Bella:
»Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön« .....
»Morgenschön.« — Meint der Dichter, »das Röslein war so schön, wie die Rosen am Morgen sind«?
Herr Meister: Ich glaube (es).
Anna: O, ich wünsche, ich könnte jeden Tag junge, frische Rosen haben! Ich habe die Rosen, ach, so gern!
Herr Meister: Auch Goethe liebte die Rosen (ich liebe, ich liebte, ich habe geliebt).
Otto: Sie ist die Königin unter den Blumen.
Bella: »Lief er schnell, es nah zu sehn« .....
Anna: Das Wort »lief« verstehe ich nicht.
Bella: Ich laufe, ich lief, ich bin gelaufen. Ich laufe, das ist: »Ich renne,« »ich gehe schnell.« Der Knabe lief, weil das Röslein weit von ihm war, und er wollte (ich will, ich wollte, ich habe gewollt) das schöne Röslein besser sehen.
»Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«
Das ist das Ende des ersten Verses, und nun lese ich den zweiten:
»Knabe sprach: 'Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.'
Röslein sprach: 'Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich'« .....
Herr Meister, ist »ewig« hier nicht ein Synonym von »immer«?
Herr Meister: Ja wohl, mein Fräulein.
Bella: »Und ich will's nicht leiden!« ..... Zwei Wörter in dieser letzten Linie sind mir nicht klar, »will's« und »leiden.«
Herr Meister: Will's ist dasselbe wie, »ich will es.« Nach dem »l« kommt ein Apostroph (= '), so, nicht wahr?
Bella: Ja wohl, Herr Meister.
Herr Meister: Dieser Apostroph steht, weil das »e« von »es« ausgefallen ist. »Will es,« ein Wort = will's. »Leiden« — und ich will's nicht leiden. Dafür kann ich auch sagen: »Und ich will nicht, daß du mich brichst.«
Bella: Jetzt verstehe ich auch den zweiten Vers
»Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«
Bella: (dritter Vers)
»Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach« .....
Hier muß ich Sie drei Dinge fragen. Erstens: Was bedeutet (= ist) das »'s« in »'s Röslein«? Zweitens: Was bedeutet: »wehrte«? Und drittens: Was bedeutet »stach«?
Otto: Herr Meister, wollen Sie mir gütigst erlauben, diese drei Punkte zu erklären?
Herr Meister: Ich bitte!
Otto: »'s Röslein« steht für »das Röslein.« Das Röslein wehrte sich und stach. »Stach« kommt von dem Worte »stechen« (ich steche, ich stach, ich habe gestochen). Das Röslein wollte am Busche sein und auf der Heide bleiben, es wollte nicht von dem Knaben gebrochen sein, es wollte nicht in die Stadt wandern; darum hat es den Knaben gestochen mit dem Dorn. Das ist: Das Röslein »wehrte« sich mit dem Dorne.
Louis: Ich verstehe. Der Ochse wehrt sich mit dem Horne. Das arme Lamm kann sich nicht wehren gegen den bösen Wolf. Ich, Fräulein Anna, ich wehre mich mit meiner Pistole; der Soldat wehrt sich mit einer Flinte.
Otto: Das ist recht, Louis. Ein Synonym für »Flinte« ist auch »Gewehr.« Das ist das Instrument, mit dem der Soldat sich wehrt. Das Wehren half (ich half, es half) dem Röslein nichts. Da sagte das Röslein: »Ach, laß mich stehen,« und das half auch nicht; und da sagte das Röslein: »O, weh!« »O, weh« und »Ach« ist dasselbe. Aber das Wehren mit Worten hilft nichts. Der Knabe brach das Röslein.
Anna: Das arme Röslein!
Bella:
»Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«
Jetzt will ich das ganze Gedicht einmal vorlesen, von Anfang (= Beginn) bis zu Ende:
»Sah' ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Knabe sprach: 'Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.'
Röslein sprach: 'Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will's nicht leiden.'
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden.
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«
Anna: Von welchem Dichter ist dieses wunderschöne Gedicht? Ich habe es vergessen (ich vergesse, ich vergaß, ich habe vergessen).
Herr Meister: Von Goethe. Er schrieb (ich schreibe, ich schrieb, ich habe geschrieben) es, als er in Straßburg war und studierte (ich studiere, ich studierte, ich habe studiert).
Bella: Hat Goethe in Straßburg studiert? Dann hat er ja auch das Straßburger Münster gesehen.
Louis: »Münster«?
Bella: Ich hörte gestern Abend auch eine sehr schöne Anekdote von Mozart und Haydn.
Louis: Bitte, erzählen Sie! Ich höre Anekdoten so gerne.
Anna: Ich auch, Louis.
Bella: Haydn und Mozart waren eines Tages zusammen, und sie sprachen über Musik. Da sagte Mozart: »Herr Haydn, ich werde Ihnen Noten schreiben, die Sie nicht spielen können.« »So?« sagte Haydn und lachte. »Ja,« sagte Mozart, »und ich gebe eine Flasche Wein, wenn Sie alles spielen; können Sie aber nicht alles spielen, so geben Sie mir eine Flasche Wein.« »Gut,« sagte Haydn. Mozart schrieb nun einige Noten auf einen Streifen Papier. Haydn nahm (ich nehme, ich nahm, ich habe genommen) ihn, setzte sich an das Klavier und begann zu spielen. Die linke Hand mußte tiefe Baßnoten spielen, und die rechte Hand die hohen Noten im Diskant. Aber da war eine Note in der Mitte. »Oho,« rief Haydn, »ich habe keine drei Hände, diese Note in der Mitte kann ich nicht spielen.« »Aber ich kann es,« sagte Mozart, setzte sich an das Klavier, spielte oben mit der rechten, unten mit der linken Hand und die Note in der Mitte mit — der Nase. Haydn gab den Wein.