In einer Kaffeehausecke saßen zwei Freunde und tranken Likör. Fedor Iwanow rauchte, kreuzte ein Bein übers andre und blickte ein hübsches Mädchen an, das unweit von ihnen saß. Dann sagte er gleichgültig zu Wladimir Pjotrew:
»Du bist also zum Vortrag gegangen?«
»Ja. Und es war einfach verblüffend.«
»Worüber wurde gesprochen?«
»Über Gedächtniskunst.«
»Gedächtniskunst? Was ist denn das für eine Wissenschaft?«
»Das ist die Kunst, sich alles zu merken. Der Professor hat Experimente gemacht – es ist einfach unglaublich, was der Mensch sich alles gemerkt hat.«
»Und was hat das mit dir zu tun?« rief Fedor.
»Du weißt doch«, sagte Wladimir, »daß ich unter meinem schlechten Gedächtnis leide.«
»Und diese neue Wissenschaft soll dir helfen?« lachte Fedor.
»Gewiß. Sie ist wirklich unglaublich. Ich werde dir gleich ein Beispiel geben. Du erinnerst dich doch, daß ich alle Zahlen vergesse – bis heute weiß ich deine Telephonnummer nicht.«
»Und jetzt?«
»Jetzt wird es anders.«
»Na, da bin ich neugierig«, erwiderte Fedor, nahm einen Schluck und blinzelte der Dame zu. »Wie machst du es also?«
»Ganz einfach«, sagte Wladimir. »Sag mir einmal langsam und deutlich die Nummer vor.«
»54-26.«
»54-26 . . . und jetzt gib acht: die erste Hälfte ist 54, die zweite 26. Wenn man also die zweite doppelt nimmt, hat man die erste.«
»Verzeih, aber das stimmt nicht. Zweimal 26 ist doch 52 und nicht 54.«
»Das ist richtig. Man muß also die zweite Hälfte doppelt nehmen und 2 dazugeben.«
»Schön«, rief Fedor. »Aber dann könnte die Nummer immer noch 26-12 sein.
»Das ist wahr«, rief Wladimir nachdenklich »Wie sagst du, war die Nummer?«
»54-26.«
»Augenblick, ich werd' es gleich haben. Versuchen wir es so: an Händen und Füßen hab' ich 20 Nägel, aber wie merkt man sich 6?«
»Hör einmal«, sagte Fedor, »vielleicht wär' es doch besser, wenn du die Nummer notiertest . . .«
»Wenn du mich immer unterbrichst«, rief Wladimir erregt, »werde ich es nie herausbekommen. Entweder interessierst du dich für Gedächtniskunst oder nicht.«
»Gewiß. Ich wollte es dir nur erleichtern.«
Wladimir saß in Gedanken versunken, dann sprach er:
»Vorhin war es doch besser. Man muß die zweite Hälfte verdoppeln und dazugeben, aber wie merkt man sich die zweite Hälfte? Vielleicht: ein 25 Rubel-Schein und 1 Silberrubel?«
»Das ist zu schwierig«, sagte Fedor. »Weißt du nichts Besseres? Wie alt bist du denn?«
»32.«
»Na also. Von deinem Alter 6 abgezogen, und du hast 26.«
»Gut«, erwiderte Wladimir. »Und wie merke ich mir 6?«
»Vielleicht 5 Finger und 1 Silberrubel?«
»Nein, das geht nicht«, rief Wladimir erregt. »5 Finger, 1 Rubel – du hast überhaupt kein Talent für Gedächtniskunst.«
»Dann hilf dir allein!« sagte Fedor geärgert und bestellte sich einen Benediktiner.
»Benediktiner?« sagte Wladimir. »Das Wort Benediktiner hat gerade so viel Buchstaben, daß sie mit 2 multipliziert die zweite Hälfte deiner Telephonnummer ergeben.«
»Das stimmt doch wieder nicht«, rief Fedor. »Benediktiner hat 12 Buchstaben und wir brauchen 13.«
»Dann schreiben wir Benediktiner eben mit ck.«
»Gut«, sagte Fedor. »Zwei Benediktiner mit ck, multipliziert mit 2 plus: – nein, das kann sich niemand merken. Es muß etwas Einfacheres geben.«
»Wie war eigentlich die Nummer?« fragte nach einer Weile Wladimir.
»54-26«, rief Fedor gereizt.
»Und was hältst du davon« – sagte Wladimir – »mein Vater war 57, als er starb. Meine Schwester ist mit 21 gestorben – wenn man also von 57 3 abzieht, ist mein Vater 3 Jahre vor der ersten Hälfte deiner Telephonnummer gestorben und meine Schwester 5 Jahre vor der zweiten.«
»Unmöglich!« sagte Fedor und schlug auf den Tisch. »Aber jetzt ist mir etwas Besseres eingefallen. Also die Nummer ist 54-26. Wenn man 5 und 4 addiert, ergibt das 9, und wenn man 2 und 6 addiert, ergibt das 8. Wenn man 9 und 8 zusammenzählt, erhält man 17, merk dir, 17 . . .«
Wladimir schüttelte den Kopf und murmelte verzweifelt: »Nein, das geht auch nicht. Sag einmal – wann war der Krimkrieg?«
»Der Krimkrieg war 54.«
»Wir haben es«, sagte strahlend Wladimir. »Die erste Hälfte der Nummer ist gefunden. Jetzt kommt die zweite. Nehmen wir einfach den Dreißigjährigen Krieg und ziehen 4 ab, dann haben wir 26.«
»Na also«, rief Fedor anerkennend. »Aber wie merkst du dir die 4?«
»Wie merk' ich mir die 4 . . . natürlich, die 4 Himmelsrichtungen. Dabei bleibt es. Also noch einmal: der Krimkrieg, der Dreißigjährige Krieg, die 4 Himmelsrichtungen – genial!«
»Und wie wirst du dir das merken?« fragte Fedor.
»Das ist doch ganz einfach!« rief Wladimir. »Jetzt schreib' ich mir die ganze Geschichte ins Notizbuch ein.«
Fedor starrte ihn an, stand auf und verließ ohne Gruß das Kaffeehaus.