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德语科幻短篇:Der Dichter im Museum

时间:2011-11-19来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
(单词翻译:双击或拖选) 标签: 德语科幻短篇

 Was macht ein Dichter im Museum? Ist sein Raum nicht die Phantasie? Ist sein Medium nicht das Unsichtbare, Luft und Klang? Was gesellt er sich zu den Dingen der Welt, die schwer in den Regalen liegen, mit Augen zu sehen, mit Händen zu greifen? Ahnt er nichts von der Gefahr? Er könnte für einen Museumsführer gehalten werden, für ein Ausstellungsobjekt, betrachtet von unwürdigen Augen, beschrieben in der plumpen Sprache des Pöbels. Vielleicht war es der Fön, der die Luft mit unirdischer Klarheit erfüllte und den Sinn verwirrte, oder es trieb ihn die Sehnsucht nach seinen Druckstöcken auf diese letzte schreckliche Reise. 

 
Es war Madita, die ihn entdeckte. Den ganzen Tag war sie durch dieses Haus voller Wunderdinge getollt, und sie wurde nicht müde. Am Morgen oder vor hundert Jahren hatten sie Zeichen am Himmel gesehen, unendliche Weiten, wo die Sterne auf- und niedergehen. Nach dem Planetarium bestaunten sie die Handwerkskunst des Mittelalters. Große menschliche Puppen in kleinen Häusern gingen mit fremdartigen Geräten zu Werke, geheimnisvolle Stimmen erzählten von ihrer vergangenen Arbeit, Höhlenmenschen. Am schönsten war das Brückenbauen, da konnte die Mutter sie kaum wieder weglocken. Die altertümlichen Computer hatten sie links liegen lassen, aber in einem düsteren Saal hatten sie mit Grausen von ferne zugesehen, wie lebende Menschen in Käfigen hochgezogen wurden, um in einem schrecklich lauten Gewitter von Blitzen gequält zu werden. "Da kann nichts passieren", hatte Jonas die kleine Schwester beruhigt, "das ist ein Faradayscher Käfig". Er war schon fast erwachsen und kannte sich aus in Physik. Die Flughalle hatte sie alle begeistert: Ballons und Hubschrauber und Flugzeuge und der Fall Ikarus. "Die Menschen haben immer davon geträumt, fliegen zu können wie die Vögel", sagte die Mutter. "Wenn ich ein Vöglein wär", sang Madita vor sich hin Sie kannte schon viele Lieder. Mit dem Fahrstuhl ging es zur Geschichte des Buchdrucks. Als Mutter, die früher Buchhändlerin hatte werden wollen, sich mit Hingabe in die Details des Hochdrucks vertiefte, wurde es den Kindern langweilig. 
 
Madita witschte die Treppe hoch und um die Ecke in einen dunklen Gang. Jonas folgte ihr, nachdem er sich mit einem Blick zurück davon überzeugt hatte, dass Mutter hier wohl noch eine Weile beschäftigt sein würde. Sie hatte gerade damit angefangen, das erste einer langen Reihe von mit langen Texten versehenen Postern zu studieren. Wo steckte die Kleine? Als großer Bruder hatte man es nicht leicht. Im Gang war kein Mensch zu sehen. "Da!", hörte er eine kleine Stimme rufen. Kam die nicht aus dem Raum hinter der grauen Metalltür, auf der in roter Schrift stand "Betreten verboten!"? "Madita, da darf man nicht reingehen!" Papa hätte ihr nicht so früh das Öffnen von Türen beibringen sollen, deren Griffe sie kaum erreichte. Jonas schlüpfte hinein und drückte die Tür von innen wieder zu. Besser, es merkte keiner, wenn man durch eine verbotene Tür gegangen war. Aber schließlich musste er ja auf Madita aufpassen. Die lehnte an einem hölzernen Sockel und presste das Gesicht an die dicke Wand eines großen gläsernen Kastens. "Da Jonas!", rief sie aufgeregt. "Die Puppe ist in das Haus gegangen." Tatsächlich befand sich im Innern des Glaskastens etwas, das fast wie ein Puppenhaus aussah. Es war größer als die Puppenhäuser im Spielzeugladen, aber kleiner als die Räume mit den mittelalterlichen Handwerkerfiguren, die sie vorher gesehen hatten und viel moderner, irgendwie funktional. Neben dem Haus gab es eine kleine Sitzgruppe, auch einen Schreibtisch mit bequem aussehendem Drehstuhl und irgendwelche Schaltpulte und technische Anlagen. Keine Puppe weit und breit, Mädchen haben manchmal eine blühende Phantasie! "Vielleicht bauen sie an einem neuen Ausstellungsstück und es ist noch nicht fertig. Komm, wir müssen hier weg!" 
 
An der Seite des Puppenhauses öffnete sich eine Tür und ein kleiner Mann kam heraus. Er wirkte recht alt und ging etwas gebeugt, war aber tadellos gekleidet in einem ganz klein karierten Maßanzug aus feiner Seide. Seine niedlichen Schuhe glänzten im Neonlicht. Madita klatschte entzückt in die Hände. "Siehst du, da ist die Puppe!" Der kleine Mann verzog gequält das Gesicht. "Das ist ein Roboter!", rief Jonas. "Guck mal, er bewegt den Mund. Vielleicht kann er sogar sprechen." Unter dem Glaskasten waren einige Knöpfe angebracht. Jonas drehte den mit der Aufschrift "Volume" voll auf. "Ich bin ein Mensch!" gellte in unerträglicher Lautstärke eine aufgebrachte, sehr hohe Stimme. Jonas regelte "Volume" wieder herunter und verstellte den "Frequency"-Knopf. Jetzt klang die Stimme fast normal und ihre ständig wiederholte Aussage wirkte etwas glaubhafter, wenn auch nicht sehr. "Der kann ja nur einen Satz!", sagte Jonas verächtlich. "Ich bin ein Dichter, ich kann auch ein Gedicht aufsagen", behauptete der kleine Mann. "Das kann die CD von meinem Onkel auch, eine ganze Stunde lang." Der kleine Mann wandte sich an das Mädchen. "Du hast schöne Schuhe an, die gefallen mir". "Ja", sagte Madita und zeigte stolz ihre neuen Schuhe. "Du bist ein netter kleiner Mann!" "Eigentlich bin ich ein großer Mann, ich bin 1 Meter 82 groß." Den Witz kannte Jonas schon. Er grinste. "Sie erinnern mich an den Scheinriesen aus Lummerland. Von nahem sehen Sie ziemlich klein aus." Die Augen des kleinen Mannes blitzten zornig, dann musste er lachen. Frechheit hatte ihm immer imponiert. 
 
Er konnte gut mit Kindern umgehen, früher hatte er auch Kinderbücher geschrieben. Als er zum ersten Mal seit langer Zeit Kinderstimmen gehört hatte, war er wieder aus dem Haus gekommen, in das er sich beim Öffnen der Tür geflüchtet hatte. Was war er sein Leben als Gesamtkunstwerk leid! Er war es leid, mit diesen Wissenschaftlern zu reden, die immer so höflich und respektvoll auftraten und ihn doch nur als Versuchskaninchen ansahen. Und er konnte sich nicht wehren. Sie waren ihm haushoch überlegen. Es wäre nicht einfach gewesen, draußen in der Welt zurechtzukommen, geschrumpft auf ein Zehntel seiner Größe. Aber er konnte ja nicht einmal heraus aus diesem Glaskasten. Leichtmaterie! Im Grunde musste er ihnen dankbar sein. Sie hatten für ihn ein geschlossenes Biosystem aus Leichtmaterie gebaut und das hatte riesige Summen gekostet. Schon ein einziger Atemzug an normaler Luft könnte ihn töten ."Kannst du da nicht raus?", fragte Madita. Der Dichter schüttelte den Kopf. "Und wenn du aufs Klo musst?" Er verzog angewidert das Gesicht. "Ich habe im Häuschen eine eigene Chemie-Toilette. Wenigstens ohne Musikberieselung!" "Mögen Sie keine Musik?" Jonas ging selten ohne seinen MP3-Player aus dem Haus. "Doch, manchmal, aber nicht auf dem Klo." Der Dichter demonstrierte den Kindern, wie er von seinem kleinen Schaltpult aus die große High-Tech-Jukebox hinter ihnen bedienen konnte. Sie hörten gemeinsam ein paar Takte der kleinen Nachtmusik, dann schaltete er die Anlage wieder ab. "Ich habe auch viele Hörbücher, in zehn Sprachen.", sagte er und erschrak. Hatte er es jetzt schon nötig, vor Kindern mit seinen Sprachkenntnissen anzugeben? Egal, die verstanden ihn wenigstens. 
 
"Sind Sie da eingesperrt?" Jonas suchte den Kasten nach einer Verriegelung ab. "Ich bestehe aus Leichtmaterie", sagte der Dichter mit einem Seufzen. "Ich kann nur Luft aus Leichtmaterie atmen, nur Wasser aus Leichtmaterie trinken und nur Nahrung aus Leichtmaterie essen. Ich befinde mich hier in einem geschlossenen System aus Leichtmaterie. In eurer Umgebung aus Standard-Materie kann ich nicht mehr existieren." Mit Leichtmaterie hatte Jonas kein Problem. In Science Fiction kannte er sich noch besser aus als in Physik. "Dann sind Sie also in einer Parallelwelt aus Leichtmaterie eingeschlossen. Hat Sie vielleicht ein Alien von Alpha Centauri mit einer Laser-Kanone verwandelt?" Der Dichter lächelte. Diese Erklärung war im Prinzip auch nicht schlechter als die vielen Theorien, die er in den letzten Monaten von Quantenphysikern und Kosmologen gehört hatte. Die moderne Physik näherte sich allmählich wieder der Metaphysik. Das konnte einem vernünftigen Menschen im Grunde egal sein, solange das unvorstellbar Absurde in Zeit und Raum unendlich fern blieb. Aber warum hier und jetzt, und warum gerade er? 
 
Der Dichter erzählte den Kindern seine Geschichte. Er erzählte sie kindgerecht, also ließ er einiges aus, was in den Hinterzimmern seines Gehirns herumspukte. An einem ungewöhnlich heißen Tag hatte er plötzlich den Einfall gehabt, ins Museum zu gehen. An solchen Tagen ist das Museum leer und er mochte kein Gedränge. Er kannte sich hier gut aus und wenn er kein bestimmtes Ziel hatte, zog es ihn in die Abteilung Drucktechnik. Mal sehen, ob es etwas Neues gab. So war er die Treppe hochgestiegen, in einen dunklen Gang abgebogen und stand schließlich vor einer grauen Metalltür, die einen schmalen Spalt offen stand. "Betreten verboten!", daran hielt er sich gewöhnlich, aber eigentlich galt das nur für Uneingeweihte und er fühlte sich schon fast als Mitbesitzer des Museums. Außerdem war die Tür ja nicht verschlossen; vielleicht war sie nur für ihn bestimmt. 
 
Drinnen fiel ihm nichts Besonderes auf. An der rechten Wand waren Regale, auf dem Boden standen technische Geräte mit unbekannter Funktion. Vor der Längswand befand sich ein hölzerner Aufbau mit einer Art von großem Aquarium, vermutlich ein Schaukasten. Das Ganze war wahrscheinlich ein Abstellraum oder eine Werkstatt. Er wollte wieder gehen, aber die Tür war zugefallen. In leichter Panik drückte er auf den roten Knopf, der hier von innen wohl die Klinke ersetzte. Dann geschah alles ganz schnell. Es war nicht grauenhaft, es erschien ihm nicht einmal unheimlich, aber alles war seltsam undeutlich. Er erinnerte sich an ein Brausen und Summen, das immer höher wurde, ein blaues Leuchten, das Zucken von weißen Blitzen. Die Dinge um ihn her wuchsen ins Riesenhafte. Ein starker Luftstrom erfasste ihn und trug ihn hoch. Fliegen! Das war immer sein Traum gewesen. Er stieß mit dem Kopf an etwas, und dann verging ihm Hören und Sehen. 
 
Als er wieder zur Besinnung kam, war alles dunkel. Nachdem er eine Weile versucht hatte, sich durch Herumkriechen und Tasten zu orientieren, ohne die Tür oder einen Lichtschalter zu finden, beschloss er, ruhig in einer Ecke sitzen zu bleiben und zu warten. Der wahre Albtraum begann erst, als die Tür geöffnet wurde, ein grelles Licht den Raum erfüllte, und ein Ungeheuer eintrat. Der täppisch aussehende Riese in blauer Uniform kam langsam näher, beugte sich zu ihm herab und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen dümmlich an. Er lief rückwärts von der dicken Glasscheibe weg, die ihn auf Dauer wohl kaum schützen konnte und blieb zitternd am hinteren Rand des Glashauses stehen, in dem er gefangen war. Der Riese grinste verdutzt und brummte "Na, was haben wir denn da?" Als sich sein rasender Herzschlag allmählich beruhigt hatte, dämmerte ihm: das war ein Wachmann auf seinem Kontrollgang. Aber warum war er so riesig, fast zehnmal so groß wie er selbst? Er schaute an den Wänden hinauf und entdeckte neben der unendlich weit entfernten Tür in luftiger Höhe etwas, das wie ein Lichtschalter aussah. Er war wie der fliegende Robert durch die Luft gewirbelt und wie Gulliver im Land der Riesen gestrandet. Oder war er kleiner geworden? 
 
Er musste versuchen, mit dem Mann zu reden. Der sah auch nicht wirklich brutal aus, nur unendlich groß, unendlich hässlich und unendlich dumm. Er brauchte vernünftige, intelligente, normale Menschen. Durch Gesten und wirre Erklärungen mit einer piepsigen Stimme, die ihm selbst fremd war, konnte er den Mann dazu bewegen, mit seinem Handy Hilfe herbeizurufen. Der Museums-Direktor kam nach einer halben Stunde und er erkannte ihn. Trotzdem fragte er nach seinem Namen, denn er kannte ihn nur in XXL. Nach der respektvollen gegenseitigen Vorstellung zweier Akademiker stand die Frage im Raum: Was war da passiert? 
 
Die Frage, was zu tun war, ließ sich leichter beantworten. Der Direktor berief seine wichtigsten Mitarbeiter ein zu einer nächtlichen Krisensitzung. Dazu gesellten sich bald einige Wissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten der Universität. Obwohl man beschlossen hatte, die Sache vorerst geheim zu halten, drängten sich bereits ein paar Pressemenschen um die Sekretärin, die freundlich versicherte, es handele sich nur um eine der üblichen abendlichen Sitzungen mit externen wissenschaftlichen Beratern des Museums. Nach einer kurzen Besprechung unter den Anwesenden wurden mit Telefon- und Videostandleitungen Experten aus aller Welt zugeschaltet. Man befand sich schließlich in einem technischen Museum. 
 
Die Mediziner und Biologen waren ratlos. Direkte medizinische, biochemische und zytologische Untersuchungen waren leider nicht möglich, weil das Glas einen undurchdringlichen Eindruck machte. Der zusätzliche Einwand einer möglichen Gefährdung des Patienten kam vom Direktor. Vorerst mussten sich die enttäuschten Mediziner auf theoretische Überlegungen beschränken. Sicher, es war bekannt, dass Menschen im Alter kleiner werden, aber eine Schrumpfung von solchem Ausmaß war bisher noch niemals beobachtet worden. Vielleicht hatte sich die Anzahl seiner Körperzellen plötzlich stark reduziert. Ein führender Hirnforscher bezweifelte, dass die verbliebenen Neuronen in einem so kleinen Kopf noch zur Aufrechterhaltung einer normalen Intelligenz über der Schwachsinnsgrenze ausreichten. "Kant hatte auch einen kleinen Kopf, Sie Hohlkopf!" piepste der Dichter. Da diese Äußerung nicht als Zeichen von Intelligenz gewertet wurde, nötigte der anwesende Psychologe den Dichter zu einer ausführlichen Testreihe, der dieser sich zum Nachweis seiner geistigen Identität mit grimmiger Entschlossenheit widmete. Das Ergebnis war eindeutig: Sein Intelligenzquotient lag nach wie vor weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt in einem schwindelhohen Bereich zwischen Genialität und Unmessbarkeit. 
 
"Und wenn seine Zellen geschrumpft wären?" Dieser Idee widersprach der Molekularbiologe entschieden. Bei einer Verringerung des Durchmessers auf 10 Prozent würde bei vielen Zelltypen der Kern direkt an die Außenmembran grenzen; die DNA-Moleküle müssten doch schließlich erhalten bleiben. "Vielleicht sind auch die Moleküle kleiner geworden, einfach dadurch, dass sich der Atomdurchmesser verringert hat. Schließlich gibt es doch auch Antimaterie und schwarze Löcher und so." Dieser Vorschlag einer Ökotrophologin löste leichte Heiterkeit aus. "Dann hätte seine Dichte etwa um den Faktor 1000 zugenommen", klärte sie ein Physiologe auf. "Er würde wie ein gestrandeter Wal von seinem eigenen Gewicht erdrückt." 
 
Ein zufällig anwesender Schriftsteller eines eher zweifelhaften Genres, der vorher ungehört etwas von "Wurmloch" gefaselt hatte, stellte nun den Begriff "Leichtmaterie" in den Raum. Die Physiker zogen die Augenbrauen hoch und lächelten, aber dann ging ein Raunen durch ihre Reihen, es erhob sich ein Getuschel und Geschnatter, man hörte von Quarks und Leptonen, Strings und Branen, aufgerollten Dimensionen, schwacher Kraft und Hierarchieproblem. Die anderen Wissenschaftler standen mit verschränkten Armen da und warteten. Sie warteten lange. "Die Evolution des Teilchenzoos", murmelte ein systematischer Zoologe, "die haben wahrhaftig ein Hierarchieproblem." 
 
Endlich löste sich aus der basisdemokratischen Debatte ein Sprecher-Team, um der übrigen Versammlung das vorläufige Ergebnis zu verkünden. So abwegig die raum-zeitliche Koexistenz von Leichtmaterie mit der normalen irdischen Materie auch erscheine und so wenig sie mit dem Standardmodell vereinbar sei, in Anbetracht der vielen noch ungeklärten Fragen der kosmologischen Forschung und des Mangels an akzeptablen alternativen Erklärungen sei man bereit, die Idee einer "Leichtmaterie" als vorläufige Arbeitshypothese ins Auge zu fassen. Endgültige Klärung erhoffe man sich nach der Inbetriebnahme des Large Hadron Colliders am CERN. Hier strahlten die Augen der Physiker erwartungsvoll. Bis dahin müsse der Proband um jeden Preis erhalten bleiben. 
 
Um jeden Preis? Wie hoch waren die zu erwartenden Kosten und wer sollte sie tragen? In erregten Diskussionen zwischen Medizinern und Physikern wurden die Einzelposten und ihre technischen Realisierungsmöglichkeiten verhandelt. Am wichtigsten war zunächst die Versorgung des Probanden mit Luft und Nahrung aus Leichtmaterie. Zuerst müsste untersucht werden, ob das vorhandene System unbekannten Ursprungs schon prinzipiell geeignete Transformatoren und Schleusen beinhalte. Immerhin, noch kriegte er ja Luft. Die Umgebung war vor Kontamination mit Leichtmaterie zu schützen. Die Entwicklungskosten für ein dauerhaft funktionierendes geschlossenes Biosystem aus Leichtmaterie waren schwer abzuschätzen, aber mit Sicherheit immens. Ein Sozialmediziner setzte sich für eine Verbesserung der Lebensqualität des Probanden ein, der wohl auf Dauer in diesem Kasten würde bleiben müssen. "Immerhin ist er ein Mensch!" 
 
"Ist er überhaupt noch ein Mensch?" Diese Frage führte zur Zuschaltung weiterer Experten. Jetzt waren die Intellektuellen an der Reihe: Philosophen, Soziologen, Theologen und, weil er ein Dichter war, auch ein paar Literaten. Der Dichter atmete auf. Endlich normale Menschen, mit denen man vernünftig reden konnte. Diesen Naturwissenschaftlern und Technologen ausgeliefert zu sein, war nicht nur entwürdigend, es wurde allmählich lebensgefährlich. 
 
Diese Runde ging also an den Geist. Dem Dichter als ehemaligem Intellektuellen wurde ein Mitspracherecht zuerkannt, obwohl man sein dünnes Stimmchen nicht ganz ernst nehmen konnte. Er bat, die Medien vorerst auszuschließen. Über Medien hatte er so seine Theorie. Der Direktor drängte das enttäuschte ZDF-Team entschlossen hinaus und verhinderte umsichtig eine Stellungnahme des Präsidenten. Sein alter Freund Günter, den Zwergen zugetan, sprach sich nobel für ihn aus und eilte ins Atelier, um an einer winzigen Trommel zu metzeln. Habermas äußerte einiges von erhabener Belanglosigkeit. Der Erzbischof von Köln schlug ein Gottesurteil vor: Gott habe dem Menschen die Erde zum Aufenthalt bestimmt. Wenn er imstande sei, irdische Luft zu atmen, so sei er ein Mensch. Anderenfalls würde der Herr seine Seele aus ihrer trügerischen Hülle befreien und zu sich rufen. Jetzt begannen die Augen der extraterrestrischen Mediziner zu glimmen. Eine kleine Leiche, wertvoller als Mondgestein! Die Labors der ganzen Welt würden sich um seine Einzelteile reißen. Das erlösende Wort kam aus Rom. Sein bayrischer Landsmann, unfehlbar in Glaubensdingen, entschied: Er ist ein Mensch. Allein der Glaube hatte ihn gerettet. 
 
So wurde er zu einem geheimen biophysikalischen Projekt der Europäischen Union. Der Öffentlichkeit erklärte man das Ausbleiben seiner gewöhnlich in halbjährlichem Rhythmus erscheinenden Spruchweisheiten mit einem leichten Schlaganfall. 
 
Der Dichter schwieg. Er lehnte in seinem Sessel und sah müde aus. Die Kinder hatten atemlos zugehört. "Was wünschst du dir?" fragte Madita. Der Dichter blickte in die Augen des Kindes und flüsterte: "Ich möchte unsterblich sein." Dann stand er auf und sagte mit normaler Stimme: "Ihr geht jetzt besser, eure Mutter wartet sicher schon. Wenn ihr die Tür hinter euch zugemacht habt, vergesst das alles wieder. Das ist nur ein Museum." 
 
"Jonas, Madita!". Das war Mutters Stimme, und sie klang ungehalten. "Wir müssen gehen. Komm, Madita!" Jonas nahm seine kleine Schwester bei der Hand und zog sie zur Tür, zurück in die verlässliche Wirklichkeit von Mutter und Mittagessen, Playstation und Final Fantasy. Madita drehte sich noch einmal um und winkte dem Dichter, den sie zurücklassen mussten, allein in einer Parallelwelt leichter als Luft. Er würde sicher unsterblich werden. 
 
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