An einem der seltenen Märztage, welche die Hoffnung erwecken, daß der Lenz nun wirklich seinen Einzug halten will, an denen die Sonne schon köstlich wärmt und kleine Sträußchen von Märzveilchen und Schneeglöckchen angeboten werden, saß Ilse mit onkel Heinz im eichengetäfelten Wohnzimmer beim Schach. Im Kamin knisterte, trotz der Wärme draußen, ein lustiges Feuer, und leise tickte die große, altmodische Standuhr. Irma, die sich mit ihrer Stickerei in die Fensternische zurückgezogen hatte, dachte, wenn sie ab und zu nach den beiden Alten guckte, daß diese, so in ihr Spiel vertieft, ein wunderhübsches Bild abgäben.
Der Professor spielte mit unerschütterlichem Ernst; es war eine seiner Schwächen, sich zu ärgern, wenn er verlor beim Schachspiel — selbst wenn seine Gegenpartei eine Dame war. Ilse, die das wußte, und der es noch immer, wie in alten Zeiten, das größte Vergnügen bereitete, ihn in Harnisch zu bringen, spannte alle ihre Kräfte an. Auch hatte sie ihn schon ziemlich in die Enge getrieben. Seine Königin und seine beiden Türme waren genommen, und nun focht er verzweifelt mit einem Läufer, einem Springer und einigen Bauern.
Es klingelte.
„Da kommt Besuch,“ sagte Irma, ihr Näschen an den Scheiben platt drückend, „ich sehe eine Dame, kann aber nicht erkennen, wer es ist.“
„Wie schade,“ meinte Ilse, „noch ein paar Züge und Sie wären schachmatt gewesen, onkel Heinz.“
„Ach was,“ brummte der alte Herr. „Lassen Sie nur das Brett stehen, Frau Gontrau, und ich wette um alles, was Sie wollen, daß ich doch noch die Partie gewinne.“
Das Mädchen trat ein und meldete: „Fräulein Elisabeth Müller wünscht die gnädige Frau zu sprechen.“
„O weh!“ rief Irma, ihre Handarbeit zusammenpackend, „dann geh ich nach oben, Großmama; wenn sie nach mir fragt, bin ich nicht zu Hause.“
„Bleib hier, Kindchen,“ wandte Ilse ein, aber schon war Irma verschwunden.
„Der kleine Taugenichts hat recht,“ meinte onkel Heinz, „wenn ich nur könnte und von der verflixten Gicht nicht so geplagt wäre, würde ich mich auch auf die Beine machen.“
„Seien Sie doch still,“ bat Ilse, ein bißchen böse; dann stand sie auf, um Fräulein Müller zu empfangen.
Tante Elisabeth ging immer einfach gekleidet; heute aber hatte ihre Erscheinung etwas entschieden Quäkerhaftes an sich. Ihr eisengraues, glattes Kleid konnte nicht strenger sein als ihr Antlitz. Ilse fand plötzlich, daß sie ihrer Mutter, der Pfarrerin, sprechend ähnlich sah, wenn diese einmal ganz besonders tugendhaft oder unangenehm sein wollte.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Frau Gontrau,“ begann sie mit einem Seitenblick auf Professor Fuchs, in dessen Gesellschaft sie sich nie behaglich fühlte.
Ilse schob ihr einen bequemen Sessel hin.
„Sehr nett, daß Sie sich mal sehen lassen, Elisabeth,“ begann sie freundlich, „ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß Sie viel zu selten kommen.“
„Ach, ich mag mich nicht aufdrängen; heute aber habe ich etwas Besonderes mit Ihnen zu besprechen.“
onkel Heinz stand auf. „Dann wünschen Sie gewiß mit Frau Gontrau allein zu sein; ich gehe so lange in den Garten und will mal sehen, ob die Märzsonne gut für meine Gicht ist.“
Aber Ilse winkte ihm zu bleiben: „Wollen Sie mit mir über etwas sprechen, Elisabeth, was Sie selber angeht?“
„Nein, Frau Gontrau, die Sache betrifft ausschließlich Sie.“
„Dann bleiben Sie nur ruhig sitzen, Herr Professor,“ nahm Ilse wieder das Wort.
Es gab ja nichts in ihrem Leben, was ihr alter Freund nicht wissen durfte, und sie freute sich heimlich darüber, daß er der Gesellschaft der alten Jungfer nicht entrinnen konnte. „Vor Ihnen haben wir keine Geheimnisse.“
„Das müssen Sie am besten wissen, gnädige Frau; was ich Ihnen mitzuteilen habe, betrifft Ihre Enkelin Irma.“
Professor Fuchs spitzte die Ohren, und Ilse sagte absichtlich begütigend:
„Wirklich? Ich hoffe, die Kleine hat nichts getan, worüber Sie sich zu beklagen haben.“
„Ich nicht,“ entgegnete Fräulein Müller, mit verdrießlich herabgezogenen Mundwinkeln; „aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über das Betragen des jungen Mädchens die Augen zu öffnen.“
„Ei was,“ meinte Ilse, halb ärgerlich. „Die Kleine hat wohl etwas gesagt oder getan, was nicht ganz ehrerbietig und passend ist? Ich werde sie nachher darüber zur Rede stellen, aber wirklich, Elisabeth, so ernst dürfen Sie das nicht nehmen, von der Jugend müssen wir uns manches gefallen lassen und gegen ihre kleinen Sünden nachsichtig sein.“
„Ich weiß nicht, ob Sie es eine kleine Sünde nennen, wenn ein junges Mädchen wie Irma an einem abgelegenen Platz heimliche Zusammenkünfte mit einem Studenten hat,“ sagte Fräulein Müller mit nur mühsam unterdrückter Schadenfreude.
Großmutter Gontrau wurde totenbleich. onkel Heinz, der mit einem förmlichen Schreckensruf aufsprang, sah, wie sie krampfhaft die Stuhllehnen umklammerte und nach Selbstbeherrschung rang; ihre Stimme bebte, und ihre dunklen Augen blitzten wie früher, als sie fragte:
„Was meinen Sie damit, Elisabeth? Wer von einem jungen Mädchen solche Dinge sagt, muß sie auch beweisen können.“
„Das kann ich. Jeden Mittwoch Nachmittag hat Irma ein Stelldichein mit dem schönen Studenten, der ihr damals auf der Landpartie den Hof machte. Sie treffen sich in dem Wäldchen an der Chaussee, in der Nähe der Kaserne.“
„Wie wissen Sie das?“ stammelte Ilse.