Junge Mediziner in Deutschland wollen lieber in der Stadt als auf dem Land praktizieren. Eine norddeutsche Gemeinde kam auf eine Idee, etwas dagegen zu tun – mit Vorteilen für die Gemeinde und die Ärzte.
Im Gesundheitszentrum der Gemeinde Büsum an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste warten die Patientinnen und Patienten. Es ist zehn Uhr am Morgen. Seit zwei Stunden sind die Ärzte hier schon auf den Beinen, um sich um ihre Patientinnen und Patienten zu kümmern. Anders als in anderen ländlichen Regionen dürfte in Büsum die ärztliche Versorgung auch in Zukunft gesichert sein. Grund ist ein deutschlandweit neuartiges Modell: Vier einzelne Arztpraxen, die bereits in einem Gebäude untergebracht waren, haben sich zu einem Ärztezentrum zusammengeschlossen. Die Ärztinnen und Ärzte sind nicht mehr selbstständig, sondern sind Angestellte der Gemeinde. Ihre Praxen gehören einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der Gemeinde, der „Ärztezentrum Büsum gGmbH“. Diese wiederum arbeitet mit der „Ärztegenossenschaft Nord“ zusammen, die sich um das Kaufmännische, also um Buchhaltung, Personalführung, Finanzen und Technisches kümmert. Der Geschäftsführer der Ärztegenossenschaft, Thomas Rampoldt, erklärt, wie es dazu kam:
„Dann hat die Gemeinde gesagt: ‚Wir wollen das nicht selbst managen, sondern wir wollen uns jemanden holen, der das versteht.‘ Wir haben dann mit der Gemeinde Büsum, also wir ‚Ärztegenossenschaft Nord’, einen Managementvertrag geschlossen. Aber im Grundsatz [gilt]: Alles, was an medizinischen Entscheidungen da ist, das treffen die Ärzte. Wir kümmern uns um das Kaufmännische.“
Damit die Mediziner des Ärztezentrums sich ganz auf die Behandlung der Patientinnen und Patienten konzentrieren können, entschied die Gemeinde, die kaufmännische Verantwortung auszulagern, sie von Experten erledigen zu lassen. Sie holte sich jemanden, der von solchen Dingen etwas versteht. Zu dem Ärzteteam gehört auch Kerstin, die gute Gründe für ihre Bewerbung hatte, wie sie sagt:
„Ich hab nach meiner Facharztweiterbildung ’ne Anstellung gesucht, weil ich nicht direkt die Verantwortung und den damit verbundenen Aufwand einer eigenen Praxis auf mich nehmen wollte. Ich hab hier eben die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten, in meinem Fall ist das ’ne halbe Stelle, also 20 Stunden maximal wöchentlich. Und kann eben auch relativ sicher sein, nicht Dutzende von Überstunden machen zu müssen, sondern kann mich auf diese Arbeitszeiten gut verlassen.“
Kerstin hatte nach Abschluss ihres Medizinstudiums noch eine Weiterbildung zur Fachärztin gemacht, das heißt sie hat eine Art Ausbildung in einem bestimmten medizinischen Fachgebiet gemacht. Diese dauert in Deutschland in der Regel fünf bis sechs Jahre. Arbeitet man in Teilzeit, verlängert sich die Dauer der Weiterbildung. Deren Inhalte werden von der Bundesärztekammer festgelegt, dem Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Als Berufsanfängerin und Mutter von drei Kindern war die Möglichkeit, als Angestellte mit festen Arbeitszeiten und einer bestimmten Stundenzahl zu arbeiten, für Kerstin optimal. Sie muss nicht – wie beispielsweise ihre Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern – Dutzende von Überstunden machen. Sie muss also nicht viel mehr arbeiten als die vertraglich festgelegte Stundenzahl. Auch muss sie nicht die Belastungen und Unsicherheiten, die mit einer eigenen Praxis verbunden sind, auf sich nehmen. Sie sieht aber noch einen weiteren Vorteil in der Arbeit im Ärztezentrum:
„Das ist natürlich immer ’ne gute Chance, von den älteren Kollegen zu lernen oder bei manchen Dingen einfach noch mal rückzufragen, ob sie noch irgendeine Idee haben, ’n guten Tipp. Das ist natürlich schöner, als wenn man jetzt ganz alleine dasteht und keine Möglichkeit des Austausches hat. Und grad die Kollegen, die zwanzig Jahre hausärztlich oder länger hausärztlich tätig sind, haben natürlich auch viel Erfahrung.“
Hausärzte sind Allgemeinmediziner, also Mediziner ohne ein spezielles Fachgebiet. Sie sind die erste Anlaufstelle für ihre Patienten und schicken diese dann gegebenenfalls zu Spezialärzten. Manchmal machen diese Ärzte auch Hausbesuche. Besonders in ländlichen Regionen, wo Krankenhäuser oft weit entfernt sind, sind Hausärzte besonders gefragt. Allerdings lassen sich auf dem Land immer weniger junge Mediziner nieder: Das Risiko einer Selbstständigkeit, das Arbeiten ohne Kollegen und ein nicht-städtischer Standort mit infrastrukturellen Nachteilen locken junge Ärzte nicht, eine eigene Praxis zu eröffnen. Das hat Konsequenzen, sagt Volker Staats, der sich 1993 als Internist in Büsum niederließ und jetzt im Ärztezentrum mitarbeitet:
„Ich hab immer vor ’n paar Jahren schon gesagt: ‚Ich bin das ärztliche Küken Büsums.’ Und da war ich auch schon 58. Also, da brennt die Hütte und nicht nur hier, sondern überall auf’m Lande.“
Schon 2016 warnte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, davor, dass unsere Gesellschaft altere und die Ärzteschaft auch. Fast jeder vierte niedergelassene Arzt plane, in den nächsten fünf Jahren seine Praxis aufzugeben. Volker Staats selbst war 2015 mit 58 Jahren im Vergleich zu anderen Kolleginnen und Kollegen in Büsum, die noch älter waren, ein Küken, ein junger Mann. Die Überalterung der Ärzteschaft in Deutschland stellt laut Volker Staats eine Bedrohung für die ärztliche Versorgung der Bevölkerung dar – so wie Feuer, das eine Hütte in Brand setzen kann. Die Wendung „Die Hütte brennt!“ wird in der Umgangssprache für eine Bedrohung oder einen aktuell schlimmen Zustand gebraucht. Vor allem im Sommer steigt die Arbeit im Ärztezentrum an, denn Büsum ist ein beliebtes Seeheilbad an der Nordsee. Für Volker Staats stellt das eine besondere Herausforderung dar:
„Büsum hat ja die spezielle Situation auch noch, dass hier saisonal ’n sehr starkes Patientenaufkommen ist. Also, jetzt haben wir circa 5000 Patienten oder Bürger, die ärztlich zu versorgen sind. Im Sommer sind’s aber schnell 25.000, die dann zu versorgen sind.“
Während der Saison, also der Zeit im Sommer, in der Urlauber nach Büsum kommen, verfünffacht sich laut Volker Staats die Zahl der Patienten. Als er noch selbstständig war, konnte Volker Staats in dieser Zeit an einen eigenen Urlaub nicht denken. Jetzt in der Gemeinschaftspraxis mit den anderen Kolleginnen und Kollegen verteilt sich die Arbeit auf mehrere Schultern. Aber der Arzt dachte noch weiter, als er die Selbstständigkeit gegen eine Anstellung in dem Ärztezentrum eintauschte:
„Man hat ja auch ’n gewisses emotionales Verhältnis zu seinen Patienten. Und die Sache, was wird aus meinen Patienten, wenn ich den Schlüssel umdrehe, das ist auch ’ne Fürsorge, die ja einen dann erreicht, und dass man sagt: ‚Ja, so kann’s ja augenscheinlich nicht weitergehen.’ Außerdem ist man, wenn man hier so lange lebt, ja auch Bürger des Ortes und wünscht auch hier ’ne ärztliche Präsenz für alle – und für sich selbst dann ja auch.“
Volker Staats kann im Gesundheitszentrum Büsum beruhigt seinem Ruhestand entgegenblicken. Bildlich gesprochen kann er in ein paar Jahren beruhigt den Schlüssel umdrehen. Dass er sich keine Sorgen mehr über eine Nachfolge machen muss, war für ihn die größte Motivation, seine Selbstständigkeit gegen die Anstellung einzutauschen. Das Büsumer Modell könnte bundesweit Schule machen, könnte dafür sorgen, dass mehr junge Ärztinnen und Ärzte bereit sind, sich in ländlichen Gemeinden niederzulassen.
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Das Besondere des Büsumer Modells ist, dass …
es in der Regel verlässliche, feste Arbeitszeiten gibt.
die Ärzte nicht mehr als Selbstständige arbeiten.
mehrere Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten.
die Ärztinnen und Ärzte nur für die ärztliche Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt zuständig sind.
Kerstin …
konnte wegen des Arztmangels auf dem Land direkt nach ihrem Medizinstudium im Büsumer Ärztezentrum anfangen.
schätzt die familienfreundlichen Arbeitszeiten im Ärztezentrum.
verlässt sich gern mal auf den Rat von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen.
muss häufig Überstunden machen.
Hausärzte …
müssen Patientinnen und Patienten zu Hause untersuchen.
sind in der Regel nicht auf ein Fachgebiet spezialisiert.
lassen sich gern in ländlichen Regionen nieder, weil sie dort mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben
sind die Ärzte des Vertrauens und überweisen zu Spezialärzten.
Volker Staats …
kann sich im Ärztezentrum vollständig auf seine ärztliche Tätigkeit konzentrieren und muss nicht noch zusätzlich Verwaltungsaufgaben übernehmen.
muss sich keine Sorgen darüber machen, wer seine Praxis übernimmt, wenn er in den Ruhestand geht.
arbeitet aus familiären Gründen in Teilzeit.
hat einige Jahre als selbstständiger Hausarzt praktiziert.
Im Ärztezentrum …
sind besonders in den Sommermonaten die Wartezimmer voll mit Patienten.
kümmert man sich auch um Patientinnen und Patienten anderer Arztpraxen.
lässt man kaufmännische Dinge von Experten erledigen.
werden bevorzugt erfahrene Ärztinnen und Ärzte eingestellt.
答案abc,ab, bd, abd, ac