Nach dem Mittagessen wollte Bengele seine Freunde im Städtchen aufsuchen und zum Feste laden.
Vor dem Weggehen mahnte ihn die Fee und sprach: »Achte darauf, daß du vor Dunkelheit wieder zu Hause bist!«
»In einer Stunde bin ich zurück«, sagte der Hampelmann zuversichtlich.
»Versprich nicht zu viel, Bengele! – Wer zu viel verspricht, hält gewöhnlich wenig.«
»Aber ich nicht! – Und erst, wenn ich ein Knabe bin ...«
»Abwarten! – Jetzt bist du noch ein Hampelmann. Wenn du heute nicht gehorchst, ist es dein größter Schaden.«
»Warum?«
»Wer nicht hören will, muß fühlen.«
»Das ist wahr. Ich habe es genug erfahren. Aber ich mache keine dummen Streiche mehr.«
»Abwarten!«
Bengele verabschiedete sich von der guten Mutter, sang und sprang und ging zum Hause hinaus.
In einer Stunde hatte er wirklich all seine Freunde eingeladen. Die meisten nahmen gerne an; manche ließen sich auch bitten. Doch als sie hörten, daß es dickgestrichene Butterbrote mit Honig gebe, sagten sie gerne zu. Äußerlich zierten sie sich freilich und meinten: »Wir wollen dir deine Freude nicht verderben.«
Bengeles bester Freund war Friedrich. Die Knaben nannten ihn nur den »Röhrle«. Er war ein dünnes, zartes Kerlchen, aber in allen Streichen durch wie ein Blasröhrle. Gerade deshalb liebte ihn Bengele mehr als alle andern. Er hatte ihn auch zuerst einladen wollen, aber er traf ihn nicht zu Hause. Auch ein zweites und drittes Mal war sein Gang vergeblich.
Nun suchte der Hampelmann seinen Röhrle in allen Winkeln und Ecken, wo sie miteinander gespielt hatten. Schließlich fand er ihn vor dem Städtchen hinter der Scheune eines Bauernhofes.
»Röhrle«, rief Bengele schon von weitem, »wo steckst du nur? – Was treibst du denn hier außen?«
Röhrle hatte ein schlechtes Zeugnis erhalten und fürchtete sich vor seinem Vater, der abends nach Hause kam. Er antwortete seinem Freunde:
»Ich warte bis Mitternacht, um auszureißen.«
»Wohin?«
»Weit, weit fort!«
»Dreimal schon habe ich dich daheim gesucht.«
»Warum?«
»Hast du es noch nicht gehört, was morgen geschieht? – Weißt du nicht, was ich werden soll?«
»Was?«
»Morgen hat es mit dem Hampelmann ein Ende, und ich werde ein Knabe wie du und alle andern.«
»Ich gratuliere!«
»Also morgen kommst du zum Feste.«
»Ich habe dir schon gesagt, daß ich ausreiße.«
»Wann?«
»Bald!«
»Wohin?«
»In ein fremdes Land, ins schönste Land der Welt!«
»Wie heißt es?«
»Faulenzerland! – Willst du nicht mitgehen?«
»Nein!«
»Sehr dumm, Bengele! – Es wird dich einmal reuen. Faulenzerland ist das schönste Land der Welt. Schulen und Bücher sind dort verboten. Wer lernt, wird bestraft. Jeden Tag ist schulfrei. Die großen Ferien gehen vom 1. Januar bis 31. Dezember. – Das ist ein Leben nach meinem Geschmacke. Daran könnten sich die zivilisierten Länder ein Vorbild nehmen.«
»Aber was treibt man denn jeden Tag im Faulenzerland?«
»Man spielt von Morgen bis Abend; dann geht man schlafen und am andern Morgen fängt es von vorne an. Na!?«
»Hmm!« machte Bengele und neigte den Kopf zur Seite. Das bedeutete: »Es tät mir auch gefallen.«
»Gehst du also mit? Ja oder nein! – Sei nicht langweilig!«
»Nein, nein, nein! – Ich habe meiner guten Mutter Fee versprochen, ein richtiger Knabe zu werden, und jetzt wird es auch gehalten. – Übrigens geht die Sonne gleich unter. – Ich gehe heim. Adieu, glückliche Reise!«
»So wird es doch gerade nicht eilen?«
»Doch! Ich habe es meiner Mutter versprochen; bevor es dunkel wird, will ich daheim sein.«
»Bleibe nur noch ein wenig da!«
»Es wird zu spät!«
»Nur noch ein ganz klein wenig!«
»Dann schimpft die Mutter Fee!«
»Laß sie schimpfen; sie hört auch wieder auf«, sagte der schlimme Röhrle.
»Gehst du allein oder mit andern?« fragte Bengele.
»Wo denkst du hin? – allein! – Es sind über hundert Knaben.«
»Geht die Reise zu Fuß?«
»Nein, nein! Gleich kommt das Fuhrwerk, mit dem man bis ins Faulenzerland fahren kann.«
»Wenn es nur gleich käme!«
»Warum?«
»Ich möchte euch abfahren sehen.«
»Warte noch ein wenig, und du kannst alles sehen.«
»Nein, nein, nein, jetzt gehe ich heim.«
»Warte doch nur noch ein bißchen!«
»Ich habe lang genug gewartet. Die gute Mutter ängstigt sich um mich.«
»Die arme Fee! Sie wird vielleicht denken, daß dich der Nachtkrabb frißt.«
»Na also!« sagte Bengele; »aber weißt du auch bestimmt, daß es in jenem Lande keine Schulen gibt?«
»Keine Spur davon!«
»Auch keine Lehrer?«
»Keinen einzigen!«
»Muß man gar nie lernen?«
»Gar nie!«
»Ein schönes Land!« murmelte Bengele, – schon war er halb gefangen. – »Ein schönes Land! Ich habe es zwar noch nie gesehen, aber ich kann mir's vorstellen.«
»Warum gehst du dann nicht mit?«
»Du kriegst mich nicht herum und brauchst darum gar keine Anstrengungen mehr zu machen. Nun habe ich es einmal der Mutter versprochen, ein guter Knabe zu werden; ich werde es halten.«
»Also, Adieu! Einen schönen Gruß an die Schulhäuser, wenn du dran vorbeigehst!«
»Adieu, Röhrle, gute Reise, viel Vergnügen, vergiß deine alten Freunde nicht!«
Bengele wollte gehen; aber er hatte keine drei Schritte gemacht, so drehte er sich noch einmal um und sprach:
»Sag, Röhrle, gibt es dort wirklich immer Ferien?«
»Gewiß!«
»Weißt du ganz sicher, daß die Ferien vom 1. Januar bis zum 31. Dezember gehen?«
»Ganz sicher!«
»Ein schönes Land!« seufzte Bengele und rückte seine Mütze zurecht. Aber er siegte noch einmal über sich selbst und sagte rasch:
»Also, Adieu! Gute Reise!«
»Adieu!« –
Gleich drehte sich Bengele noch einmal um und fragte:
»Wann geht es ab?«
»Gleich!«
»Schade! – Wenn es nicht über eine Stunde ginge, dann könnte ich vielleicht doch warten.«
»Aber die Fee!« bemerkte der schlaue Röhrte.
»Jetzt ist es sowieso zu spät, und auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.«
»Armer Bengele, wenn die Fee dich ausschimpft!«
»Macht nichts; ich lasse sie schimpfen, sie hört schon wieder auf.«
Es war dunkle Nacht geworden. Nach langem Warten sahen die beiden von ferne her ein Lichtlein kommen; sie hörten tuten und blasen, aber es war so leise wie Fliegengesumme.
»Da, da!« rief Röhrle.
»Was?« fragte Bengele.
»Da kommt das Fuhrwerk! – Gehst du mit? – Ja oder nein!?«
»Muß man dort wirklich nicht lernen?«
»Gar nicht! Wirklich gar nicht!«