Der größte Schmerz auf dieser Welt
ist: den verlieren, zu dem man hält.
Bisweilen, wenn ich recht weit in die große Ahlheide hinausgewandert bin, wo ich nur das braune Heidekraut um mich und den blauen Himmel über mir hatte; wenn ich fern von den Menschen wanderte und den Denkmälern über ihr Getriebe hernieden, die im Grunde nur Maulwurfshügel sind und die die Zeit oder irgend ein unruhiger Tamerlan einmal der Erde gleichmacht; wenn ich herzensleicht, freiheitsstolz wie der Beduine schwebte, den kein Haus, kein eng begrenztes Feld an die Ebene fesselt, sondern der alles hat, alles besitzt, was er sieht, der – nicht wohnt – sondern sich ergötzt, wo er will; wenn da mein weit umherschweifender Blick am Horizont ein Haus entdeckte und damit unbehaglich auf seinem leichten Fluge aufgehalten wurde; bisweilen entstand da – Gott vergebe mir diesen flüchtigen Gedanken, denn etwas andres war es doch nicht – der Wunsch: wäre doch diese Menschenwohnung nicht vorhanden! Hier wohnen auch Mühsal und Kummer, hier hadern, hier streiten sie auch um mein und dein! – Ach, die glückliche Wüste ist mein und auch dein, gehört allen, gehört keinem!
Ein Forstmann soll vorgeschlagen haben, die ganze Kolonieanlage zu zerstören, Wald auf den Feldern der Bewohner und in ihren geschleiften Ortschaften anzulegen; mir hat sich bisweilen der weit unmenschlichere Gedanke aufgedrängt: wenn hier doch noch krautbewachsene Heide wäre, dieselbe wie vor Jahrtausenden, ungestört, ungerodet von Menschenhänden! Doch, wie gesagt, ich meinte das nicht im Ernst. Denn wenn ich ermattet, müde, vor Hitze und Durst schmachtend mit schmerzlicher Sehnsucht an das Zelt des Arabers und seinen Kaffeekessel dachte, da dankte ich Gott dafür, daß ein heidekrautgedecktes Haus – falls nicht in meilenweiter Entfernung – mir Schatten und Erquickung verhieß.
Und befand ich mich nun vor einigen Jahren eines stillen warmen Septembertages weit draußen in derselben Heide, die ich in arabischem Sinne die meine nenne. Kein Wind bewegte das rotwerdende Heidekraut; die Luft war schwül und schläfrig. Die fernen Hügel, die den Gesichtskreis begrenzten, schienen gleich Wolken um die ungeheure Ebene zu schwimmen und nahmen viele wunderliche Gestalten von Häusern, Türmen, Schlössern, Menschen und Tieren an, jedoch alle von dunkelm, formlosem Umriß, unbeständig, wechselnd wie Traumbilder: bald verwandelte sich eine Hütte in eine Kirche, diese wieder in eine Pyramide; hier erhob sich eine Turmspitze, dort versank eine andre; ein Mensch wurde zu einem Pferd und dies wiederum zu einem Elefanten; hier schaukelte ein Boot und dort ein Schiff mit gespannten Segeln.
Lange vergnügte sich mein Auge an der Betrachtung dieser phantastischen Figuren – ein Panorama, das nur der Seemann und die Bewohner der Wüste zu genießen Gelegenheit haben – als ich schließlich müde und durstig nach einem richtigen Haus unter den vielen falschen zu suchen begann; ich wünschte innig, alle meine prächtigen Feenschlösser gegen eine einzige menschliche Hütte vertauschen zu können.
Es gelang mir auch: ich entdeckte bald einen wirklichen Hof ohne Turmspitze und Türme, dessen Umriß deutlicher und schärfer wurde, je näher ich ihm kam, und der, von Torfmieten flankiert, weit größer aussah, als er wirklich war.
Seine Bewohner waren mir unbekannt. Ihre Kleidung war ärmlich, ihr Hausgerät dürftig; aber ich wußte, daß der Heidebewohner oft edles Metall in einem ungestrichenen Schrein oder einem elenden Hängeschrank und eine dicke Geldtasche in einem geflickten Wams verwahrt. Als daher mein Blick beim Eintreten auf einen Alkoven fiel, der mit Strümpfen vollgestopft war, vermutete ich ganz richtig, daß ich mich bei einem wohlhabenden Strumpfhändler befand. (In Paranthese gesagt, kenne ich keine armen.)
Ein ältlicher, grauhaariger, aber noch kräftiger Mann erhob sich vom Tische und reichte mir die Hand mit den Worten: »Willkommen! – Mit Verlaub zu fragen, wo kommt Ihr her, guter Freund?«
Man halte sich nicht über eine so unfeine und zudringliche Frage auf! Der Heidebauer ist ebenso gastfrei, aber noch neugieriger als die schottischen Lairds, und im Grunde kann man es ihm nicht verdenken, daß er gern wissen möchte, wen er bewirtet.
Als ich ihm erzählt hatte, wer und woher ich war, rief er seine Frau, die sogleich auftischte, was das Haus vermochte, und nötigte mich mit einer gutherzigen Freundlichkeit zu essen und zu trinken, obwohl mein Hunger und Durst jede Nötigung überflüssig machten.
Ich war mitten im Essen und mitten in einem politischen Gespräch mit meinem Wirt, als ein junges und außerordentlich schönes Bauernmädchen eintrat, das ich unfehlbar für ein vor grausamen Eltern und aus einer widerlichen Ehe geflüchtetes, verkleidetes Fräulein erklärt hätte, wenn nicht ihre roten Hände und ihre unverfälschte Bauernsprache mich davon überzeugt hätten, daß keine Travestierung stattgefunden hatte. Sie nickte freundlich, warf einen flüchtigen Blick unter den Tisch, ging hinaus und kam gleich mit einem Teller Milch und Brot wieder, die sie mit den Worten auf die Erde stellte: »Ihr Hund braucht vielleicht auch etwas.«
Ich dankte für ihre Aufmerksamkeit; die aber war ganz dem großen Hund gewidmet, dessen Gefräßigkeit bald reinen Tisch machte und der nun auf seine Weise der Geberin dadurch dankte, daß er sich an sie schmiegte. Und da sie etwas ängstlich die Arme erhob, mißverstand Chasseur diese Bewegung, machte adroit und drängte das schreiende Mädchen rückwärts gegen den Alkoven – ich rief den Hund und erklärte ihr seine gute Absicht.
Ich würde die Aufmerksamkeit des Lesers nicht auf einen so trivialen Auftritt hingelenkt haben, wenn nicht um die Bemerkung anzubringen, daß den Hübschen alles gut steht; denn wirklich zeigte dieses Bauernmädchen in allem, was sie sagte und tat, eine gewisse natürliche Anmut, die keineswegs auf Rechnung der Koketterie geschrieben werden konnte, falls man nicht gerade einen angeborenen, unbewußten Instinkt so nennen wollte.
Als sie die Stube verlassen hatte, fragte ich die Eltern, ob es ihre Tochter sei. Sie bejahten es mit dem Zusatz, daß sie ihr einziges Kind sei.
»Die werdet Ihr wohl nicht lange behalten,« sagte ich.
»Gott bewahre, wie meinen Sie das?« fragte der Vater; aber ein selbstgefälliges Lächeln zeigte, daß er mich schon verstand.
»Ich denke«, erwiderte ich, »daß es ihr kaum an Freiern fehlen wird.«
»Hm!« brummte er, »Freier können wir genug bekommen; aber ob sie zu brauchen sind, darüber müßten wir reden. Mit einer Taschenuhr und einer silberbeschlagenen Pfeife zu freien, kann die Sache nicht in Gang bringen; zum Fahren gehört mehr, als Hüh! zu sagen. – Wahrhaftig!« fuhr er fort, wobei er beide Fäuste auf den Tisch stützte und sich vorbeugte, um aus dem niedrigen Fenster zu gucken, »kommt da nicht einer von ihnen – ein Schäferjunge, der eben erst von den Heidehügeln heruntergeklettert ist – hä, einer von den Kumpanen, die mit ein paar Packen Strümpfen im Quersack herumlaufen – dummer Hund! freit um unsre Tochter mit zwei Ochsen und drittehalb Kuh – ja, paß nur auf ihn auf! – Bettler!«
Diese ganze Ergießung war nicht an mich gerichtet, sondern an den Ankömmling, auf den sich sein verdüsterter Blick heftete, während dieser auf einem Heidekrautwege auf den Hof wanderte. Er war noch so weit entfernt, daß ich Zeit hatte, meinen Wirt wegen des jungen Menschen zu fragen, und zu erfahren, daß er der Sohn des nächsten Nachbarn sei – der notabene doch über eine halbe Meile entfernt wohnte – daß der Vater nur ein kleines Anwesen besaß, worauf er sogar dem Strumpfhändler zweihundert Taler schuldete, daß der Sohn ein paar Jahre mit Wollwaren herumgezogen sei und endlich gewagt hatte, um die reizende Cecil anzuhalten, aber eine glatte Absage erhalten hatte.
Während ich diese Erzählung anhörte, war sie selbst hereingekommen, und ihr besorgter Blick, der sich abwechselnd zwischen dem Vater und dem Wanderer draußen teilte, ließ mich erraten, daß sie nicht der Ansicht des Alten von der Sache sei. –
Sobald der junge Krämer zur einen Tür eintrat, ging sie zur andern hinaus, jedoch nicht ohne einen raschen, aber zärtlichen und schmerzlichen Blick.
Mein Wirt wandte sich zu dem Eintretenden um, griff mit beiden Händen um die Tischplatte, als brauchte er einen Stützpunkt, und beantwortete das »Gottes Frieden und guten Tag!« des jungen Menschen mit einem trocknen »Willkommen!«
Jener blieb erst eine Weile stehen, ließ seine Blicke im Zimmer umherlaufen, zog darauf aus der Innentasche eine Tabakspfeife, aus der Hintertasche einen Beutel, klopfte die Pfeife am Ofen neben sich aus und stopfte von neuem.
All das erfolgte langsam und wie in einem abgemessenen Takt, und mein Wirt verblieb immer noch unbeweglich in seiner eingenommenen Stellung.
Der Fremde war ein sehr schmucker Bursch, ein echter Sohn unsrer nordischen Natur, die langsam, aber kräftig und dauerhaft treibt: blondhaarig, blauäugig, rotwangig, dessen zartflaumiges Kinn noch kein Rasiermesser berührt hatte, obwohl er sicherlich bereits seine vollen zwanzig Jahre alt war. Er war nach Krämerart vornehmer gekleidet als ein gewöhnlicher Bauer, selbst als der reiche Strumpfhändler, in Rock und weiten Beinkleidern, rotgestreifter Weste und blaugeblümten baumwollenem Halstuch – er war für die schöne Cecilia kein unwürdiger Freier.
Mir gefiel er außerdem durch ein sanftes, offenes Antlitz, das von geduldiger Ausdauer zeugte – ein Hauptzug in dem cimbrischen Nationalcharakter.
Es währte eine Weile, bis einer von ihnen das Schweigen brechen wollte. Endlich tat doch der Wirt zuerst den Mund auf, langsam, kalt und gleichgültig fragend: »Wo geht die Reise heute hin, Esben?«
Der Angeredete antwortete, während er gemächlich Feuer für seine Pfeife schlug und sie unter langen Zügen anzündete: »Heute nicht weiter; aber morgen will ich nach Holstein.«
Hierauf entstand wieder eine Pause, in der Esben die Stühle betrachtete und einen wählte, auf den er sich setzte. Inzwischen kamen Mutter und Tochter herein; der junge Krämer nickte ihnen mit einer so vollkommen ruhigen und unveränderten Miene zu, daß ich hätte glauben können, die schöne Cecilia wäre ihm völlig gleichgültig, wenn ich nicht gewußt hätte, daß die Liebe in einer solchen Brust stark sein kann, wie still sie sich auch gibt, daß sie nicht eine Flamme ist, die flackert und sprüht, sondern eine Glut, die gleichmäßig und lange wärmt.
Cecilia setzte sich mit einem Seufzer an das unterste Tischende und fing an eifrig zu stricken; die Mutter ließ sich mit einem leisen »Willkommen, Esben!« am Spinnrocken nieder.
»Soll das wegen des Geschäfts sein?« nahm der Wirt jetzt das Wort. »Wie es sich trifft«, versetzte der Gast. »Man muß versuchen, was es da im Süden zu verdienen gibt. Mein Wunsch ist übrigens, daß Ihr Euch nicht allzu stark beeilen möchtet, Cecil zu verheiraten, ehe ich zurückkomme und wir sehen werden, wieweit ich Glück habe.«
Cecil errötete, starrte aber weiter auf ihre Arbeit.
Die Mutter hielt das Spinnrad mit der einen Hand an, legte die andre in den Schoß und sah starr auf den Sprechenden; der Vater aber sagte, indem er sich zu mir umwandte: »Das Gras wächst faul, dabei stirbt der Gaul! Wie kannst du verlangen, daß Cecil auf dich warten soll? Du kannst lange wegbleiben – kann sein, du kommst überhaupt nicht wieder.«
»Dann ist das Eure Schuld, Mikkel Kraensen!« fiel Esben ein; »aber das sage ich Euch: wenn Ihr Cecil zu einem andern zwingt, begeht Ihr eine große Sünde gegen sie und gegen mich.«
Damit stand er auf, reichte den beiden Alten die Hand und sagte ihnen ein kurzes Lebewohl. Zu seiner Braut sagte er, doch in einem etwas schwächeren und weicheren Tone: »Lebwohl, Cecil! Und Dank für alles Gute! Denk an mich auf das Beste, wenn du magst – Gott sei mit dir! – und mit Euch allen! Lebt wohl!«
Er wandte sich zur Tür, steckte Pfeife, Beutel und Feuerzeug ein, ein jedes in die betreffende Tasche, nahm den Stock und wanderte davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. – Der alte Mann lächelte wie bisher; seine Frau stieß ein »Ach, ja!« aus und setzte den Rocken wieder in Gang; aber Träne auf Träne rann über Cecilias Wangen nieder.
Ich hätte hier den willkommensten Anlaß gehabt, die Grundsätze zu entwickeln, die Eltern bei der Verheiratung ihrer Kinder leiten sollten. Ich hätte sie daran erinnern können, daß Reichtum zum ehelichen Glück nicht genügt, daß das Herz auch mitsprechen muß, daß Klugheit überall gebietet, mehr auf Rechtschaffenheit, Fleiß und Tüchtigkeit zu sehen, als auf Geld; ich hätte dem Vater seine Härte gegen die einzige Tochter vorhalten können (denn die Mutter schien mindestens neutral zu sein). Aber ich kannte das einfache Volk zu gut, um unnütze Worte an diese Materie zu verlieren; ich wußte, daß Vermögen in diesem Stande über alles geht – und – ob es bei den andern Ständen wesentlich anders ist? Ich kannte ferner die Festigkeit des Bauern in diesem Punkt, die bis zur Hartnäckigkeit geht, und wußte, daß er in Kontroversen dieser Art mit Überlegenen oft einlenkt und tut, als ginge er zu der andern Ansicht über, so daß man versucht wird, ihn für überzeugt und überwunden zu halten, gerade, wenn er unerschütterlich entschieden ist, seinem eigenen Kopf zu folgen.
Außerdem ist es noch eine Erwägung, die mir gebietet, nicht unaufgefordert meine Finger zwischen Messer und Wand, zwischen Tür und Angel, zwischen Hammer und Amboß zu stecken, nämlich die: ob nicht Reichtum doch von allen irdischen Gütern das realste ist, von denen notabene, die nach Epiktets Einteilung »nicht in unsrer Macht sind«.
Ist Geld nicht genügendes Surrogat für alle sublunarischen Herrlichkeiten? Unverwerflicher Vertreter für Speise und Trank, Kleider und Obdach, für Achtung und Freundschaft, ja selbst für einen gewissen Grad von Liebe? Ist Vermögen nicht schließlich das, was die meisten Genüsse verschafft und die größte Unabhängigkeit? Was die meisten Mängel ersetzt? Ist Armut nicht die Klippe, an der Freundschaft und selbst Liebe oft stranden? – »Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde«, sagt der Bauer; und was sagen die andern, wenn der Liebesrausch verflogen und die Flitterwochen vorbei sind? Allerdings wäre es wünschenswert, daß Amor und Hymen stets miteinander gehen könnten; aber sie möchten doch am liebsten Plutus in ihrer Begleitung haben.
Nach einer solchen Auffassung von der Welt, wie sie ist – vernünftiger vielleicht, als von einem Romanschriftsteller manche erwarten und andre wünschen – wird man es konsequent finden, daß ich mich nicht in Esbens und Cecilias Roman einmischte, um so weniger, als dieser seitens des ersten eine sehr vernünftige Spekulation gewesen sein dürfte, weniger auf Schönheit und Herz der Tochter berechnet, als auf den vollgepfropften Alkoven und schweren Hängeschrank des Vaters. Und obwohl ich wohl wußte, daß reine Liebe nicht eine rein poetische Erfindung ist, erkannte ich doch bereits damals, daß es sie öfter in Büchern als außerhalb ihrer gab. –
Als nunmehr die schöne Gecilia hinausgegangen war – vermutlich, um ungesehen ihren Gefühlen Ablenkung in einem reicheren Tränenstrom zu verschaffen – warf ich allein die Äußerung hin, es sei schade, daß der junge Bursch nicht wohlhabender sei, da es doch so aussah, daß er ein ordentlicher Mensch sei und es gut mit dem Mädchen meinte.
»Wenn,« setzte ich hinzu, »er einmal wieder heimkehren würde mit einem Dutzend guter Geldscheine –« »– und es seine eigenen wären«, fügte der alte Mikkel pfiffig hinzu, »ja, das wäre etwas anderes.«
Ich ging wieder hinaus auf die menschenleere und sorglose Heide. Weitab zur Seite sah ich noch Esben und die Rauchwolken seiner Pfeife: so – dachte ich – dampft er seine Sorge und seine Liebe fort. Aber die arme Cecilia? Ich warf noch einen Blick zurück auf den Hof des reichen Strumpfhändlers und sagte zu mir selbst: würde er nicht da liegen, würde es so viel weniger Tränen in der Welt geben.
Es vergingen sechs Jahre, ehe ich wieder in diese Gegend der Heide kam; es war ein ebenso stilles, warmes Septemberwetter wie das vorige Mal. Der Durst trieb mich in ein Haus und es traf sich so, daß das des Strumpfhändlers gerade das nächste war.
Als ich die einsame Wohnstatt des guten Mikkel Kraensen wiedererkannte, mußte ich zuerst an die schöne Cecilia und ihren Liebsten denken; und die Neugierde, zu erfahren, welchen Ausgang dieses Heideidyll gefunden hatte, trieb mich ebenso stark wie der Durst. Unter diesen Umständen bin ich sehr geneigt, die wirkliche Geschichte vorwegzunehmen; ich stelle meine Vermutungen an, ich stelle mir vor, wie es sein könnte und müßte, und versuche, wie weit mein Besteck mit der Leitung des Schicksals übereinstimmt.
Ach, meistens ist der Abtrieb meiner Vermutungen vom rechten Kurs der Ereignisse sehr groß! So auch hier: ich dachte mir Esben und Cecilia als Mann und Frau, sie mit einem Kinde an der Brust, der Großvater mit einem oder zwei größeren auf den Knien, der junge Krämer selbst als ein tätiger und glücklicher Leiter des nun erweiterten Strumpfhandels – aber es kam ganz anders.
Als ich in den Vorraum trat, hörte ich eine weiche weibliche Stimme singen, was ich zunächst für ein einschläferndes Wiegenlied hielt; doch war der Ton so schwermütig, daß meine hohe Erwartung bereits erheblich herabgesetzt wurde. Ich blieb stehen und lauschte. Der Inhalt des Liedes war Klage hoffnungsloser Liebe. Der Ausdruck war einfach, aber wahr und rührend; aber mein Gedächtnis behielt nur den am Schluß jedes Verses wiederkehrenden Kehrreim:
»Der größte Schmerz in dieser Welt
ist: den verlieren, zu dem man hält.«
Mit dunklen Ahnungen öffnete ich die Stubentür.
Ein großes, starkes Bauernweib von mittleren Jahren, das dabei war, die Spindel zu reinigen, fiel mir zuerst in die Augen; aber nicht sie hatte gesungen. Die Singende wandte den Rücken; sie bewegte sich dabei rasch hin und her und rührte die Hände, als ob sie spann. Die erste erhob sich und bot mir Willkommen; aber ich ging weiter, um der andern ins Gesicht zu sehen.
Es war Cecilia, bleich, aber noch schön, bis sie ihren Blick zu mir aufhob: ach, da leuchtete der Wahnsinn aus ihren mattglänzenden Augen, aus dem unbehaglich süßen Lächeln des ganzen Gesichts. Ich bemerkte auch, daß sie keinen Rocken vor sich hatte, sondern daß der, den sie sich einbildete zu treten, aus demselben Stoff sein mußte wie Macbeths Dolch.
Sie hörte mit dem Singen wie mit ihrem luftigen Spinnen auf und fragte mich eifrig: »Seid Ihr von Holstein? Habt Ihr Esben gesehen? Kommt er bald?«
Ich verstand, wie die Dinge lagen, und antwortete eben so rasch: »Ja, nun läßt er nicht mehr lange warten, ich soll von ihm grüßen.«
»Dann muß ich hinaus und ihm entgegengehen!« rief sie froh, sprang von ihrem kleinen Strohstuhl auf und eilte auf die Tür zu.
»Warte ein wenig, Cecil!« sagte die andre und legte die Kartätschen zur Seite, »und laß mich mitkommen!«
Dabei blinzelte sie mir zu und schüttelte mit dem Kopf – ihr Mienenspiel war überflüssig.
»Mutter!« rief sie laut nach der Küchentür, »hier ist jemand. Komm' rein! Denn jetzt gehen wir.«
Sie lief der Wahnsinnigen nach, die bereits draußen im Hofe war.
Die Alte kam herein; ich erkannte sie nicht wieder, vermutete aber ganz richtig, daß sie die Mutter des unglücklichen Mädchens sein mußte. Sorge und Alter hatten sie wohl auch stark angegriffen.
Auch sie erinnerte sich meiner nicht vom vorigen Mal; doch nach einem »Willkommen! Nehmt Platz!« tat sie die gewöhnliche Frage: »Mit Verlaub? Wo kommt Ihr her, guter Freund?«
Ich sagte es und erinnerte sie zugleich daran, daß ich vor einigen Jahren hier gewesen wäre.
»Herr Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen, »sind Sie das? Bitte schön, setzen Sie sich doch an den Tisch, ich will daweil ein Butterbrot machen – vielleicht sind Sie auch durstig?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, eilte sie in ein kleines Seitenzimmer und kam bald darauf mit Speise und Trank zurück.
Wohl war ich begierig, Näheres über die arme Cecilia zu erfahren; aber ein Vorgefühl von etwas besonders Traurigem dämpfte meine Neugier und hielt mich davon ab, geradezu nach dem zu fragen, was zu hören ich sowohl wünschte als auch fürchtete. »Ist Euer Mann nicht zu Hause?« war meine erste Anrede.
»Mein Mann?« sagte sie, »ihn hat der Herr schon lange zu sich genommen; ja, gewiß! Michaeli sind es drei Jahre, daß ich Witwe bin – noch ein Stück, bitte! Und verschmäht es nicht; es ist allerdings nur Bauernessen!«
»Vielen Dank!« versetzte ich, »ich bin mehr durstig als hungrig – Euer Mann ist Euch also gestorben ¦– das ist ein großer Verlust, eine große Sorge für Euch – «
»Ach ja!« seufzte sie mit tränenerfüllten Augen; »aber das ist nicht die einzige – Herr Gott, haben Sie nicht meine Tochter gesehen?«
»Ja,« erwiderte ich, »sie kam mir etwas sonderbar vor – «
»Sie ist ganz wahnsinnig,« sagte sie, in Weinen ausbrechend, »wir müssen uns jemanden halten, nur um auf sie aufzupassen, und die Frau kann auch nichts richtiges tun. Sie sollte ja etwas spinnen und stricken, aber das geht nicht vorwärts; denn sie muß mit ihr wohl sechzehn Mal am Tage hinauslaufen, wenn sie an Esben denkt –«
»Wo ist Esben?« unterbrach ich.
»In Gottes Reich,« erwiderte sie; »danach hatten Sie ja nicht gefragt? Ja, Gott gnade uns! Er starb einen elenden Tod; so etwas von Elend ist noch nicht dagewesen – Sie dürfen aber nicht so ablehnend sein, essen und trinken Sie beim Zuhören! – Ja, wahrlich, ich habe etwas durchgemacht, seitdem Sie das letztemal hier gewesen sind. Die Zeiten sind ja auch schwer: mit den Strümpfen ist es vorbei und wir müssen fremde Leute halten, die sich um alles kümmern müssen.« Da ich merkte, daß ihr Kummer über die Vergangenheit, vermischt mit der Sorge um die Gegenwart, nicht größer war, als daß sie mir ihre unangenehmen Erlebnisse ohne Schaden erzählen konnte, bat ich sie darum. Sie ging auf mein Ansuchen ein und gab mir einen Bericht, den ich – mit Auslassung nicht dazu gehöriger Einschiebsel – wiedergeben werde, so gut ich es vermag, in dem eigenen einfachen und einfältigen Stil der Erzählerin.
»Wir und Kjeld Esbensen,« hob sie an, nachdem sie einen Stuhl an den Tisch gestellt, sich darauf gesetzt und ihr Strickzeug zur Hand genommen hatte, »sind Nachbarn gewesen, seitdem ich auf dem Hofe bin. Kjelds Esben und unsre Cecil wurden gute Freunde miteinander, ehe es jemand wußte. Unser Mann war nicht sehr froh darüber und ich auch nicht, denn Esben besaß nicht viel und sein Vater überhaupt nichts. Aber wir dachten immer, das Mädchen hätte klüger sein müssen, als sich mit so einem grünen Jungen herumzuziehen. Er lief ja mit ein paar Strümpfen herum und verdiente ein paar Schillinge; aber wie weit hätte das denn gereicht? Nun kamen sie an und freiten; unser Mann sagte Nein – was ja nicht auffallend war – und damit zog Esben nach Holstein. Wir merkten noch, daß Cecil etwas schwermütig wurde; aber daran kehrten wir uns nicht: »Sie wird ihn schon vergessen,« sagte unser Mann, »wenn der rechte kommt.«
Es dauerte auch nicht lange, bis Mads Egelund – ich weiß nichts ob Sie ihn kennen? Er wohnt übrigens ein paar Meilen von hier, – bis er kam und mit einem schuldenfreien Hof und dreitausend Taler auf Zinsen anhielt. Das ließ sich ja ansehen. Mikkel sagte gleich Ja; aber Cecil – leider Gottes! sie sagte Nein. Da wurde mein Mann wütend und setzte ihr den Kopf zurecht. Ich fand ja, er war zu hart; aber mein seliger Mann wollte alles selbst bestimmen und deshalb ging er auch, er und Mads' Vater, zum Pastor und ließen aufbieten. Zwei Sonntage ging es gut; aber den dritten, als er sagte: »Hat jemand etwas dagegen zu sagen?« stand Cecil im Stuhl auf und rief: »Ja, ich! Esben und ich sind drei Mal im Paradies aufgeboten worden!«
Ich wollte sie zum Schweigen bringen; aber es war zu spät. Jeder Mensch in der Kirche hatte es gehört und sah auf unsern Stuhl – wir hatten eine rechte Schande auszustehn! – Ich dachte ja noch nicht daran, daß sie den Verstand verloren hätte; aber noch ehe der Pastor von der Kanzel gegangen war, fing sie wieder an etwas von Esben und dem Paradies herzubeten, von Brautkleid und Brautbett und dies und jenes, und das erste war das letzte und das letzte war das erste. – Wir mußten mit ihr aus der Kirche. Mikkel selig schimpfte sie aus und sagte, daß sie Schabernack triebe; ja, Gott bewahre uns vor Schabernack! Es war ihr voller Ernst; verrückt war sie und verrückt ist sie geblieben.«
Hier ließ die Erzählerin den Strickstrumpf in den Schoß sinken, nahm das Wollknäuel von der linken Schulter, drehte es ein paar Mal und besah es von allen Seiten. Aber ihre Gedanken waren wo anders; nach einer Pause von einigen Minuten drückte sie das Knäuel gegen beide Augen, hing es wieder an seinen Haken und setzte die Stricknadeln in rasche Bewegung, auf diese Weise den abgerissenen Faden der traurigen Begebenheit wieder zusammenknüpfend. »All ihre Reden liefen darauf hinaus, daß sie tot und ins Paradies gekommen sei und dort Esben heiraten sollte, sobald er auch tot sei; und das wiederholte sie nachts und am hellen Tage. Mikkel selig verstand denn auch, wie das gekommen war: »Das ist Gottes Hand,« sagte er, »seinem Willen kann sich niemand widersetzen.« Aber es ging ihm doch nahe, und ich weiß noch, wieviele Stunden ich in meinem Bett gelegen und geweint habe, wenn all die andern zur Ruhe gegangen waren. Bisweilen kam es mir so vor, es wäre besser gewesen, wenn die beiden jungen Leute zusammengekommen wären. »Kann ja sein,« sagte unser Mann, »aber das hat ja nun nicht sein sollen.«
In den ersten paar Monaten war sie gar nicht zu regieren, und wir mußten Schlimmes mit ihr durchmachen; später beruhigte sie sich etwas, redete nur wenig, seufzte aber und weinte immer wieder. Nichts wollte sie tun; denn »im Himmelreich«, sagte sie, »da ist alle Tage Feiertag.«
So ging wohl ein halbes Jahr dahin, und es war höchstens doppelt so lange, daß Esben nach Süden gezogen war, und niemand hatte etwas von ihm gehört, weder Gutes noch Schlimmes. Da geschah es eines Tages, gerade als wir hier saßen, Mikkel selig und Cecil und ich, daß Esben in die Tür trat. Er war eben von der Reise gekommen, war nicht einmal zu Hause gewesen und wußte auch nicht, wie es hier stand, bis er seine Augen auf das arme Mädchen richtete; da konnte er ja sehen, daß es nicht ganz richtig war.
»Du hast lange gebraucht,« sagte sie, »das Brautbett ist seit Jahr und Tag bereitet gewesen; aber sage mir erst, bist du tot oder lebendig?«
»Herr Gott, Cecil,« sagte er, »du kannst doch sehen, daß ich lebendig bin!«
»Das ist schade,« erwiderte sie, »denn dann kannst du nicht ins Paradies kommen. Müh' dich zu sterben, sobald du kannst! Denn Mads Egelund lauert nur darauf, daß er zuerst kommen kann.«
»Das sieht ja schlimm aus,« sagte er; »Mikkel, Mikkel, Ihr habt ein großes Unrecht an uns getan! Ich habe jetzt wohl an die fünftausend Taler; mein Mutterbruder in Holstein ist unverheiratet gestorben, und ich beerbe ihn.«
»Was sagst du da?«, sagte mein Mann, »das war schade, daß wir das nicht etwas früher wußten; aber laß dir Zeit! Das Mädchen kann sich ja wieder erholen.«
Esben schüttelte den Kopf und ging zu unsrer Tochter, um ihr die Hand zu geben. »Cecil,« sagte er, »sprich nun vernünftig! Wir sind ja beide lebendig, und wenn du verständig sein wirst, so geben deine Eltern ihre Zustimmung dazu, daß wir einander bekommen.«
Aber sie warf beide Hände auf den Rücken und rief: »Weiche von mir! Was habe ich mit dir zu schaffen? Du bist ein Mensch und ich bin ein Engel Gottes!«
Da drehte er sich um und begann recht bitterlich zu weinen: »Gott verzeihe Euch, Mikkel Kraensen,« sagte er, »was Ihr an uns zwei sündigen Menschen getan habt!«
»Beruhige dich,« sagte mein Mann, »es kann wieder gut werden. Bleibt die Nacht über hier, und laßt uns abwarten, was sie morgen sagt.«
Es war Abend und es zog ein schweres Wetter mit Donner und Blitzen auf, das furchtbarste, das ich je erlebt habe – vollständig, als sollte die Welt untergehen. So war auch Esben dafür, bei uns zu bleiben, und sobald das Wetter nachgelassen hatte, legte er sich in der Großstube hin. Wir andern gingen auch zu Bett; aber lange konnte ich durch die Wand hören, wie er seufzte und weinte. Ich glaube auch, er betete zu Gott im Himmel. Schließlich schlief ich auch ein. Cecil schlief in dem Alkoven, gerade Mikkels und meinem hier gegenüber.
Es mochte wohl eine Stunde oder etwas mehr über Mitternacht sein, als ich erwachte. Draußen war es stille und der Mond schien in das Fenster. Ich lag da und dachte an das Elend, das uns getroffen hatte; aber ich dachte nicht im geringsten, daß das geschehen war, was ich Euch jetzt erzählen werde. – Es kam mir vor, daß es so ruhig drüben bei Cecil war; ich konnte gar nicht hören, daß sie atmete. Auch von Esben vernahm ich nichts mehr. Mir war es, als ob nicht alles ganz richtig war. Ich schlich mich aus meinem eigenen Bett zu Cecils hin. Ich blickte hinein, ich fühlte nach ihr; aber sie war nicht darin. Nun wurde mir unruhig zu Mute, ich lief in die Küche und machte Licht, und damit ging ich nach der Großstube.
Oh, Gott helfe uns in Gnaden! Was mußte ich da sehen? Sie saß in Esbens Bett und hatte seinen Kopf in ihrem Schoß liegen. Doch als ich näher zusah, da war er so bleich wie eine Leiche. Sein Gesicht und die Laken waren rot von Blut. Ich gab einen Schrei von mir und stürzte zu Boden; aber Cecil winkte mir mit der einen Hand und streichelte seine Wange mit der andern. »Still! Still!«, sagte sie, »nun schläft mein Liebster den süßen Schlaf. Sobald ihr seinen Leib begraben habt, tragen die Engel seine Seele ins Paradies, und da wird dann unsre Hochzeit gefeiert mit großer Herrlichkeit und Freude.« – Ach! Ach! Du lieber Gott und Erlöser! Sie hatte ihm den Hals durchschnitten – das blutige Rasiermesser lag auf der Erde vor dem Bett.«
Hier verbarg die unglückliche Witwe das Gesicht in ihren Händen und weinte bitterlich, während Entsetzen und Schmerz meine Brust zusammenpreßten. Endlich gewann sie ihre gewohnte Fassung wieder und fuhr fort, wie folgt:
»Es wurde ein großes Klagen und Jammern, sowohl hier als auch bei Esbens; aber vollbrachte Tat ist nicht mehr zu ändern. Als sie mit ihm bei seinen Eltern angefahren kamen, – sie dachten er wäre wohl geborgen in Holstein – ja, da gab es ja ein Schreien und Heulen, daß der ganze Hof hätte einstürzen können. Er war ein ehrlicher Bursche und jetzt zu so viel Geld und Reichtum gekommen und mußte doch so elend sterben in seinem jungen Alter, und das von der Hand seiner Liebsten. – Mikkel selig konnte es auch nie verschmerzen; er wurde nie wieder er selbst. Ein paar Monate darauf legte er sich aufs Krankenbett und dann nahm ihn der Herrgott von mir.
Denselben Tag, an dem er begraben wurde, fiel Cecil in einen tiefen Schlaf und schlief wahrlich drei Tage und Nächte hintereinander. Als sie erwachte, war ihr Verstand wiedergekommen. Ich saß an ihrem Bett und erwartete, der Herr würde sie hinnehmen. Aber wie sie noch so dalag, tat sie einen tiefen Seufzer, richtete ihre Augen auf mich und sagte: »Was ist vorgegangen? Wo bin ich gewesen? Ich habe einen seltsamen Traum gehabt; mir war, als wäre ich im Himmelreich und Esben bei mir. – Herr Gott, Mutter! Wo ist Esben? Habt ihr nichts von ihm gehört, seitdem er nach Holstein gezogen ist?«
Ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Nein – sagte ich – wir wissen nichts weiter von ihm. Sie seufzte: »Wo ist Vater?« fragte sie dann. »Deinem Vater geht es gut« – erwiderte ich – »ihn hat Gott zu sich genommen.« – Da weinte sie. »Mutter! Ich will ihn sehen!« sagte sie. »Das kannst du nicht, Kind!« – erwiderte ich – »denn er liegt ja in der Erde.« »Gott bewahre uns!« schrie sie, »wie lange habe ich denn geschlafen?« – Hieran merkte ich, daß sie selbst nicht wußte, in welchem Zustand sie gewesen war. »Wenn ihr nicht geweckt habt, Mutter,« sagte sie wieder, »habt Ihr mir keinen Dienst getan! Ich schlief so süß, ich träumte so herrlich. Esben kam jede Nacht und besuchte mich in schimmernd weißen Kleidern und mit einem roten Perlenkranz um seinen Hals!«
Hier verfiel die Alte wieder in schwermütige Gedanken und erst nach mehreren tiefen Herzensseufzern setzte sie wieder fort.
»Das arme Kind hatte seinen Verstand also wiederbekommen; aber Gott weiß, ob das besser für sie war. Niemals war sie froh, sondern immer still betrübt, sprach nicht, außer wenn sie gefragt wurde, und versah ihre Arbeit stets sehr fleißig. Sie war weder krank noch gesund.
Das sprach sich bald hier in der Nachbarschaft herum und etwa ein Vierteljahr später kam Mads Egelund, um zum zweitenmal um sie anzuhalten; aber sie wollte von ihm nichts wissen, um nicht zu wenig und nicht zu viel zu sagen. Als er nun hörte, daß sie ihn durchaus nicht leiden könne, wurde er widersetzig und böse. Ich und die Leute und alle, die hierherkamen, paßten immer genau auf, daß wir nicht das kleinste Wörtchen darüber fallen ließen, sie selbst habe in ihrem Wahnsinn den armen Esben entleibt; und sie dachte wohl auch, daß er entweder tot oder unten im Süden verheiratet wäre.
Eines Tages, als Mads nun hier ist und stark in sie drängt, ihm ihr Ja zu geben, und sie da antwortet, daß sie lieber sterben wolle, als ihn zu heiraten, sagt er doch gerade heraus, daß er gar nicht so versessen auf eine wäre, die ihrem Liebsten den Hals abgeschnitten habe. Und damit erzählt er ihr das ganze, wie es sich zugetragen hatte. Ich stand draußen in der Küche und hörte es so halb und halb. Ich werfe das hin, was ich in der Hand habe, laufe 'rein und rufe ihm zu: »Mads! Mads! Gott vergebe Euch! Was macht Ihr da?« Aber es war zu spät; sie saß auf der Bank so blaß wie die Wand, und die Augen standen ihr stier aus dem Kopf.
»Was ich tue?« sagte er, »ich sage doch nichts andres, als wahr ist. Es ist besser, sie bekommt es zu wissen, anstatt sie zum Narren zu halten und sie ihr Lebelang auf einen toten Mann warten zu lassen. – Lebwohl und danke schön!«
Er ging; aber sie hatte einen Rückfall bekommen und erhält wohl nie mehr ihren Verstand wieder in diesem Leben. Ihr seht selbst, wie sie ist: alle Zeit, wenn sie nicht schläft, singt sie das Lied, das sie selbst gedichtet hat, damals als Esben nach Holstein zog, und bildet sich ein, sie spinnt die Brautlaken. Sonst ist sie ja ruhig – Gottlob! und krümmt keiner Katze ein Haar; aber wir dürfen sie doch nicht außer Augen lassen. Gott sehe sie in Gnaden an und mache bald mit uns beiden ein Ende!«
Während sie die letzten Worte sprach, kam die Unglückliche mit ihrer Begleiterin herein. »Nein,« sagte sie, »heute ist er nicht zu sehen; aber morgen haben wir ihn gewiß. Ich muß mich beeilen, wenn ich mit den Laken fertig werden will.«
Sie setzte sich rasch auf ihren kleinen Strohstuhl und unter rascher Bewegung von Händen und Füßen stimmte sie wieder ihren Klagesang an. Ein langer Seufzer aus der Tiefe ging jedesmal dem Kehrreim voran:
Der größte Schmerz auf dieser Welt
ist: von dem sich zu trennen, zu dem man hält.
Ihr schönes bleiches Gesicht sank dann auf den Busen herab, Hände und Füße ruhten einen Augenblick; doch bald richtete sie sich schnell wieder auf, stimmte einen andern Vers an und setzte den Gespensterrocken in Gang.
In schwermütigen Gedanken wanderte ich zurück; meine Seele hatte die Farbe der Wüste angenommen. Meine Phantasie war allein mit Cecilia beschäftigt und ihrem schrecklichen Geschick. In jedem fernen Luftbilde glaubte ich die Tochter des Strumpfhändlers zu sehen, wie sie saß und spann und sich bewegte und die Arme ausstreckte. Im traurigen Pfeifen des Regenpfeifers, im einförmigen Klagetriller der einsamen Heidelerche hörte ich nur die traurigwahren, von so vielen Tausenden von verwundeten Herzen tiefempfundenen Worte:
Der größte Schmerz auf dieser Welt
ist: von dem sich zu trennen, zu dem man hält.