Der alte Mann wartete. Er wartete jeden Abend und jeden Morgen, jeden Tag und jede Nacht.
Der alte Mann wartete auf seinen Sohn. Eine Woche nachdem der Krieg ausgebrochen war, verließ ihn sein Sohn mit tausenden von anderen Söhnen um in einem fernen Land, das der alte Mann nicht kannte, auf grauen, blutüberschwemmten Schlachtfeldern zu kämpfen und zu siegen. Und die Väter und Mütter warten noch immer. Der alte Mann wartete alleine. Seine Frau, eine energische aber gütige Frau mit glühendem, rotem Haar und kernigen, festen Augen war gestorben, ein Jahr bevor ihr Sohn das Laufen lernte. Der Arzt hatte ihm gesagt, es wäre ein Tumor gewesen, aber der alte Mann wusste nicht was ein Tumor war, er wusste nur seine Frau war tot und niemand, auch nicht der Arzt, konnte sie zurückbringen. Der alte Mann weinte an ihrem Totenbett, eine Nacht und einen Tag. Dann nahm er seinen Sohn auf den Arm und verließ das Krankenhaus und seine Frau.
Sein Sohn wuchs zu einem stattlichen, jungen Mann heran, mit den gleichen feuerroten Haaren seiner Mutter und den starken Händen seines Vaters. Und der alte Mann, der damals noch nicht so alt war, war stolz auf ihn.
Als sein Sohn ihn verließ um in unbekannten Ländern ein Held zu werden, wusste er es war ein Fehler, aber der Junge hatte den sturen Kopf seiner Mutter geerbt. Niemand konnte ihn umstimmen. Sein Sohn war verliebt. Sie hieß Lara und würde ihr 20. Lebensjahr nicht erreichen. Sie litt an Schwindsucht. Der alte Mann wusste was Schwindsucht war und flehte seinen Sohn an, ihretwillen zu bleiben. Aber Lara war stark und tapfer und sagte sie würde auf ihn warten. Am Tage seiner Rückkehr würden sie heiraten.
An einem verregneten Montag Nachmittag, an dem ein lauer Wind Zeitungsfetzen und gelbe Blätter über den Bahnhofsteig wehen ließ und grauen Wolken wie Wellen über den tintenschwarzen Himmel jagten, verlies ihn sein Sohn. Der alte Mann drückte ihn ein letztes Mal an sich. Sein Sohn flüsterte ihm leise ins Ohr, kaum hörbar im starken Wind: Bitte, Vater, Bitte lass nicht zu dass man sie mir wegnimmt. Der alte Man wusste, die Schwindsucht würde nicht auf seinen Sohn warten, aber er nickte und sprach seinem einzigem Jungen beruhigend zu: Ich werde auf sie aufpassen. Das Signalhorn des Zuges hallte über den Bahnsteig. Der alte Mann sah zu wie sein Sohn mit leerem Blick in den Zug stieg. Kein letztes Winken, kein letzter Blick, als hätte er ihn jetzt schon an den Krieg verloren. Und in gewisser Weise war es auch so. Der alte Mann wartete bis der dampfenden Zug abfuhr. Er konnte seinen Jungen unter den hunderten Gesichtern, die an den Fenstern klebten nicht erkennen.
Um ihn herum standen weinende Mütter, winkende Väter, kleine Schwestern und Brüder und verabschiedeten eine todgeweihte Generation. Der alte Mann blickte dem Zug nach bis auch die letzte Dampfwolke am Himmel verschwunden war und das regelmäßige Dröhnen der Maschinen nur noch als Surren aus weiter Ferne hörbar war. Er durchquerte die überfüllte Bahnhofshalle, drängelte sich durch Passanten und Touristen, stieg auf seine Kutsche und schnalzte mit der Zunge um seinen Gaul anzutreiben. Lara wartete sicher bereits auf ihn. Heute Morgen hatte sie ein Fieberanfall überkommen und sie musste sich im Bett von ihrem Geliebten verabschieden. Glitzernde Tränen waren über ihr gerötetes Gesicht gelaufen. Auch sein Sohn hatte geweint, die Tränen aber schnell weggewischt als schäme er sich.
Der alte Mann lebte etwa 10 Kilometer außerhalb der Stadt, in einem großen aber altmodischen Bauernhaus. Er hatte nicht oft Besuch und das war ihm recht. Nach gut einer Stunde Fahrt kam er an. Er sprang vom Wagen, ließ ihn mitsamt Pferd vor dem Haus stehen und lief hinein, sprang die Treppen hoch und kam erst vor ihrer Tür abrupt zum Stehen. Keuchend wartete er bis er wieder zu Atem kam. Dann öffnete er leise die Tür, bedacht sie nicht aufzuwecken. Auf Zehenspitzen trat er ein. Lara schlief unruhig. Der alte Mann hörte sie leise keuschen. Ihre Wangen und Stirn waren noch immer gerötet. Leise trat er näher. Auf dem Nachttisch stand eine Schüssel mit Wasser und ein nasser Lappen. Er tränkte den Lappen in das abgestandene Wasser, drückte ihn aus und tupfte dann unendlich sanft ihre Stirn ab. Sie erwachte nicht und der alte Mann lächelte wie ein Vater lächeln würde.
Der alte Mann verließ sie nur ungern aber er musste noch die Pferde füttern und den Stall ausmisten bevor die Sonne endgültig hinter den hohen Bergen verschwand .Er ging hinaus und weinte.
Seit diesem Tag, war der Blick des Mannes in die Ferne gerichtet. Ob Sterne das schwarze Tuch der Nacht schmückten oder die Sonne in seine zu Schlitzen geschlossenen Augen schien ,immer war sein Blick auf den Horizont gerichtet, nach seinem Sohn Ausschau haltend.
Sein Sohn kam nicht aber er schrieb. Die Briefe kamen einmal monatlich. Sie waren lang und traurig. Schnell hatte er begriffen dass Krieg in den Köpfen immer anders ist als auf dem Schlachtfeld. Meistens schrieb er nur für sie. Manchmal jedoch, an besonders schönen Tagen, waren auch ein paar Worte für ihn dabei und der alte Mann war glücklich.
Lara war zu schwach um die Briefe selbst zu lesen. Jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang setzte sich der alte Mann an ihr Bett und las ihr vor, immer den gleichen Brief, Tag für Tag, bis ein Monat um war und der nächste ankam. Lara lauschte jeden Tag als wäre es das erste Mal und der alte Mann freute sich ihr Mut zu machen. Es gab ihm das Gefühl nicht vollends unnütz zu sein. Oft weinte sie während der abendlichen Vorlesestunde, aber es waren glückliche Tränen und der alte Mann weinte mit ihr. In diesen Momenten war ihr kleines Zimmer, kein Gefängnis mehr, sondern eine schützende Hand, die sie abschirmte von allem Übel der Außenwelt.
Im dritten Jahr nach seiner Abreise kamen keine Briefe mehr. Der alte Mann hoffte auf eine Verspätung aber auch Monate später war noch keiner angekommen und der alte Mann traf eine Entscheidung.
Kurz vor Sonnenaufgang, als Lara noch schlief, stand er auf, setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm Blatt und Papier und begann für sie zu schreiben.
Er kannte den Stil seines Sohnes nach so vielen Monaten und das Schreiben ging ihm leicht von der Hand. Er schrieb von der Front, den Bomben und den Toten, aber auch von der Liebe und Hoffnung, die sie ihm schenkte.
Mehrmals musste der alte Mann ein neues Blatt benutzen, da seine Tränen die Tinte verlaufen ließ oder seine zitternden Hände die Reihe nicht halten konnten.
Als er Lara im Nebenzimmer aufwachen hörte, stand er auf, wickelte den Brief in Briefpapier und brachte ihn zu ihr. Laras schwaches aber gütiges Lächeln, als sie den Brief in Empfang nahm, war Gift und Balsam zugleich. Er wusste er machte ihr damit ein großes Geschenk aber der Gedanke sie zu belügen, brach ihm das Herz.
Von nun an schrieb er jeden Monat einen Brief für sie und wahrscheinlich auch für sich selbst Die Schreiberei gab ihm kurzeitig die Illusion sein Sohn könnte noch leben.
Mehrmals im Monat las er die Briefe seines Sohnes , alleine in seinem Zimmer, und des Öfteren musste er sich fragen ob jene wirklich von seinem Sohn stammten oder von ihm selbst geschrieben wurden, aber was machte es überhaupt für einen Unterschied?
Laras Zustand verschlechterte sich zusehends. Morgens hatte sie Mühe das Frühstück bei sich zu behalten. Feste Nahrung vertrug sie überhaupt nicht mehr und die heiße Hühnerbrühe, die ihr der alte Mann zubereitete, genügte kaum um sie bei Kräften zu halten. Sie begann Blut zu spucken und es war nicht selten dass wenn der alte Mann morgens zu ihr ins Zimmer kam, das Kopfkissen rot gefärbt war und ihr Gesicht wie mit Lippenstift verschmiert wirkte. Nach besonders schweren Fällen von Fieber fiel sie manchmal für Stunden in Ohnmacht. Dies waren die schlimmsten Momente. Der alte Mann tupfte ihr Gesicht mir eiskaltem Wasser ab, schaukelte sie in ihren Armen und betete, aber nichts von alledem halfen ihr. Er musste warten und hoffen. Und es war nicht sicher ob er auf ihr Erwachen oder ihren Tod wartete.
Der Arzt kam mehrmals in der Woche zu ihr. Er drängte den alten Mann sie in ein Krankenhaus einweisen zu lassen, aber der alte Mann kannte Krankenhäuser. Seine Frau war in einem gestorben. Keines der Medikamente hatte ihr geholfen. Alle Spritzen und Schläuche die sie ihr in den Körper gerammt hatten, verschlimmerten bloß ihre Lage. Der alte Mann wollte nicht dass Lara als Stück Fleisch in einem sterilen Raum auf ihren Tod warten musste.
-Ich kann genauso gut auf sie aufpassen, sagte er dem Arzt mit rauer Stimme und dieser nickte bloß. Er wusste jede Hilfe kam zu spät.
Jeden Abend kämmte der alte Mann ihr Haar. Anfangs wollte sie sich dabei im Spiegel betrachten aber der alte Mann zerbrach ihn absichtlich. Er wollte ihr den Schock ersparen. Manchmal wollte sie sich schminken. Sie wolle schön sein für den Fall dass ihr Geliebter zurückkehrte, sagte sie ihm mit schwacher Stimme. Der alte Mann half ihr ungeschickt den Lippenstift aufzutragen und seine zittrigen Hände verschmierten oft die Wimperntusche, aber sie mochte es ihm dabei zuzusehen. Sein konzentrierter Blick und die grünen Augen erinnerten sie an ihren Liebsten.
Am 7. Juli verstarb Lara nach einem heftigen Fieberanfall. Der alte Mann hatte neben ihr gesessen, ihre Hand gehalten, den Blick auf das Foto seines Sohnes auf ihrem Nachttisch gerichtet und geweint, bis er an ihrer Seite einschlief.
Sie wurde an einem sonnigen Sommernachmittag begraben. Die Vögel sangen in den Ästen der Trauerweiden, während die Menschen verstummten. Es waren kaum Gäste anwesend.
Der alte Mann war alleine. Er trug einen ausgefransten, schwarzen Anzug.
Sein letztes Geld hatte er für Laras Grab ausgegeben.
Sie wurde neben seiner Frau begraben, wie sein Sohn es gewollt hätte, Der alte Mann fuhr alleine nach Hause und stand am nächsten Morgen alleine auf.
Er wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht und begann dann die Pferde auf die Weide zu treiben. Es würde ein harter Tag werden. Mit raschen Schritten ging er hinaus auf die Felder.
Und wenn heute jemand sich in diese einsame Gegend verirrt, kann man ihn noch entdecken, wie er, seinen Hut in die Stirn gezogen, oben auf seinen grünen Feldern stehend den Horizont absucht und auf seinen Sohn wartet.