlich ins Vertrauen ziehen und sich ihr auf Gnade oder Ungnade ergeben werde. Zu diesem Zweck benahm sie sich einmal herzlich und zuvorkommend, dann wieder steif und kalt. Einmal schien sie dem unglücklichen Opfer ihr ganzes Herz zu erschließen, und das nächstemal empfing sie ihn mit einstudierter Zurückhaltung, als sei ihr plötzlich ein Licht aufgegangen und sie habe vor, seine Absichten im Keime zu ersticken – oder als fühle sie sich verpflichtet, mit spartanischer Festigkeit vorzugehen und ein für allemal Hoffnungen auszureißen, die sich nie verwirklichen könnten. Ein anderes Mal wieder, wenn Nikolas nicht anwesend und Kate oben bei ihrer kranken Freundin war, ließ sie dunkle Winke hinsichtlich ihrer Absicht fallen, Kate zur Herstellung ihrer durch die Leiden der letzten Zeit geschwächten Gesundheit auf ein paar Jahre nach Frankreich oder Schottland zu schicken, was lange Trennung bedeuten würde. Ja, sie deutete sogar zuweilen auf eine gewisse andre Herzensneigung hin. Der Sohn eines ehemaligen Nachbars von ihnen, ein gewisser Horatio Peltirogus (in Wirklichkeit ein Knirps von vier Jahren oder etwas darüber), bewerbe sich nämlich um Kates Hand, und die Sache gelte zwischen den Familien bereits als abgemacht. Es käme nur noch auf die Entscheidung ihrer Tochter, sich zur unsagbaren Wonne und Zufriedenheit aller Parteien kirchlich trauen zu lassen, an.
Diese letztere Mine hatte Mrs. Nickleby wieder einmal eines Abends mit großem Erfolg springen lassen und nahm daher, als sie kurz vor dem Schlafengehen mit Nikolas allein war, im Stolz und Jubel ihres Herzens die günstige Gelegenheit wahr, ihn über das Thema, das ihre Gedanken so gänzlich beschäftigte, auszuholen, wobei sie natürlich nicht zweifelte, daß er in dieser Hinsicht nur einer Meinung mit ihr sein könne. Zuerst begann sie mit den nötigen Umschweifen und ging dann allmählich auf die Frage hinsichtlich der gerühmten Liebenswürdigkeit Mr. Frank Cheerybles über.
»Du hast ganz recht, Mutter«, sagte Nikolas, »vollkommen recht. Er ist ein ungemein liebenswürdiger junger Mann.«
»Und auch hübsch«, meinte Mrs. Nickleby.
»Gewiß – recht hübsch.«
»Wie würdest du wohl seine Nase nennen, mein Sohn«, fuhr Mrs. Nickleby um das Interesse ihres Sohnes aufs höchste zu steigern, fort.
»Seine Nase?« wiederholte Nikolas erstaunt.
»Ja, ich meine, was den Stil seiner Nase betrifft. Die Architektonik, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich verstehe mich nicht besonders auf den Stil von Nasen. Nennst du sie römisch oder griechisch?«
»Wahrhaftig, Mutter«, sagte Nikolas lachend, »wenn ich mich recht von der Schule her erinnere, müßte man sie wohl eine komponierte oder gemischte Nase nennen. Ich kann sie mir nicht recht im Geiste vorstellen, aber wenn ich dir einen Gefallen damit tue, so will ich das nächstemal genauer darauf acht geben.«
»Ja, das wäre mir sehr lieb, Nikolas«, sagte Mrs. Nickleby mit höchst ernster Miene.
»Nun, dann soll es geschehen«, versprach Nikolas lächelnd.
Dann nahm er das Buch wieder auf, in dem er vorher gelesen hatte, aber seine Mutter unterbrach ihn nach einer Weile des Nachdenkens:
»Er ist dir sehr zugetan, lieber Nikolas.«
Nikolas versicherte lächelnd und schloß das Buch geduldig, es freue ihn sehr, dies zu hören, und fragte sie, ob Frank ihr das vielleicht anvertraut habe.
»Es ist nebensächlich, ob er es getan hat oder nicht, aber immerhin halte ich es für notwendig – und zwar für dringend notwendig –, daß er sich wirklich – auch in andern Dingen – jemand anvertraut«, war die Antwort. Nikolas blickte seine Mutter fragend an, und diese fuhr, stolz, im ausschließlichen Besitz eines großen Geheimnisses zu sein, lebhaft fort:
»Gewiß, lieber Nikolas; ich kann auch gar nicht begreifen, daß du das nicht selbst schon eingesehen hast. Obwohl ich es natürlich nicht anders erwarten konnte, denn man muß – ich meine natürlich bis zu einem gewissen Grade – in derlei Dingen bewandert sein, zumal die Sachen noch nicht weit gediehen sind – und Frauen sehen darin immer klarer als Männer. Ich will damit nicht sagen, daß ich in solchen Angelegenheiten besonders scharfsinnig wäre, vielleicht ist es auch gar nicht der Fall, was freilich die, die um mich sind, besser wissen sollten und wahrscheinlich auch wissen. Ich will mich auch nicht weiter äußern; es würde sich zudem nicht für mich schicken. Ich übergehe daher lieber die Frage ganz und gar.«
Nikolas schneuzte das Licht, steckte die Hände in die Taschen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte seine Mutter mit melancholischer Ergebung in sein Schicksal an.
»Ich halte es für meine Pflicht, lieber Nikolas«, nahm Mrs. Nickleby ihre Rede sogleich wieder auf, »dir zu sagen, was ich weiß, nicht nur, weil du ein Recht dazu hast, es zu wissen und überhaupt alles zu wissen, was in unserer Familie vorgeht, sondern weil es in deiner Hand steht, die Sache wesentlich zu fördern, und es zweifellos immer besser ist, wenn man sich in derlei Angelegenheiten je genauer je besser auskennt. Du könntest eine immerhin wichtige Rolle dabei spielen, z. B. zuweilen im Garten spazierengehen, dich auf eine kurze Zeit in dein Stübchen oben zurückziehen oder tun, als ob du zufällig eingeschlafen wärst, oder irgendeinen Vorwand nehmen, um wegzugehen oder auf eine Stunde das Zimmer mit Smike zu verlassen. Das scheinen dir vielleicht alles sehr unbedeutende Dinge zu sein, und du lachst wahrscheinlich darüber, daß ich einen so großen Wert darauf lege, aber ich kann dir versichern, und du selbst, wenn du dich einmal verlieben solltest, lieber Nikolas, wirst finden, daß es das Richtige ist und daß von solchen Kleinigkeiten mehr abhängt, als du jetzt vielleicht für möglich hältst. Wenn dein armer Papa noch am Leben wäre, so würde er dir sagen, wieviel davon abhängt, wenn man junge Liebesleute miteinander allein läßt. Natürlich darf es nie so scheinen, als verließest du absichtlich das Zimmer, sondern es muß ganz zufällig aussehen, und dieselbe Vorsichtsmaßregel hast du auch beim Zurückkommen zu beobachten. Wenn du im Flur bist, mußt du, ehe du die Tür öffnest, husten, vor dich hin pfeifen, ein Liedchen summen oder dergleichen, damit sie wissen, daß du kommst. Es ist immer besser. Es ist nicht nur natürlich, sondern auch schicklich und erspart dem jungen Pärchen die Verlegenheit, falls es – nebeneinander auf dem Sofa sitzt und – und – und – was dergleichen Dinge mehr sind, die man ja töricht nennen könnte, die nun aber doch einmal vorzukommen pflegen.«
Nikolas' Erstaunen wuchs bei dieser langen Rede seiner Mutter immer mehr und erreichte allmählich seinen höchsten Grad. Trotzdem ließ sich Mrs. Nickleby nicht im geringsten außer Fassung bringen, sondern schwelgte in Klugheitsergüssen. Sie hielt nur einen Augenblick inne, um mit großer Selbstgefälligkeit die Bemerkung aufzubauschen, sie hätte selbstverständlich vorausgesehen, daß das alles ihn überraschen müsse, und knüpfte daran eine umständliche und höchst konfuse Erörterung der vielen Beweise, die ihr außer allen Zweifel setzten, Mr. Frank Cheeryble sei sterblich in Kate verliebt.
»In wen?« fuhr Nikolas auf.
Mrs. Nickleby wiederholte ihre Vermutung.
»Was? In unsre Kate? In meine Schwester?«
»Aber, lieber Gott, Nikolas, welches Kätchen sollte es denn sonst sein oder welches Interesse würde ich daran haben, wenn es jemand anders als deine Schwester beträfe!« rief Mrs. Nickleby.
»Gewiß, liebe Mutter«, entgegnete Nikolas, »aber du mußt dich trotzdem geirrt haben.«
»Nein, nein, lieber Nikolas«, versicherte Mrs. Nickleby, »ich habe mich nicht geirrt. Gib nur acht, du wirst schon selbst sehen.«
Nikolas hatte bis zur Stunde auch nicht im entferntesten an eine solche Möglichkeit gedacht, denn er war in der letzten Zeit selten zu Hause und fast immer mit andern Dingen beschäftigt gewesen, und außerdem hatte ihm seine Eifersucht den Floh ins Ohr gesetzt, die in der neuesten Zeit so häufigen Besuche Mr. Frank Cheerybles gälten insgeheim Madeline. Selbst jetzt war er, – obgleich er annehmen durfte, daß die Beobachtungsgabe einer besorgten Mutter in solchen Fällen möglicherweise richtiger sehen müsse als seine eigne und so mancher kleine Umstand, der ihm jetzt einfiel, ganz dafür zu sprechen schien – doch nicht völlig sicher, ob es sich nicht vielleicht nur um eine gutmütige gedankenlose Galanterie handeln könne, wie sie wohl jeder junge Mann gegenüber einem liebenswürdigen jungen Mädchen an den Tag zu legen geneigt ist.
»Was ich von dir höre, beunruhigt mich nicht wenig«, sagte er nach kurzem Nachdenken, »aber ich hoffe immer noch, daß du dich geirrt hast.«
»Wahrhaftig, es kommt mir sehr sonderbar vor, wie du da von ›hoffen‹ sprechen kannst«, entgegnete Mrs. Nickleby. »Aber verlasse dich drauf, ich habe mich nicht geirrt.«
»Und wie steht es mit Kate?« fragte Nikolas.
»Aber lieber Nikolas«, rief Mrs. Nickleby, »das ist doch gerade der Punkt, über den ich mir noch nicht im reinen bin. Während Miss Madelines ganzer Krankheitsdauer ist sie fast nicht von ihrer Seite gewichen, und ich glaube nicht, daß es ein paar Freundinnen geben könnte, die sich inniger liebten, als es bei den beiden schon nach so kurzer Zeit der Fall ist – und um die Wahrheit zu gestehen, Nikolas, ich habe sie absichtlich und gern ferngehalten, weil dies ein gutes Mittel ist, den jungen Mann dazu zu bringen, sich näher zu erklären. Du verstehst, er fühlt sich dann nicht allzu sicher.«
Sie brachte dies mit einem solchen Gemisch von Wonne und Selbstzufriedenheit hervor, daß es Nikolas ungemein leid tat, ihre Hoffnungen zerstören zu müssen. Er fühlte jedoch, daß es der einzige ehrenhafte Weg für ihn selbst sei, und hielt sich daher dafür verpflichtet, ihn einzuschlagen.
»Liebe Mutter«, begann er sanft, »siehst du denn nicht ein, daß wir eine sehr zweideutige und undankbare Rolle spielen, wenn wir für den Fall, daß Mr. Frank wirklich eine ernste Herzensneigung für Kate gefaßt haben sollte, uns auch nur einen Augenblick dazu hergäben, ihn irgendwie zu ermutigen? Ich will mich noch deutlicher ausdrücken: Du weißt doch, wie arm wir sind!«
Mrs. Nickleby schüttelte betrübt den Kopf und rief unter Tränen, Armut sei doch kein Verbrechen.
»Gewiß nicht«, entgegnete Nikolas, »aber um so stolzer müssen wir sein und uns von unwürdigen Handlungen fernhalten und jene Selbstachtung bewahren, in der auch der ärmste Dienstmann oder Holzknecht würdiger dasteht als ein König im ganzen Glanze seiner Majestät. Bedenke, was wir den Brüdern Cheeryble zu verdanken haben! Rufe dir ins Gedächtnis, was sie für uns getan haben und noch jeden Tag tun, und zwar mit einem Taktgefühl, das wir ihnen nicht vergelten können, und wenn wir ihnen unser ganzes Leben opferten. Es wäre ein schöner Dank, wenn wir, ohne die Hand zu rühren, zusähen, daß ihr Neffe, ihr einziger Verwandter, den sie überdies als ihren Sohn betrachten und für den sie zweifellos Pläne entworfen haben, die seiner Erziehung und seiner künftigen Vermögenslage entsprechen – ich sage, es wäre ein schöner Dank, wenn wir zusähen, ohne die Hand zu rühren, daß er eine Verbindung mit einem mittellosen Mädchen eingeht, das so nahe mit uns verwandt ist, daß sich jedem unwillkürlich die Vermutung aufdrängen muß, wir hätten ihm planmäßig Schlingen gelegt und das Ganze wäre nichts anderes als eine listige Spekulation von uns dreien zusammen. Überlege dir die Sache gut, Mutter! Mit welchem Gesicht könntest du den Brüdern wohl entgegentreten, wenn sie, wie es so oft der Fall ist, in der Absicht herkommen, dir Wohltaten zu erweisen, und du müßtest sagen, ihr Neffe habe sich mit Kate verlobt? Wäre dir wohl dabei zumute und könntest du dir innerlich gestehen, eine ehrliche und offene Rolle gespielt zu haben?«
Die arme Mrs. Nickleby schluchzte laut auf und murmelte, selbstverständlich müsse Frank vorher die Erlaubnis der Gebrüder Cheeryble einholen.
»Das würde nur ihn in ein besseres Licht seinen Verwandten gegenüber setzen«, sagte Nikolas; »aber der Argwohn, der auf uns fiele, bliebe bestehen; der Abstand zwischen ihm und uns wäre derselbe, um so mehr, als die Vorteile, die uns daraus erwachsen, deutlich in die Augen springen. – Aber hoffentlich machen wir die Rechnung ohne den Wirt«, fügte er heiter hinzu, »und ich hoffe – ja, ich bin der festen Überzeugung, daß es so ist. Andrerseits habe ich so viel Vertrauen zu Kate, daß ich annehme, sie teilt meine Gefühle, und dann zu dir, liebe Mutter, daß du nach ein bißchen Überlegung das gleiche tun wirst.«
Auf diese Vorstellung von Seiten Nikolas' hin versprach Mrs. Nickleby hoch und teuer, sie wolle sich alle Mühe geben, sich in seine Ansichten zu finden und Mr. Frank, falls er mit seinen Bewerbungen fortfahren sollte, wenn auch nicht gerade alle Hoffnungen benehmen, so doch in keiner Beziehung weitern Vorschub leisten. Hinsichtlich Kate beschloß Nikolas, die Sache nicht eher zur Sprache zu bringen, bevor er sich nicht wirklich überzeugt, daß der Schritt nötig sei. Er nahm sich jedoch zugleich vor, sich durch persönliche genaue Beobachtung über den wahren Stand der Dinge Gewißheit zu verschaffen. Dies war sehr weise und klug gedacht, leider verhinderte ihn jedoch eine neue Quelle der Beunruhigung und Beängstigung an der Ausführung.
Smike erkrankte nämlich plötzlich ziemlich bedenklich und verfiel rasch derart, daß er sich ohne Beistand kaum von einem Zimmer ins andre mehr schleppen konnte. Dabei magerte er in einer Weise ab, daß es jedem, der es sah, tief ins Herz schnitt.
Der Arzt, dessen Rat Nikolas schon früher eingeholt hatte, erklärte, daß nur noch eine schleunige Entfernung aus London den Patienten retten könne. Der Teil von Devonshire, wo Nikolas seine Kinderjahre zugebracht, wurde als der günstigste Ort für eine Luftveränderung bezeichnet, aber dem Rate wurde auch die Warnung hinzugefügt, wer Smike dorthin begleite, müsse sich jedenfalls auf das Schlimmste gefaßt machen, da alle Zeichen einer galoppierenden Schwindsucht vorhanden seien und man kaum darauf rechnen dürfe, ihn lebend zurückkehren zu sehen.
Die wohlwollenden Brüder Cheeryble entsandten, als sie die traurige Geschichte des armen Burschen erfuhren, sofort den alten Tim, um sagen zu lassen, sie möchten gerne bei der Familienberatung zugegen sein, und noch am selben Morgen rief Mr. Charles Nikolas in sein Zimmer und sagte:
»Mein lieber Mr. Nickleby, wir dürfen hier keine Zeit verlieren. Der junge Mensch darf nicht sterben, wenn menschliche Hilfe, soweit wir sie bieten können, sein Leben zu retten imstande ist. Auch soll er an einem fremden Ort nicht einsam dahinsiechen. Begleiten Sie ihn morgen früh selbst dorthin und sorgen sie dafür, daß er alle Bequemlichkeit hat, die ihm seine Krankheit erleichtern kann, und verlassen Sie ihn nicht – verlassen Sie ihn ja nicht, lieber Mr. Nickleby, bevor Sie nicht wissen, daß jede direkte Gefahr so weit als beseitigt gelten kann. Es wäre wirklich sehr hart, wenn ihr euch jetzt trenntet – nein, nein, das darf nicht geschehen. Tim kommt heute abend zu Ihnen, Mr. Nikolas, und wird Ihnen noch einige Abschiedsworte bringen. – Lieber Bruder Ned, Mr. Nickleby ist da, um dir Lebewohl zu sagen. Er wird nicht lange abwesend sein. Mit dem armen Jungen wird's gewiß bald wieder besser werden – sehr bald, hoffe ich –, und dann läßt sich gewiß eine ordentliche Familie in Devonshire ausfindig machen, der man ihn anvertrauen und wo man ihn hin und wieder besuchen kann. Denn natürlich muß man bisweilen nach ihm sehen und – aber wir haben jetzt keinen Grund, niedergeschlagen zu sein, ich hoffe, es wird bald wieder besser mit ihm gehen. Sehr bald – nicht wahr, Bruder Ned, nicht wahr?«
Was Timotheus linkinwater sagte und was er alles am Abend mitbrachte, braucht hier nicht erwähnt zu werden, kurz, am nächsten Morgen trat Nikolas mit allem Nötigen versehen mit seinem kranken jungen Freund die Reise an.
»Sieh doch«, rief er lebhaft, als er aus dem Wagenschlag blickte, »dort stehen sie noch an der Straßenecke, und auch Kate, die arme arme Kate, von der du, wie du sagtest, nicht imstande seist, Abschied zu nehmen, winkt uns noch mit dem Taschentuch! So darfst du nicht von ihr scheiden. Winke ihr wenigstens ein Lebewohl zu.«
»Nein, nein, ich kann nicht, ich kann nicht«, schluchzte der Kranke außer sich, sank auf seinen Sitz zurück und bedeckte seine Augen mit der Hand. »Sehen Sie sie noch? Ist sie noch dort?«
»Ja, ja«, sagte Nikolas erschüttert. »Ja, sie winkt noch mit der Hand. Ich habe für dich geantwortet – so, jetzt ist sie außer Sicht. Gräme dich doch nicht so, lieber Freund, du wirst sie ja alle wiedersehen.«
Der arme Smike erhob seine abgezehrten Hände, faltete sie in heißer Inbrunst und flüsterte:
»Ja – im Himmel. – Ich flehe im Staub zu Gott: im Himmel.«
Es klang wie ein Gebet aus gebrochenem Herzen.