Mr. Ralph Nickleby sagt sich von einem alten Bekannten los. Es zeigt sich, daß selbst zwischen Mann und Weib ein Scherz unter Umständen zu weit getrieben werden kann
Es gibt Menschen, die keinem andern Zwecke leben als dem, sich zu bereichern, gleichgültig durch welche Mittel – Menschen, die von der Schändlichkeit und Niedertracht ihres Vorgehens vollständig durchdrungen sind, aber trotzdem moralische Rechtschaffenheit heucheln und kopfschüttelnd über die Verderblichkeit der Welt seufzen. So manche der niedrigsten Schufte, die jemals auf Erden wandelten, oder besser gesagt – denn zum Wandeln gehört wenigstens eine aufrechte Stellung und eine gewisse männliche Haltung – die je auf den krümmsten Pfaden des Lebens einherkrochen, schreiben wohl in Tagebüchern die Ereignisse einer jeden Woche nieder und führen ein regelmäßiges Hauptbuch mit dem Himmel, aus dem sich dann jedesmal ein hübscher Überschuß zu ihren Gunsten ergibt. Ob dies nun absichtliche Selbsttäuschung ist oder ob solche Menschen wirklich hoffen, den lieben Gott zu hintergehen, und wähnen, Schätze für eine künftige Welt zu sammeln – jedenfalls ist es eine nicht zu bestreitende Tatsache.
Ralph Nickleby war kein Mann dieses Schlages; streng, finster und unerbittlich kümmerte er sich – Ewigkeit oder nicht – um nichts, als seinen Leidenschaften zu frönen. Vor allem dem Geiz, der den Hauptzug seines Charakters ausmachte, und dann seinem Hasse. Stets nach außenhin bestrebt, sich als das Urbild eines humanen Menschen zu geben, wurde es ihm nicht schwer, sein wahres Wesen der Welt zu verbergen, während er in Wirklichkeit in seinem Innern über jeden bösen Anschlag, den er ausheckte, frohlockte. Die einzige Lehre der Heiligen Schrift, die er buchstäblich beobachtete, gipfelte in den Worten: lerne dich selbst erkennen! Und er kannte sich sehr genau. Aber weil er alle Menschen in demselben Lichte sah, so haßte er sie naturgemäß. Wenn auch niemand sich selbst haßt – dazu haben wir zu viel Eigenliebe –, so beurteilen doch die meisten, ohne es zu wissen, die andern nach sich selbst, und man wird stets finden, daß diejenigen, die die menschliche Natur zu verhöhnen pflegen und sich stellen, als verachteten sie sie, gerade zu den schlechtesten und am wenigsten liebenswürdigen Exemplaren gehören.
Mit finsterm Stirnrunzeln betrachtete jetzt Ralph Newman Noggs, wie dieser seine durchlöcherten Handschuhe abstreifte, sie sorgfältig in die linke legte, mit der Rechten die Falten glättete und sie mit zerstreuter Miene zusammenrollte, alles das mit einer Sorgfalt, die einer bessern Sache würdig gewesen wäre.
»Die Stadt verlassen?« fragte Ralph langsam. »Sie müssen sich wohl geirrt haben; gehen Sie noch einmal hin.«
»Hab' mich nicht geirrt«, brummte Newman, »er ist bereits fort.«
»Ist er vielleicht zum Kind geworden?« schrie Ralph unmutig.
»Weiß ich nicht«, sagte Newman, »aber fort ist er.«
Die Wiederholung des Wörtchens »fort« schien Newman Noggs um so mehr zu freuen, je mehr sich Ralph darüber ärgerte. Er schwelgte förmlich darin und dehnte es so lang, als es nur irgend anging. Und selbst während er, um die Aufmerksamkeit seines Prinzipals nicht zu erregen, innehielt, knurrte er es noch in sich hinein, als ob dies allein schon eine Freude für ihn bedeute.
»Und wohin ist er?« forschte Ralph.
»Nach Frankreich. Gefahr, daß die Gesichtsrose wiederkehrt, und noch schlimmer: sich aufs Gehirn wirft. Die Ärzte haben ihn fortgeschickt. Und fort ist er.«
»Und Lord Frederic?«
»Auch fort.«
»Und er steckt ruhig die Prügel ein?« fragte Ralph, sich abwendend, »und drückt sich, ohne sich auch nur mit einem Wort zu rächen, und mit keinem Gedanken, eine Genugtuung zu erlangen?«
»Er fühlt sich zu elend dazu.«
»Elend!« wiederholte Ralph. »Ich würde mich rächen, und wenn ich auf dem Totenbett läge; ich würde dann vielleicht um so weniger zögern – ich nämlich, wenn ich an Sir Mulberrys Stelle wäre. Aber er natürlich fühlt sich zu elend! Der arme Mulberry, zu elend!« Ralph sprach diese Worte mit äußerster Verachtung und in großer Erregtheit, dann winkte er Noggs, das Zimmer zu verlassen, warf sich in seinen Stuhl und stampfte voll Ungeduld mit dem Fuß.
»Der Junge muß rein gefeit sein«, knirschte er zwischen den Zähnen, »alles verschwört sich zu seinen Gunsten. Nicht einmal das Geld hat Macht gegen ein solches Satansglück.«
Ungeduldig steckte er die Hände in die Taschen. Plötzlich schien er einen innern Trost zu finden, wenigstens wurde sein Gesicht etwas heiterer. Wenn auch tiefe Furchen immer noch seine Stirne durchschnitten, so lag doch in seinen Mienen etwas, was mehr Berechnung als Ingrimm ausdrückte.
»Hawk wird schon wieder zurückkehren«, murmelte er, »und wenn ich ihn nur halbwegs kenne – und das dürfte wohl der Fall sein –, so wird sein Haß inzwischen nichts an Heftigkeit verloren haben. Er muß jetzt in langweiliger Einsamkeit leben. Keine Lustbarkeiten irgendwelcher Art – nicht trinken – kein Spiel, kurz nichts, was er liebt und was ihm das Leben schön erscheinen läßt. Es wird so leicht nicht vergessen, wem er das alles verdankt – er am allerletzten.« Lächelnd schüttelte er den Kopf, stützte das Kinn auf die Hand, verfiel in Nachsinnen und lächelte abermals. Nach einiger Zeit stand er auf und klingelte.
»Ist Squeers hier gewesen?«
»Gestern abend«; erwiderte Newman, »er blieb noch hier, als ich nach Hause ging.«
»Das weiß ich doch, Sie Narr«, fuhr Ralph auf, »ich meine, ob er seitdem wieder hier gewesen ist! War er vielleicht heute morgen hier?«
»Nein.«
»Wenn er kommt, während ich nicht zu Hause bin, so lassen Sie ihn warten; er wird vermutlich gegen neun Uhr kommen. Und wenn er noch jemand bei sich hat – irgend jemand bei sich hat«, brach Ralph plötzlich ab, »so soll der Betreffende auch warten.«
»Also beide sollen warten?«
»Jawohl«, erwiderte Ralph mit einem ärgerlichen Blick. »Helfen Sie mir den Rock da anziehen und plappern Sie nicht immer alles nach wie ein Papagei.«
»Ich wollte, ich wäre ein Papagei«, brummte Newman mürrisch.
»Ja, das möchte ich auch«, erwiderte Ralph, in seinen Überzieher schlüpfend. »Da hätt' ich Ihnen schon längst den Hals umdrehen können.«
Newman erwiderte nichts auf diese Schmeichelei, sondern glättete nur seinem Prinzipal den Rockkragen mit einem Gesicht, als verspüre er eine lebhafte Neigung, ihn in die Nase zu zwicken. Als er jedoch Ralphs Auge begegnete, meisterte er rasch seine Handbewegung und rieb sich seine eigene rote Nase mit erstaunlicher Heftigkeit. Ralph beachtete seinen wunderlichen Diener weiter nicht, warf ihm nur einen scharfen Blick zu und ermahnte ihn, vorsichtig zu sein und gefälligst keine Mißgriffe zu begehen. Dann nahm er Hut und Handschuhe und entfernte sich.
Er schien einen höchst seltsamen und gemischten Bekanntschaftskreis zu haben – bald ging er in große und prachtvolle Häuser, bald in kleine und ärmliche Hütten, aber stets alles aus demselben Grund: nämlich des Geldes wegen. Das bloße Auftauchen seines Gesichtes war für sämtliche Portiers seiner vornehmen Klientel eine Art Paßwort, das ihm sofortigen Einlaß sicherte, trotzdem er immer nur zu Fuß kam und andere, die in den glänzendsten Equipagen vorfuhren, abgewiesen wurden. Einmal war er eitel Süßigkeit und kriecherische Höflichkeit und trat so leise auf, daß man es kaum auf den dicken Teppichen hörte, und seine Stimme war so flüsternd, daß sie nur der Angeredete verstehen konnte. In den ärmeren jedoch warf er die Maske ab. Da knarrten seine Stiefel laut auf dem Hausflur, über den er dahinschritt, seine Stimme tönte barsch, wenn er das Geld einforderte, das fällig war, und seine Drohungen klangen rauh und zornig. Wieder anders benahm er sich bei einer dritten Klasse von Kunden, nämlich bei den Anwälten zweifelhaften Rufes, die ihm zu neuen Geschäften verhalfen oder ihm beistanden, neuen Gewinn aus den alten zu ziehen. Gegen sie war er vertraulich und mitteilsam – er scherzte mit ihnen über die Tagesthemen, besonders aber über Bankerotte und Finanzverlegenheiten, aus denen sich voraussichtlich noch etwas machen ließ. Kurz, es würde schwer gewesen sein, denselben Mann unter den verschiedenen Masken wiederzuerkennen, wenn man nicht die dicke lederne Brieftasche voll Wechsel und Rechnungen, die er in jedem Haus aus der Tasche zog, die beharrliche Wiederholung, die nur in Ton und Wortstellung Modifikationen erlitt, als Anhaltspunkte gehabt hätte. Aus allem ging hervor, daß ihn die Welt für reich hielt und daß er stets betonte, er sei es auch, wenn er nur sein Eigentum wirklich besäße, »aber es ginge leider kein Geld mehr ein, wenn er es einmal verborgt habe, weder an Kapital noch an Zinsen, und er wisse sich wirklich kaum von einem Tag zum andern durchzubringen«.
Es war bereits Abend geworden, als seine lange, nur durch ein dürftiges Mittagessen in einem kleinen Speisehaus unterbrochene Reihe von Besuchen in Pimlico endete und er durch den St.-James-Park nach Hause zurückkehrte. Ganz abgesehen von seiner Zerstreutheit und Gleichgültigkeit für seine Umgebung, hätten schon seine gefurchte Stirn und der zusammengebissene Mund darauf hingewiesen, daß er sich innerlich mit tiefangelegten Plänen beschäftigte. Er war derart in Gedanken versunken, daß er trotz seines sonst so schnellen Blickes nicht gewahrte, wie ihm eine Gestalt nachschlenderte, sich einmal geräuschlos hinter ihm hermachend, dann wieder ihm einige Schritte voranschleichend, dann wieder an seiner Seite dahergleitend und ihn die ganze Zeit über mit scharfen Augen und so aufmerksamen Blicken belauernd, daß ihr Gesicht zuzeiten mehr einem ausdrucksvollen Gemälde glich oder einem lebhaften Traumbild als dem eines aufmerksamen und eifrigen Beobachters. Inzwischen hatte sich der Himmel mit finstern Wolken bedeckt, und ein plötzlich herniederstürzender Regenschauer zwang Ralph, unter einem Baum Schutz zu suchen. Noch immer tief in Gedanken lehnte er sich mit dem Rücken daran, als er plötzlich beim Aufschauen den Augen des Mannes begegnete, der, um den Stamm herumschleichend, ihm mit einem forschenden Blick ins Gesicht sah. Es lag etwas in den Zügen Ralphs, das dem Fremden nicht unbekannt zu sein schien und ihn bestimmte, an seine Seite zu treten und seinen Namen zu nennen.
Ralph Nickleby fuhr zusammen, wich ein paar Schritte zurück und musterte den Fremden von Kopf bis zu Fuß. Was er im ersten Moment erblickte, war ein hagerer finsterer abgezehrter Mann, ungefähr von seinem eigenen Alter, mit gebeugter Haltung und einem sonnverbrannten, äußerst häßlichen Gesicht, das durch hohle, krankhaft eingefallene Wangen und dicke schwarze Augenbrauen wegen des Kontrastes mit dem vollkommen weißen Haar noch auffallender wirkte. Der Mann trug einen schlechten schäbigen Anzug von wunderlichem plumpem Schnitt, und in seiner Miene lag ein gewisser unbeschreiblicher Ausdruck von Gedrücktheit und Kriecherei. Im nächsten Augenblick schienen Ralph das Gesicht und der ganze Mann wieder fremd zu werden, aber allmählich meinte er in ihm einen alten langjährigen Bekannten zu erkennen, den er längst aus den Augen verloren und vergessen hatte. Als der Fremde sah, daß er erkannt worden, winkte er Ralph zu, seinen Platz unter dem Baum wieder einzunehmen, statt im Regen dazustehen, und redete ihn dann mit schwacher heiserer Stimme an:
»Sie würden mich wohl kaum an meiner Stimme erkannt haben, Mr. Nickleby?«
»Nein«, erwiderte Ralph, ihn finster anblickend, »obgleich etwas daraus klingt, dessen ich mich jetzt entsinne.«
»Ich kann wohl sagen, daß nur noch wenig an mir ist, dessen Sie sich von acht Jahren her erinnern könnten«, bemerkte der Unbekannte.
»Ach genug, mehr als genug«, warf Ralph gleichgültig hin und wendete das Gesicht ab, »mehr als genug.«
»Hätte ich hinsichtlich Ihrer Person noch Zweifel haben können, Mr. Nickleby«, entgegnete der andere, »so hätte diese Aufnahme wohl auch den letzten beseitigt.«
»Haben Sie vielleicht eine andere erwartet?« fragte Ralph scharf.
»Nein.«
»Nun also«, brummte Ralph, »da Sie keine Überraschung finden, brauchen Sie auch keine zu heucheln.«
»Mr. Nickleby«, begann der Mann wieder nach einer kurzen Pause, während der er eine Anwandlung, mit einem Vorwurf zu antworten, niedergekämpft zu haben schien, »wollen Sie ein paar Worte anhören, die ich Ihnen zu sagen habe?«
»Ich bin genötigt, hier zu warten, bis der Regen ein wenig nachläßt«, sagte Ralph, um sich blickend, »und wenn Sie sprechen, Sir, werde ich die Finger nicht in die Ohren stecken, obwohl Ihr Geschwätz auf mich wohl denselben Eindruck machen wird, als wenn ich es täte.«
»Ich besaß einst Ihr Vertrauen –«, fing der Fremde an.
– Ralph sah sich um und lächelte unwillkürlich. –
»Ich meine, wenigstens soviel Vertrauen, als Sie vielleicht je einem Menschen geschenkt haben.«
»Hm, das ist etwas anderes, etwas ganz anderes«, unterbrach Ralph, die Arme verschränkend.
»Klammern wir uns nicht an Worte, Mr. Nickleby. Ich beschwöre Sie im Namen der Menschlichkeit –«
»In wessen Namen?« fragte Ralph.
»Im Namen der Menschlichkeit«, versetzte der alte Mann ernst. »Ich bin hungrig und leide Not. Wenn die Veränderungen, die Sie nach einer so langen Zeit an mir wahrnehmen müssen – jawohl müssen, denn ich, bei dem sie doch nur langsam und allmählich vorgegangen sind, sehe und kenne sie selbst genau –, Sie nicht zum Mitleid bewegen sollten, so mögen Sie wissen, daß ich nicht imstande bin, mir auch nur das tägliche Brot – ich meine nicht das des Vaterunsers, das in Städten wie London den Luxus einer halben Welt für den Reichen sowie die kümmerliche Nahrung, mit der der Arme sein Leben fristet, in sich begreift, sondern Brot im wahrsten Sinne des Wortes –, eine Rinde harten Brotes zu verschaffen. Vielleicht hat das einiges Gewicht bei Ihnen, wenn Sie sonst nichts umstimmen kann.«
»Wenn das Ihre gewöhnliche Weise zu betteln ist, Sir«, sagte Ralph kalt, »so haben Sie Ihre Rolle gut einstudiert, aber wenn Sie sich von einem Mann raten lassen wollen, der die Welt und die Menschen kennt, so würde ich Ihnen empfehlen, Ihren Ton ein wenig herabzustimmen – nur ein ganz klein wenig, sonst laufen Sie Gefahr, tatsächlich zu verhungern.«
Mit diesen Worten umfaßte Ralph sein linkes Handgelenk fest mit der rechten Hand, neigte den Kopf ein wenig auf die Seite, ließ das Kinn auf die Brust heruntersinken und warf seinem Gegenüber einen finstern Blick zu – das wahre Bild eines Mannes, den nichts zu rühren vermag.
»Der gestrige Tag war mein erster in London«, fuhr der alte Mann fort, auf seine bestaubten Kleider und seine zerrissenen Schuhe herabblickend.
»Es wäre besser, wenn es auch der letzte gewesen wäre«, höhnte Ralph.
»Ich habe Sie diese zwei Tage gesucht, wo ich Sie am wahrscheinlichsten zu finden hoffte«, fuhr der Alte demütig fort, »und endlich fand ich Sie hier, als ich die Hoffnung beinahe schon aufgegeben hatte, Mr. Nickleby« – er schien auf eine Antwort zu warten, und setzte, als Ralph schwieg, leise hinzu: »Ich bin ein unglücklicher und elender Mensch, jetzt fast sechzig Jahre alt und so arm und hilflos wie ein sechsjähriges Kind.«
»Ich bin auch sechzig Jahre, aber weder arm noch hilflos. Arbeiten Sie doch, faseln Sie nicht von Brot, sondern verdienen Sie sich welches«, brummte Ralph.
»Wie? Wo?« rief der alte Mann. »Zeigen Sie mir die Mittel, verschaffen Sie mir Arbeit! – Wollen Sie?«
»Ich habe es schon einmal getan«, erwiderte Ralph ruhig, »Sie könnten sich die Mühe sparen, mich abermals darum zu bitten.«
»Es sind jetzt zwanzig oder noch mehr Jahre her«, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme, »seit wir uneins geworden sind. Sie erinnern sich doch? Ich verlangte damals einen Teil von dem Gewinn an einem Geschäft von Ihnen, das ich Ihnen zubrachte, und als ich darauf bestand, ließen Sie mich wegen einer alten Schuld von fünf Pfund und ein paar Schillingen nebst Zinsen von fünfzig Prozent oder so was verhaften.«
»Ja, ja, ich erinnere mich«, versetzte Ralph unbekümmert, »und was weiter?«
»Das war es alles nicht, weshalb wir uneins wurden. Ich gab nach, als ich hinter Schloß und Riegel saß, und da Sie damals der reiche Mann noch nicht waren, der Sie jetzt sind, so nahmen Sie mich ganz gern als Schreiber an, zumal ich nicht gar zu gewissenhaft war und einen gewissen Einblick in Ihre Geschäfte hatte.«
»Sie bettelten und flehten, und ich willigte ein«, verbesserte Ralph, »aus Großmut! Möglich, daß ich Sie auch gebrauchen konnte – ich weiß es jetzt nicht mehr. Es wird übrigens wohl so gewesen sein, denn Sie würden sich sonst vergeblich aufs Bitten verlegt haben. Sie waren mir nützlich, nicht allzu ehrlich, nicht allzu zartfühlend in Gedanken und Werken – aber immerhin nützlich.«
»So war ich Ihnen also doch nützlich! Lassen Sie sich auch jetzt von mir erweichen! Trotzdem Sie mich damals drückten und niederhielten, habe ich Ihnen doch bis zu jenem Augenblick treu gedient; oder vielleicht nicht?«
Ralph schwieg.
»Oder vielleicht nicht?« wiederholte der Mann abermals.
»Sie bekamen dafür Ihren Lohn, und damit waren wir quitt.«
»Ja damals, aber nicht später.«
»Später allerdings nicht, und auch damals nicht, denn, wie Sie selbst gestanden haben, waren Sie mir und sind es auch jetzt noch – Geld schuldig.«
»Das ist nicht alles«, entgegnete der Alte lebhaft, »das ist nicht alles. Merken Sie wohl und verlassen Sie sich darauf: ich habe den Schlag von damals nicht vergessen, und weil ich daran dachte – vielleicht auch in der Hoffnung, einmal Geld dabei herauszuschlagen – benützte ich meine Stellung bei Ihnen und setzte mich in Besitz einer Waffe gegen Sie, die zu kennen Sie die Hälfte Ihres ganzen Vermögens geben würden und zu deren Kenntnis Sie nur durch mich zu gelangen imstande sind. Ich habe Sie, wie Sie sich erinnern werden, lange nach jener Zeit verlassen und wurde wegen eines erbärmlich kleinen Betrugs, der zur Anzeige kam, trotzdem die Sache eigentlich nicht mehr auf sich hatte, als was Ihr Geldleute täglich und stündlich ungestraft tut, auf sieben Jahre deportiert. Ich bin zurückgekehrt so, wie Sie mich hier sehen – und jetzt, Mr. Nickleby«, setzte der Alte mit einer seltsamen Mischung von Demut und innerem Machtgefühl hinzu, »welche Hilfe gedenken Sie mir zu leisten? Oder, um offen zu sprechen, mit wieviel wollen Sie mir mein Schweigen abkaufen? Ich spanne meine Erwartungen nicht zu hoch, muß aber leben und, um zu leben, essen und trinken. Sie haben Geld, ich habe Hunger und Durst, Sie können einen billigen Handel abschließen.«
»Ist das alles?« fragte Ralph, noch immer dem Alten mit demselben festen Blick ins Auge schauend und ohne eine Miene zu verziehen.
»Es hängt ganz von Ihnen ab, Mr. Nickleby, ob es alles ist oder nicht«, war die Antwort.
»Schon gut, dann hören Sie – Mr. – ich weiß nicht, mit welchem Namen ich Sie anreden soll –«, sagte Ralph.
»Bei meinem alten, wenn es beliebt.«
»Also gut, dann hören Sie, Mr. Brooker«, fuhr Ralph mit schneidendem Ton fort, »geben Sie sich keine Mühe, mir eine andere Antwort zu erpressen, verstanden? Ich kenne Sie von damals her als einen jederzeit bereiten Gauner, dem aber immer im rechten Moment der Mut fehlte – Zwangsarbeit, vielleicht mit Ketten am Bein, und noch schmälere Kost als zu der Zeit, wo ich Sie ›niederdrückte und niederhielt‹ hat Ihren Verstand offenbar hergenommen, sonst würden Sie mir nicht mit einer Phrase kommen, Sie hätten eine Waffe gegen mich. Behalten Sie sie für sich, oder veröffentlichen Sie sie, wenn Sie Lust dazu haben; meinetwegen vor der ganzen Welt.«
»Ich kann das nicht tun«, fiel Brooker ein, »da ich keinen Nutzen davon hätte.«
»So? Hätten Sie keinen?« höhnte Ralph. »Verlassen Sie sich auf das, was ich Ihnen sage: Sie werden ebensowenig Nutzen davon haben, daß Sie sich an mich wenden. Ich bin, wie Sie wissen, ein vorsichtiger Mann und kenne meine Angelegenheiten genau. Ich kenne auch die Welt, und die Welt kennt mich. Was Sie in meinen Diensten herausgeschnüffelt, gehört oder gesehen haben, das weiß die Welt und hat es bereits entsprechend aufgebauscht. Sie können ihr nichts erzählen, was sie überraschen würde – es müßte denn etwas sein, was mir zur Ehre gereichte, und dann würde man Sie wahrscheinlich für einen Lügner halten. Trotz alledem merke ich aber nicht, daß mein Geschäft schlechter geht oder meine Klienten heikler werden. Ganz im Gegenteil. Es vergeht kein Tag, ohne daß nicht irgendeiner mit Schimpfworten über mich herfällt«, setzte er hinzu, »aber das macht weiter nichts. Die Sache geht ruhig ihren Gang, und ich werde nicht ärmer dabei.«
»Es fällt mir nicht ein, Schimpfworte oder Drohungen zu gebrauchen«, erwiderte der Alte, »aber ich könnte Ihnen sagen, was Sie durch das, was ich getan, verloren haben, was ich allein zurückzugeben imstande bin, was, wenn ich sterbe, ohne es zurückgegeben zu haben, mit mir ins Grab mitgenommen wird.«
»Ich zähle mein Geld genau nach und halte es stets unter eigenem Verschluß«; sagte Ralph, »ich sehe den Leuten, mit denen ich zu tun habe, scharf auf die Finger und habe es von Anfang an auch bei Ihnen getan. Sie können daher ruhig behalten, was Sie bei mir aufgegabelt haben.«
»Sind Ihnen die Angehörigen, die Ihren Namen tragen, teuer?« fragte der Mann mit Nachdruck. »Wenn dies der Fall sein sollte –«
»Es ist nicht der Fall«, unterbrach Ralph, aufgebracht durch die Zudringlichkeit des Mannes und den gleichzeitigen Gedanken an Nikolas, der durch die Frage in seinem Kopf entstand, »es ist nicht der Fall. Wären Sie wie ein gewöhnlicher Bettler zu mir gekommen, so hätte ich Ihnen vielleicht mit Rücksicht auf den Umstand, daß Sie früher einmal ein schlauer Spitzbube waren, einen Sixpence zugeworfen. Da Sie aber verbrauchte Kunstgriffe an einem Mann, den Sie besser kennen sollten, anzuwenden versuchen, so habe ich nicht Lust, mich auch nur von einem halben Penny zu trennen. Nicht einmal, wenn ich Sie vor dem Verfaulen dadurch retten könnte. Merken Sie sich, Sie Galgenvogel«, fuhr er fort und drohte dem Alten mit der Faust, »sollten Sie, wenn Sie mir begegnen, durch eine bittende Gebärde andeuten, daß Sie mich kennen, so werde ich Ihnen von neuem dazu verhelfen, das Innere eines Gefängnisses kennenzulernen. So, das ist meine Antwort auf Ihr Gewäsch – und damit basta.«
Mit einem verächtlichen Blick entfernte sich Ralph in seinem gewohnten ruhigen Schritt, ohne auch nur die mindeste Neugier zu verraten und sich auch nur ein einziges Mal umzublicken. Der Alte blieb unbeweglich stehen und sah ihm nach, bis er ihn aus dem Gesicht verlor, dann verschränkte er die Arme über der Brust, schauernd vor Kälte und Hunger, schlich am Wegrand weiter und bettelte die Passanten um Almosen an.
Ohne durch den Vorfall weiter berührt zu sein, verließ Ralph den Park, ließ Golden Square rechts liegen und nahm seinen Weg durch ein paar Straßen im Westend, bis er vor Madame Mantalinis Wohnung anlangte. Statt ihres Namens stand jetzt der Miss Knags auf der blanken Messingtürplatte, im übrigen sah das Haus ganz aus wie früher.
»Hm«, murmelte Ralph, das Gebäude mit Kennerblick von oben bis unten betrachtend, »es scheint hier noch ganz gut zu gehen. Lange kann's freilich nicht mehr dauern. Wenn ich aber rechtzeitig informiert werde, wie die Sachen laufen, komme ich schon zurecht und zu meinem Eigentum und noch obendrein zu einem hübschen Gewinn. Ich muß sie nur scharf im Auge behalten.«
Er nickte selbstgefällig und stand eben im Begriff, den Ort zu verlassen, als sein scharfes Ohr ein Stimmengeräusch, untermischt mit dem Lärm hastigen Treppenaufundablaufens, in dem Hause vernahm. Unschlüssig, ob er klopfen oder länger horchen sollte, blieb er stehen, aber gleich darauf wurde die Haustüre geöffnet, und mit flatternden Haubenbändern schoß ein Dienstmädchen Madame Mantalinis heraus, das er häufig gesehen hatte.
»Halt, halt«, rief er, »was gibt's? Ich bin es; haben Sie mich denn nicht klopfen hören?«
»Ach, Mr. Nickleby«, jammerte das Mädchen, »um Gottes willen, gehen Sie hinauf. Der Herr hat es schon wieder getan.«
»Was hat er getan?« fragte Ralph verdrießlich.
»Ich wußte, daß es so kommen würde, wenn man ihn so weit treibt«, rief das Mädchen; »ich hab' es immer gesagt.«
»So bleiben Sie doch stehen, Sie albernes Ding!« brummte Ralph und faßte sie am Arm, »wenn Sie so dummes Zeug unter die Nachbarn bringen, schaden Sie doch dem Kredit der Firma, verstehen Sie denn nicht?«
Rasch führte er das erschreckte Mädchen wieder in das Haus zurück, schloß die Türe und drängte sie die Treppe hinauf, ihr ohne weitere Zeremonien folgend. Er trat ins Wohnzimmer und war nicht wenig überrascht durch die Szene, die sich ihm darbot. Sämtliche Nähterinnen, einige mit Hüten, andere ohne solche, waren anwesend, und auf ihrer aller Gesichtern konnte man deutlich Unruhe und Bestürzung lesen. Einige von ihnen umstanden Madame Mantalini, die auf einem Stuhl saß und in Tränen zerfloß, andere scharten sich um Miss Knag, die, ebenfalls in Tränen, auf einem zweiten Stuhle saß, und noch andere hatten sich um Mr. Mantalini versammelt, der die auffallendste Figur in der ganzen Gruppe bildete, denn er lag, die Beine der ganzen Länge nach auf dem Fußboden ausgestreckt, da, und ein stämmiger Bedienter unterstützte ihm ratlos Kopf und Schultern. Mr. Mantalinis Augen waren geschlossen, sein Gesicht blaß, sein Haar verhältnismäßig wenig sorgfältig gebrannt und Schnurr- und Backenbart zerzaust. Er hatte die Zähne zusammengebissen und hielt ein kleines Fläschchen in der rechten und einen Teelöffel in der linken Hand, während Arme und Hände, Schultern und Beine steif und regungslos waren. Trotzdem schien Madame Mantalini nicht über seinen Zustand zu weinen, sondern erging sich auf ihrem Stuhl vielmehr in den heftigsten Ausdrücken, und alles das mitten in einem geradezu betäubenden Geschnatter, das den unglücklichen Bedienten bereits an den Rand der Verzweiflung getrieben zu haben schien.
»Was geht hier vor?« fragte Ralph und brach sich durch die Gruppen Bahn.
Sofort vermehrte sich der Lärm um das Zwanzigfache, und man hörte Stimmen gellen wie: er hat sich vergiftet – nein, hat er nicht – man hole den Doktor – nicht nötig – er stirbt – Gott bewahre, man stirbt nicht bloß so. – Solche und ähnliche Ausrufe folgten einander Schlag auf Schlag, bis man Madame Mantalini sich an Ralph wenden sah, worauf sofort die weibliche Neugierde die Oberhand gewann und Totenstille eintrat.
»Mr. Nickleby«, stöhnte Madame Mantalini, »ich weiß nicht, welchem Zufall ich ihren Besuch zu danken habe –«
»Verteufelt süße kleine Fee«, ließ sich plötzlich eine Stimme, wie die eines phantasierenden Fieberpatienten, vernehmen, aber niemand achtete darauf mit Ausnahme des Bedienten, der vor Schrecken, solche Töne zwischen seinen Fingern hervordringen zu hören, den Kopf seines Herrn laut auf den Boden niederplumpsen ließ und dann, ohne es zu versuchen, ihn wieder aufzurichten, die Umstehenden anblickte, als ob er wunder was Gescheites getan hätte.
»Ich benütze die Gelegenheit«, fuhr Madame Mantalini, sich die Augen trocknend, entrüstet fort, »hier vor Ihnen und vor jedermann ein für allemal zu erklären, daß ich der Verschwendungssucht und Niedertracht dieses Mannes nicht länger mehr Vorschub leiste. Ich habe mich lange genug von ihm hinters Licht führen und zum besten halten lassen. In Zukunft soll er sich selbst durchhelfen, und dann mag er sein Geld an wen und wie immer es ihm beliebt vergeuden. Von mir hat er nichts mehr zu hoffen. Sie werden daher gut tun, sich's vorher genau zu überlegen, ehe Sie ihm weiteren Kredit einräumen.«
Und ohne sich im geringsten durch die pathetischen Wehklagen von seiten ihres Gatten rühren zu lassen, die Blausäure sei nicht stark genug gewesen und er müsse noch ein oder zwei andere Fläschchen nehmen, um sein Werk zu vollenden, ging Madame Mantalini zu einer Aufzählung der galanten Abenteuer und der Fälle von Verschwendungssucht und Treulosigkeit ihres liebenswürdigen Eheherrn über und schloß mit einem feierlichen Protest gegen die Annahme, daß ihr auch nur noch ein kleiner Rest von Gefühl für ihn übriggeblieben wäre. Zum Beweis ihrer veränderten Gesinnungen führte sie den Umstand an, daß Mr. Mantalini sich in den letzten vierzehn Tagen nicht weniger als sechsmal in seinem Zimmer vergiftet und sie sich auch nicht ein einziges Mal eingemischt hätte, um durch Wort oder Tat zur Erhaltung seines Lebens beizutragen.
»Und ich bestehe darauf, von ihm geschieden zu werden«, schloß sie schluchzend. »Sollte er Einwendungen dagegen erheben, so werde ich einen Advokaten zu Rate ziehen. Es wird das, hoffe ich, allen Damen hier, die Zeugen dieses schmachvollen Auftrittes gewesen sind, zur Warnung dienen.«
Miss Knag, die fraglos eine der ältesten jungen Damen in dieser Gesellschaft war, fiel sofort feierlich ein, sie würde es sich sicher zur Warnung dienen lassen, und die übrigen folgten gehorsam ihrem Beispiel, höchstens eine oder zwei ausgenommen, die gewisse Zweifel zu hegen schienen, ob ein Gentleman mit einem solchen Backenbart überhaupt imstande sein könne, unrecht zu handeln.
»Wie können Sie vor so viel Leuten nur solche Worte gebrauchen!« verwies Ralph halblaut, »Sie wissen doch selbst, daß es Ihnen nicht ernst ist.«
»Doch, es ist mein Ernst«, widersprach Madame Mantalini laut und eilte an Miss Knags Seite.
»Alles recht schön, aber überlegen Sie sich«, bemerkte Ralph, da ihn die Sache ziemlich nahe anging, »überlegen Sie sich nur ein bißchen, was Sie da sagen. Eine verheiratete Frau hat keinen eigenen Besitz.«
»Äh, nicht einen verteufelten Penny«, mischte sich plötzlich Mr. Mantalini ein und richtete sich auf den Ellbogen auf.
»Ich weiß das genau«, erwiderte Madame Mantalini und warf den Kopf zurück, »ich habe auch gar keinen Besitz. Das Geschäft, der ganze Warenvorrat, das Haus mit allem, was drum und dran ist, alles gehört Miss Knag.«
»Sehr richtig, Madame Mantalini«, bestätigte Miss Knag, die mit ihrer früheren Prinzipalin zusammen hinsichtlich dieses Punktes umfassende Vorkehrungen getroffen hatte. »Sehr richtig, hm, sehr wahr; in meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh wie jetzt, daß ich damals Seelenstärke genug besaß, jeden Heiratsantrag, wie vorteilhaft er auch für mich sein mochte, zurückzuweisen, zumal, wenn ich meine jetzige Position in Vergleich ziehe mit Ihrer so unglücklichen und unverdienten Lage, Madame Mantalini.«
»Äh, verteufelt!« rief Mr. Mantalini, das Antlitz seiner Gattin zukehrend. »Wird mein Herzlieb die neidische alte Jungfer dafür nicht ohrfeigen, daß sie sich untersteht, solche Bemerkungen über ihr sie vergötterndes Männchen zu machen?«
Aber die schönen Tage, wo Mr. Mantalinis Schmeicheleien noch Anklang gefunden, waren endgültig vorüber. Die Putzmacherin sagte nur: »Miss Knag ist meine intimste Freundin«, und so sehr Mr. Mantalini auch die Augen verdrehte und berückend nach ihr hinschielte, so ließ sie sich doch dadurch nicht im geringsten erweichen.
Um der vortrefflichen Miss Knag Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, darf nicht unerwähnt bleiben, daß sie das Hauptwerkzeug gewesen war, das diesen Umschwung der Dinge herbeigeführt. Bald hatte sie herausgefunden, daß keine Möglichkeit war, das Geschäft in die Höhe zu bringen oder auch nur fortzuführen, solange Mr. Mantalini die Hand in die Kasse stecken durfte. Durch tägliche Erfahrung belehrt und am Fortgang des Geschäftes selbst beträchtlich interessiert, hatte sie sich deshalb die größte Mühe gegeben, einige kleine Privatliebschaften des Vortrefflichen auszukundschaften und sie Madame Mantalini gegenüber ins richtige Licht zu setzen. Dadurch wurden dieser die Augen weit wirksamer geöffnet, als es durch jahrelange vernünftige Vorstellungen möglich gewesen wäre. Den Ausschlag hatte Miss Knags Entdeckung eines Briefes Mr. Mantalinis gegeben, in dem dieser seine Gattin als alt und ordinär geschildert hatte.
Trotz ihrer Festigkeit vergoß Madame Mantalini jetzt die bittersten Tränen. Sie stützte sich auf Miss Knag, deutete nach der Türe und ließ sich von den anwesenden jungen Damen im Trauerkondukt hinausgeleiten.
»Nickleby!« wendete sich Mr. Mantalini tränenüberströmt an Ralph, »Sie sind Zeuge dieser – äh – verdammten Grausamkeit von Seiten der verteufeltsten Herzensfängerin, die je gelebt hat, gewesen. Teufel – äh – aber ich vergebe dieser Frau.«
»Vergeben?« wiederholte Madame Mantalini an der Türe.
»Ich vergebe ihr, Nickleby«, wiederholte Mr. Mantalini. »Sie werden mich tadeln, die Gesellschaft wird mich tadeln, die Damenwelt wird mich tadeln, jedermann – äh – wird verteufelt lachen und mich bespötteln und wird sagen, sie besaß in ihm das höchste Glück, aber sie wußte es nicht zu schätzen, und er war zu schwach, zu gut. Er liebte sie zu sehr. Er war – äh – ein verteufelt schöner Mann und konnte es nicht ertragen, daß sie ihn beschimpfte – aber ich vergebe ihr.«
Nach diesen herzzerbrechenden Worten fiel Mr. Mantalini wieder der Länge nach zu Boden und blieb anscheinend bewußt- und regungslos liegen, bis sämtliche Damen das Zimmer verlassen hatten. Dann aber richtete er sich vorsichtig in eine sitzende Stellung auf und starrte Ralph mit außerordentlich niedergeschlagenen Mienen an, immer noch das kleine Fläschchen in der einen und den Teelöffel in der andern Hand.
»Sie können dieses Possenspiel jetzt aufgeben und zusehen, wie Sie sich selbst durch die Welt helfen«, sagte Ralph und setzte kaltblütig seinen Hut auf.
»Äh, zum Teufel, Nickleby, das ist doch nicht Ihr Ernst?«
»Ich spaße selten«, erwiderte Ralph, »gute Nacht.«
»Nein, nein, Nickleby«, rief Mr. Mantalini, »so hören Sie doch!«
»Vielleicht habe ich unrecht«, brummte Ralph, »und ich hoffe, daß es sich so verhalten möge. Übrigens müssen Sie das am besten wissen. Gute Nacht.«
Taub für die Bitten, doch dazubleiben und Rat zu erteilen, überließ er den gänzlich entmutigten Mr. Mantalini seinen Betrachtungen und entfernte sich, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
»Oho«, brummte er, als er auf der Straße war, »bläst der Wind schon so bald aus dieser Richtung? Halb Spitzbube, halb Dummkopf, und in beiden Eigenschaften durchschaut? – Hm, ich dächte, Sir, ihr Stündchen hätte geschlagen.«
Dann notierte er sich etwas in sein Notizbuch, in dem der Name Mantalini sowieso schon des öftern prangte, sah auf die Uhr und eilte nach Hause. Es war bereits halb zehn.
»Nun, sind sie gekommen?« war seine erste an Newman Noggs gerichtete Frage.
Newman nickte. »Vor einer halben Stunde.«
»Zwei? Der eine ein dicker, glatt gekämmter Mann?«
»Ja«, sagte Newman, »sie sind in Ihrem Zimmer.«
»Schön. Holen Sie mir eine Droschke.«
»Eine Droschke? Wie – Sie wollten – wohin?« stammelte Newman.
Unwillig wiederholte Ralph seinen Befehl, und Mr. Noggs, begreiflicherweise sehr erstaunt, denn er hatte seinen Prinzipal noch niemals eine Droschke auf eigene Kosten bestellen hören, entfernte sich, um den Auftrag zu besorgen, und kehrte gleich darauf wieder zurück.
Mr. Squeers, Ralph und der dicke Herr stiegen eilig ein. Newman stand auf der Vortreppe, um ihnen zuzusehen, und kümmerte sich nicht weiter, wohin die Fahrt gehen möchte, bis er zufällig den Befehl hörte, den Ralph dem Kutscher hinsichtlich der Adresse gab. Dann aber schoß er schnell wie der Blitz und aufs äußerste erregt in sein kleines Bureau zurück, um seinen Hut zu holen, und hinkte dem Wagen nach, offenbar in der Absicht, hinten aufzuspringen. Aber er kam zu spät und blieb keuchend auf der Straße stehen. »Ich weiß übrigens nicht«, brummte er, »was dabei Gutes herausgekommen wäre, da sie mich doch unbedingt hätten sehen müssen. Dahin also geht der Weg! Was können sie nur vorhaben? Wenn ich es gestern gewußt hätte, würde ich meine Maßregeln getroffen haben. Also dahin. Dabei kann nichts Gutes herauskommen – hm.«
In seinen Betrachtungen wurde er von einem grauköpfigen Mann von höchst merkwürdigem und nichts weniger als ansprechendem Äußern unterbrochen, der leise an ihn herantrat und ihn um ein Almosen bat. Immer noch in tiefe Gedanken versunken, wandte er sich ab und ging weiter, aber der Mann folgte ihm und setzte ihm mit einer Schilderung seines Elends so zu, daß er, so hilfsbedürftig er selber war, schließlich stehenblieb und in seinem Hute nach einigen Halfpencestücken kramte, die er immer in einen Zipfel seines Taschentuches eingeknöpft bei sich trug. Während er noch beschäftigt war, den Knoten mit den Zähnen aufzulösen, sagte der Fremde etwas, was seine Aufmerksamkeit aufs höchste erregte. Ein Wort gab das andere, und schließlich gingen sie Seite an Seite miteinander fort – der Bettler in lebhaftem Gespräch und Newman aufmerksam zuhörend.