Dieses Mal stieg ich an dem allgemeinen Umzugstag zu Ole hinauf, weil es an dem Tag durchaus nicht angenehm auf den Straßen unten in der Stadt ist; sind sie doch über und über mit Kehricht, Scherben und Überbleibseln aller Art bedeckt, nicht zu reden von dem ausgedienten Bettstroh, in dem man umherwaten muß. Dabei kam ich gerade dazu, wie ein paar Kinder in diesem Schwall von Kehricht umherspielten; sie spielten »zu Bette gehen«, das Feld schien ihnen recht passend zu diesem Spiele und höchst einladend zu sein, sie verkrochen sich in dem Bettstroh und zogen ein altes Stück zerfetzter Tapete als Deckbett über sich. »Das ist gar zu schön!« sagten sie; mir war das nun ein bißchen zu stark, und überhaupt mußte ich ja fort, mußte zu Ole hinauf.
»Es ist heute Umzugstag«, sprach er, »Straßen und Gassen dienen als Kehrichtkübel, als großartige Kehrichtkübel! Mir genügt aber schon ein Wagen voll. Aus dem kann ich schon etwa herauskriegen und ich fand auch manches, einmal kurz nach Weihnachten. Ich ging die Straße hinaus, es war ein rauhes Wetter, naß, schmutzig, so recht ein Wetter zum Schnupfenholen; der Kehrichtmann war da mit seiner Karre, die war gefüllt, eine Art Farbkarte der Straßen, wie sie es am Umzugstage sind. Hinten in der Karre stand eine Tanne, noch ganz grün und mit Rauschgold an den Zweigen, die war zwar zum Weihnachtsfest bestimmt gewesen, jetzt aber war sie auf die Straße geworfen und vom Kehrichtmann hinten in der Karre aufgestellt worden. Es war lustig anzusehen oder auch zum Weinen; es kommt darauf an, was man sich dabei denkt; ich dachte mir etwas dabei und dachte ganz gewiß auch an dieses und jenes von dem, was auf der Karre lag, oder hätte daran wenigstens denken können, was ja ungefähr dasselbe ist. Da lag auch ein alter Damenhandschuh; was dachte der wohl? Soll ich es Ihnen sagen? Der Handschuh lag dort und zeigte mit dem kleinen Finger gerade auf die Tanne. »Mich jammert der Baum,« dachte er, »auch ich bin beim Fest mit Kronleuchtern gewesen! Mein eigentliches Leben war eine Ballnacht, ein Händedruck, und ich platzte! Dort bleibt meine Erinnerung stehen, und ich habe weiter nichts, wofür ich leben könnte!« Das dachte der Handschuh – oder hätte es denken können.
»Das ist dumm mit der Tanne!« sagten die Scherben. Scherben finden nun alles summ. »Wenn man auf dem Kehrichtkarren ist«, sagten sie, »soll man sich nicht brüsten und Rauschgold tragen; ich weiß, daß ich in dieser Welt genützt habe, mehr genützt als so ein grüner Stecken!« Das war nun auch so eine Ansicht, und ich glaube, sie steht nicht gerade allein da; die Tanne sah doch gut aus, sie war gleichsam ein wenig Poesie auf dem Kehrichthaufen, und wahrlich, Kehricht gibt es in Mengen auf den Straßen am Umzugstage.« Der Weg wird einen schwer und mühsam, und ich muß dann vorwärts, aus dem Trubel heraus, und wenn ich auf dem Turm bin, muß ich oben bleiben und mit Humor hinabschauen.
Da spielen die lieben Leute unten Häusertausch! Sie schleppen und rackern sich ab mit ihrem Hab und Gut, und der Kobold sitzt im alten Fasse und zieht aus mit ihnen; all die kleinen Leiden der Wohnung und der Familie, die wirkliche Sorgen und der Kummer ziehen mit aus der alten Wohnung in die neue, und was kommt dann für sie und für uns bei der ganzen Geschichte heraus? – Ja, das steht freilich schon längst geschrieben in dem alten, guten Sinnspruch: »Denke an den großen Umzugstag des Todes!« Das ist ein ernster Gedanken, es ist Ihnen doch nicht unangenehm, daß ich ihn anrege? Der Tod ist und bleibt der zuverlässigste Beamte, und zwar trotz seiner vielen Nebenbeschäftigungen. Ja, der Tod ist Omnibusschaffner, er ist Paßschreiber, er bescheinigt unser Führungszeugnis, und er ist Direktor der großen Sparkasse des Lebens. Verstehen Sie? Alle Taten unseres Erdenlebens, große und kleine, legen wir auf diese Sparkasse, und wenn der Tod dann kommt mit seinem Umzugsomnibus und wir steigen ein und müssen mitfahren in das Land der Ewigkeit, dann gibt er uns an der Grenze unser Führungszeugnis als Reisepaß. Als Zehrpfennig auf der Reise nimmt er aus der Sparkasse diese oder jene Tat, die wir verübt haben, und gibt sie uns mit; es kann dies sehr erfreulich, aber auch ganz entsetzlich sein. Noch niemand ist dieser Omnibusfahrt entronnen, man spricht und erzählt freilich von einem, dem es nicht gewährt ward, mitzufahren, dem Ewigen Juden, der mußte hinter dem Omnibus einherrennen; hätte man ihm einzusteigen erlaubt, so wäre er der Behandlung durch die Poeten entgangen.
Schau einmal in Gedanken in jeden großen Umzugsomnibus hinein. Die Gesellschaft ist gemischt: König und Bettler, Genie und Idiot sitzen nebeneinander; mit müssen sie, ohne Geld und Gut, nur das Führungszeugnis und den Sparkassenpfennig führen sie mit sich. Doch welche von unseren Taten wird wohl hervorgesucht und uns mitgegeben? Vielleicht eine ganz kleine, eine vergessene, aber doch eingeschriebene, klein wie eine Erbse, aber die Erbse kann eine blühende Ranke treiben. Der arme Tolpatsch, der auf dem niedrigen Schemel im Winkel saß und gepufft und geschimpft wurde, bekommt vielleicht seinen abgenutzten Schemel als Zehrpfennig mit; der Schemel wird zum Tragesessel ins Land der Ewigkeit, hebt sich dort als Thron empor, strahlend wie Gold, blühend wie eine Laubhütte. Derjenige, der hier auf Erden niemals umherschlenderte und der den Kräutertrank der Vergnügungen schlurfte, damit er das Verkehrte vergäße, das er hier tat, bekommt sein Fäßchen mit auf die Reise und muß aus demselben während der Omnibusfahrt trinken, und der Trank ist so rein und klar, so daß die Gedanken sich erhalten, alle guten und edlen Gefühle erweckt werden und er das sieht und empfindet, was er früher nicht sehen mochte oder sehen konnte, und alsdann hat er in seinem Innern die Strafe, den nagenden Wurm, der nicht stirbt in endlosen Zeiten. Stand auf den Gläsern geschrieben Vergessenheit, so steht auf de Fäßchen geschrieben Erinnerung.
Wenn ich ein gutes Buch, eine historische Schrift lese, so muß ich mir stets zuletzt die Person, von der das Buch handelte, und den Omnibus des Todes vorstellen, muß darüber nachdenken, welche von dessen Taten der Tod wohl aus der Sparkasse herausgenommen, welchen Zehrpfennig er ihm mit auf die Reise in die Ewigkeit gegeben haben mag. Es war einmal ein französischer König, ich habe seinen Namen vergessen, der Name guter Leute wird manchmal vergessen, auch von mir, allein er taucht schon wieder auf – es war ein König, der während einer Hungersnot der Wohltäter seines Volkes wurde, und das Volk errichtete ihm ein Monument aus Schnee, mit der Inschrift: »Schneller als dieses schmilzt, brachtest du Hilfe!« Ich denke mir, daß der Tod ihn nun, im Hinblick auf das Monument, eine einzige Schneeflocke als Zehrpfennig gab, eine Flocke, die nie schmilzt, und diese flog, ein weißer Schmetterling, über seinem königlichen Haupt in das Land der Unsterblichkeit. – So gab es auch einen Ludwig den Elften, ja, seinen Namen habe ich behalten, das Böse behält man schon. Ein Zug seines Charakters kommt mir oft in die Gedanken, ich wollte, man könnte sagen, die Geschichte sei unwahr. Er ließ seinen Oberstallmeister hinrichten, und er konnte ihn hinrichten lassen, mit Recht oder Unrecht, aber er ließ auch die unschuldigen Kinder des Oberstallmeisters, eines von acht, eines von sieben Jahren, auf den Richtplatz bringen und mit dem warmen Blut ihres Vaters bespritzen, ließ sie darauf in die Bastille führen und in eiserne Käfige sperren, woselbst sie nicht einmal eine Decke zum Schutz gegen die Kälte bekamen. Und König Ludwig sandte jede Woche den Henker zu ihnen und ließ jedem einen Zahn ausziehen, damit sie es nicht zu gut hätten; und der älteste Knabe sagte: »Meine Mutter würde vor Kummer sterben, wenn sie wüßte, daß mein kleiner Bruder so sehr leiden muß, deshalb zieh mir zwei Zähne aus und verschone ihn!« Dem Henker traten die Tränen in die Augen, allein des Königs Wille war stärken als die Tränen, und jede Woche wurden dem König zwei Kinderzähne auf einem silbernen Teller überbracht; er hatte sie verlangt, und er bekam sie. Diese zwei Zähne, denke ich mir, nahm der Tod aus der Sparkasse des Lebens und gab sie Ludwig dem Elften mit auf die Reise in das große Land der Unsterblichkeit; sie fliegen wie zwei Feuerflammen ihm voran, sie leuchten, sie brennen, sie zwacken ihn, die unschuldigen Kinderzähne.
Ja, das ist eine ernste Fahrt, die Omnibusfahrt an dem großen Umzugstag! Und wann muß sie wohl angetreten werden? Das ist eben der Ernst: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute muß man den Omnibus erwarten. Welche von unseren Taten wird wohl der Tod aus der Sparkasse herausnehmen und uns mitgeben? – Gedenken wir des Umzugstages, der nicht im Kalender steht.