Die Vermählungsfestlichkeiten hatten einen traurigen Abschluß. Irma wurde krank. Die mannigfachen Aufregungen und Gemütsbewegungen der letzten Zeit waren zu viel gewesen für dieses Kind, das Kummer und Enttäuschungen bisher kaum dem Namen nach gekannt hatte. Am Tage nach dem Fest bei onkel Heinz lag sie in heftigem Fieber. Der Doktor wurde geholt, er erklärte, daß kein Grund zur Besorgnis vorläge, und daß nur äußerste Ruhe und Schonung nötig sei, da die Nerven des jungen Mädchens stark überreizt wären. Irma wollte nur von ihrer Mutter gepflegt werden; kam Ilse oder jemand von den andern ins Krankenzimmer, so wurde sie unruhig; wie bitter weh das der alten Dame auch tat, sie sah ein, daß sie sich fügen müsse, da die Gesundheit des geliebten Kindes auf dem Spiele stand. Bei Müllers herrschte die Ansicht, daß Hans Reichers plötzliche Abreise mit Irmas Krankheit in Beziehung stände; Fragen zu stellen wagte aber niemand, nur Agnes machte schüchtern eine zarte Anspielung, erhielt aber von Frau Gontrau kurz und bündig die Antwort, daß nichts zu berichten sei.
Das neu vermählte Paar war abgereist, und um Irma die Aufregung des Abschieds zu ersparen, hatte Maud ihr brieflich Lebewohl gesagt. Gustav und Flora kehrten heim, und Ruth beschloß mit ihrem Manne, daß er nach München vorausfahren solle, während sie auf die dringende Bitte ihres Töchterchens noch bleiben wollte, bis das Kind so weit hergestellt war, daß sie es ohne Sorge verlassen konnte. Die vollkommene Ruhe nach den geräuschvollen Festtagen, der stille Friede bei Großmama und die treue Pflege ihrer Mutter taten Irma gut; die furchtbare Reizbarkeit ließ nach, und sie lehnte sich auch bald nicht mehr dagegen auf, wenn Ilse bei ihr saß oder Ruth in der Pflege ablöste. Trotzdem fühlte die Großmutter, wie anders das Benehmen ihrer Enkelin geworden, und daß die innige Herzlichkeit von früher einer kühlen Zurückhaltung gewichen war, die ihr sehr weh tat. Sie ließ sich das freilich nicht merken, widersetzte sich auch nicht, als die nun fast genesene Irma den Wunsch aussprach, auf unbestimmte Zeit mit ihrer Mutter nach München zu gehen. Im Gegenteil, sie stellte Ruth vor, daß es nach dem Vorfall mit Hochstein für das junge Mädchen gut sein werde, in eine ganz andere Umgebung zu kommen; und als ihre Enkelin abreiste und Großmutters warme, innige Umarmung mit einem kühlen Kuß erwiderte, verstand die alte Frau sich zu beherrschen und schaute das Kind nur mit einem langen, schmerzlichen Blick an. —
Einige Tage zuvor waren Müllers mit Agnes und Karl auf Reisen gegangen, um die Ferien des Knaben in Holland und Belgien zu verbringen. Daher fühlte Großmutter Ilse sich sehr einsam, wenn sie so ganz allein in ihrem totenstillen Wohnzimmer saß. Traurig starrte sie vor sich hin und bei dem Gedanken, daß die Enkelin, die sie mit ganzer Seele liebte, sie fühllos und kalt verlassen hatte, füllten ihre Augen sich mit Tränen, und ein trostloses, wehmütiges Gefühl bemächtigte sich ihrer. Eine wohltuende Unterbrechung ihrer Einsamkeit bildeten die Besuche von onkel Heinz. Er setzte sich dann ohne viele Worte seiner alten Freundin gegenüber, wohl wissend, daß in solchen Augenblicken stille Teilnahme wohltätiger wirkt als lange Trostreden.
Endlich, als er einmal sah, wie große Tropfen über ihre bleichen Wangen rollten, konnte er es nicht mehr aushalten und fragte:
„Aber Frau Gontrau, möchten Sie ihrem alten Freunde nicht lieber mal erzählen, weshalb das Kind eigentlich fort ist, und warum es in letzter Zeit so garstig zu Ihnen war?“
„Woher wissen Sie, daß Irma garstig war?“ fragte die Großmutter erstaunt.
„O, alles, was Sie betrifft, merke ich sofort, wenn Sie auch vielleicht glauben, daß ich stumpf und gleichgültig geworden bin. Ich sah gleich, daß es außer Irmas Krankheit noch etwas gab, was Ihnen Kummer bereitete.“
Ilse tat gewiß das Klügste, indem sie onkel Heinz alles erzählte, was zwischen Irma und Hans vorgefallen war.
Der Professor schaute sinnend vor sich hin und sagte in den ersten Minuten kein Sterbenswörtchen.
„Glauben Sie, daß Reicher dem kleinen, dummen Ding ganz gleichgültig ist?“ fragte er endlich.