Es hatte lange gedauert, doch endlich war auch das letzte Möbelstück aus dem Haus getragen worden, die Räume gereinigt und der letzte Inspektionsgang getätigt. Das Haus war zur Übergabe an den Vermieter bereit.
Doch noch wollte und konnte Marianne ihr ehemaliges Zuhause nicht verlassen. Eine letzte, schmerzliche Aufgabe lag noch vor ihr. Bis jetzt hatte sie diese hinaus gezögert, doch nun gab keinerlei Grund mehr für einen weiteren Aufschub. Es war an der Zeit von einem treuen, lieben Freund Abschied zu nehmen.
Sie öffnete die Glastüre der ehemaligen Küche, trat hinaus auf die Treppenstufen, welche zur Terrasse führten. Auf der zweiten Stufe von oben setzte sie sich nieder, ließ automatisch etwas Platz neben sich frei, denn sie wusste es würde nicht lange dauern und Trixi, ihre Mischlingshündin, würde ihr folgen und sich neben ihr setzten. So war es auch. Kaum saß Marianne da kam die schwarz-graue Hündin aus dem Haus heraus und setzte sich ohne zu zögern neben ihr
Marianne musste leicht schmunzeln.
So war es in den letzten Jahren immer gewesen. Egal zu welcher Tageszeit sie sich auf den Stufen zu einer kleinen Pause während der Hausarbeit niederließ - Trixi hatte immer an ihrer Seite gesessen. Mit wachsamem Blick hatte sie in den Garten geschaut. Gerade so als wollte sie kontrollieren ob auch noch alle Blumen und Sträucher an ihren Platz waren und ob kein Fremder den sorgfältig gepflegten Garten betreten hatte. Sie sah den Garten quasi als ihr Reich an zu dem nur ausgewählte Personen ihrerseits Zutritt hatten. Kein ihr Unbekannter durfte ihn betreten, kein Tier aus der Nachbarschaft über den Rasen tollen.
Mit einer Ausnahme!
Suchend glitt Mariannes Blick über den jetzt verwilderten Garten. Seit dem sie wusste das sie das Haus für immer verlassen musste hatte sie nichts mehr im Garten getan. In den ehemals gepflegten Blumenbeeten wuchs Unkraut und der früher sorgfältig gemähte Rasen hatte sich in eine wildwuchernde Grasfläche verwandelt. Es sah alles verwahrlost und ungepflegt aus. Doch das störte sie im Augenblick nicht. Ihr Blick glitt suchend über diese Verwahrlosung hinweg.
Wo war er? Wann würde er in Erscheinung treten, ihr Freund und Vertrauter vieler Jahre?
Ein leises Rascheln im hohem Gras ließ sie erleichtert aufatmen.
Er kam. So wie immer, wenn sie und Trixi hier saßen.
Das Gras teilte sich und der schlanke Körper eines ausgewachsenen rot-weißen Katers schob sich langsam auf dem Gartenweg. Vorsichtig den Kopf hin und her bewegend sondierte das Tier die Umgebung und wandte sich dann der Terrasse zu. Mit langsamen, geschmeidigen Schritten betrat er diese, sprang geschickt über einen kleinen aufgestapelten Berg roter Terrassensteine und näherte sich den Treppenstufen. Nervös zuckte die roten Schwanzspitze hin und her und noch einmal schaute das Tier über die Schulter zurück in den Garten so als erwarte es von dort irgend eine Gefahr.
Verzückt beobachtete Marianne den Kater. Wie sein weißes Fell im Licht der untergehenden Sonne leuchtete. Es zog sich über den ganzen Unterbauch bis zur Brust hin. Sogar der Unterkiefer war noch schneeweiß, bis auf einen kleinen roten Fleck genau an der Unterlippe. Erst über der kleinen, rosafarbenen Nase setzte die Rotfärbung des Felles ein, zog sich über den Kopf, der Rückenpartie und den Hinterläufen bis zur Schwanzspitze. An den Vorderläufen besaß er jeweils nur ein Stückchen seines roten Felles. So als ob ihn jemand Kniestrümpfe angezogen hätte während die weißen Vorderpfoten wie farblich dazu passende Schuhe wirkten.
Das bemerkenswerteste aber waren seine Augen, mit denen er jetzt zu Marianne hinauf sah.
Bernsteinfarben, mit schwarzen Pünktchen durchsetzt waren sie, die grüne Iris in der Mitte zu einem schmalen Spalt verengt. Marianne war schon immer von diesen Augen begeistert gewesen. Und sie war innerlich der festen Überzeugung noch nie eine Katze oder einen Kater mit solchen Augen gesehen zu haben. Grüne Augen, ja die hatte ihrer Meinung nach, fast jedes Tier dieser Spezies----aber bernsteinfarbene?
Die Überprüfung des Gartens musste wohl zu keinerlei Besorgnis seitens des Tieres Anlass gegeben haben, denn nun kam der Kater langsam, eine leises Schnurren dabei von sich gebend, die Stufen hoch.
Er zeigte keinerlei Furcht vor der dort sitzenden Hündin. Im Gegenteil.
Sein Schnurren wurde lauter und sobald er sie erreicht hatte rieb er zur Begrüßung seinen Kopf zwischen ihren Vorderpfoten in Höhe der Brust. Und Trixi?
Sie zog die Lefzen etwas zurück, gerade so als wollte sie lächeln, und mit einer schnellen Bewegung schleckte sie dem Kater einmal kurz über den Kopf. Genau zwischen den Ohren. Es war die Begrüßung von zwei alten Vertrauten, welche seit Jahren Haus und Garten bewacht und schon viele Stunden gemeinsam nebeneinander liegend auf den Treppenstufen verbracht hatten.
Bereitwillig rückte Trixi etwas zur Seite und der Kater schob sich zwischen sie und Marianne, setzte sich auf die Hinterpfoten, legte seinen Schwanz fein säuberlich über die Vorderpfoten und wandte dann seinen Kopf endlich der Frau zu. Nun kam ihre Begrüßung an die Reihe.
Marianne wusste genau, das Benny, der Kater, kein Tier war, welches man einfach auf den Arm nehmen konnte. Nein, er hatte eine unnachahmliche würdevolle Art an sich, welche sie bereits seit Jahren respektierte. Er kam zu ihr ins Haus, ließ sich füttern, machte auch sein Nickerchen auf dem Teppich unter dem Wohnzimmertisch. Aber nur wenn ER es wollte. Menschliche Nähe ließ er nur in Ausnahmefällen zu. Er war nun mal kein Schmusekater im eigentlichen Sinne. Er ließ sich zwar von ihr streicheln und liebkosen, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung und immer darauf bedacht seine persönliche Freiheit nicht aufzugeben.
Und doch war er Mariannes ein und alles. Er war „ ihr“ Benny.
Marianne hob die Hand, streichelte dem Tier leicht über den Rücken und begann sanft ihm hinter den Ohren zu kraulen. Benny belohnte diese Liebkosung mit einem erneuten lauteren Schnurren, drehte den Kopf, so das Marianne an seinen Unterkiefer kam und die Kraulerei dort fortsetzen konnte. Er liebte es so liebkost zu werden.
Marianne aber musste dabei heftig schlucken. Sie wusste, dass dieses das letzte Mal war, das sie ihren geliebten Benny so berühren konnte. Es hieß für sie beide Abschied zu nehmen, denn Benny konnte sie in die neue Wohnung leider nicht begleiten.
Er war ein Freigänger. Ein Kater, der es liebte nachts durch die Gärten zu streifen, sein Revier zu kontrollieren und dort für Ordnung zu sorgen. Kein fremder Kater durfte sich in den Gärten der Nachbarschaft häuslich niederlassen. Und die Katzendamen der Umgebung gehörten zu seinem Harem, er duldete keinen Nebenbuhler. Seine größte Freude aber war es die Hunde der Nachbarn zu ärgern. Nur allzu gern strich er durch die Gärten und lockte sie aus ihren Häusern und Hütten. Wenn sie dann versuchten ihn zu fassen zu bekommen, sprang er elegant über die Zäune und flüchtete sich zu Trixi, die ihren Freund natürlich vor den anderen Hunden beschützte. Schon oft hatte sie wild kläffend hinten am Gartentor gestanden und die anderen Hunde verscheucht während er, mit unschuldsvoller Geste sein Fell putzend, mitten auf den Gartenweg oder Rasen saß.
So einen Kater konnte man nicht in eine Etagenwohnung sperren. Er würde dort, seiner geliebten Freiheit beraubt, wie eine Blume ohne Sonne eingehen. Und auch wenn Trixi und Marianne sich noch so liebevoll um ihn kümmern würden, seine Sehnsucht nach dem vertrauten Revier hätten sie niemals stillen können. Er war nun mal nicht für ein andauerndes Leben in der Wohnung geeignet.
Schweren Herzens hatte Marianne sich entschlossen ihn hier, in der vertrauten Umgebung, zurück zu lassen. Sie hatte mit den Nachbarn alles besprochen. Sie würden sich um Benny kümmern. Würden dafür sorgen, das er einmal am Tag sein Schälchen Milch bekam und das am Abend immer eine Schale Trockenfutter für ihn bereit stand.
Mit leiser Stimme begann sie auf das Tier einzusprechen. Versuchte ihn zu erklären, warum und wieso sie ihn verlassen musste. Und während die Worte immer stockender über ihre Lippen kamen schaute Benny sie unverwandt aus seinen Bernstein-Augen an. So als verstehe er jedes Wort das sie sagte.
Als sie stockte, nicht mehr weitersprechen konnte, weil ihr der Abschied so schwer fiel, da richtete sich der Kater auf. Er legte beider Vorderpfoten auf ihre Oberschenkel und kam mit seinem Kopf immer näher zu ihr heran. Und dann – so als wollte er ihr ein letztes Mal seine Zuneigung zeigen- rieb er seinen Kopf an ihrem Kinn. Sein Schnurren wurde lauter. Der Druck seines Kopfes stärker. Doch als Marianne ihn – wider besseren Wissens- auf den Arm nehmen wollte wich er zurück.
Geschmeidig glitt er die Treppenstufen hinab, lief bis zur Terrassenmitte und drehte sich dort noch einmal um. Er schaute zu Marianne und Trixi zurück- so als wollte er sich ihren Anblick einprägen und dann, mit weiten, eleganten Sätzen durchquerte er den Garten. Sprang auf den Pfosten des Gartentores, verweilte dort einen Moment und verschwand hinter dem Zaun.
Marianne und Trixi aber saßen noch lange auf den Treppenstufen. Ahnte die Hündin etwas von dem Abschied? Eng hatte sie sich an ihr Frauchen geschmiegt und schaute in den Garten. Marianne aber saß dort und fühlte den Abschiedsschmerz in sich, aber gleichzeitig auch die Gewissheit richtig gehandelt zu haben. Auch wenn jetzt, wie so oft in letzter Zeit, Tränen des Abschieds über ihr Gesicht liefen - Bennys Freiheit waren ihr diese Tränen wert.