Indessen war es Abend geworden, und Bengele erinnerte sich, daß er noch nichts gegessen hatte. Er spürte eine Leere im Magen und fühlte starken Appetit. Im Handumdrehen war der Appetit schon Hunger und verlangte gestillt zu werden.
Auf dem eisernen Ofen in der Ecke stand ein Topf. Das Hampelchen hob den Deckel ab und schaute hinein. – Nichts als Wasser. Bengele sah sein dummes Gesicht darin abgespiegelt und setzte kopfschüttelnd den Deckel wieder auf den Topf.
Das hungrige Hampelchen rannte im Zimmer auf und ab, zog alle Schubladen aus, öffnete alle Kästchen. – O daß er doch ein Stückchen Brot finden könnte, wenn es auch ganz trocken wäre! Sogar mit einer alten, harten Kruste hätte er sich begnügt, aber gar nichts war da auf Vorrat bei seinem armen Vater Seppel.
Indes wurde der Hunger immer stärker und Bengele fing an zu gähnen. Er riß den Mund entsetzlich auf und glaubte, sein Magen gehe ihm davon. Mutlos und verzweifelt fing er an zu weinen und sprach:
»Ja, ja! Lispel-Heimchen hat doch recht gehabt und hat es so gut mit mir gemeint. – Aber ich war eigensinnig und unartig; ich habe dem Vater nicht gehorcht und bin ihm davongelaufen. – Wenn doch nur der Vater da wäre! – Durch meine Schuld ist er ins Gefängnis gekommen, und ich muß daheim vor Hunger sterben. – Der Hunger tut so weh; er ist eine schreckliche Krankheit.« –
Hurra! – Dort liegt etwas auf dem Kehrichthaufen. Bengele springt hin, hebt es auf und ruft:
»Ein Ei! Ein Ei!« – Der halbverhungerte Hampelmann kann sein Glück kaum fassen. Er hält das Ei in beiden Händen, drückt es an die Wangen, küßt und streichelt es.
»Jetzt mache ich mir einen Eierkuchen«, sagt er überglücklich, »oder soll ich es einschlagen? – oder weichkochen? – Das Einschlagen geht am schnellsten; ich kann nicht mehr lange warten mit meinem Hunger.«
An der Wand hing eine Bratpfanne. Er holte sie herab und stellte sie auf die Kohlenglut, über der Vater Seppel den Leim kochte. Butter oder anderes Fett war nicht da. Bengele goß Wasser in die Pfanne und blies die Kohlenglut neu an. Das Wasser begann ein wenig zu dampfen, da nahm er das Ei, schlug es auf den scharfen Rand der Pfanne und ... –
»Pieps, pieps!« begrüßte ihn ein lustiges buntfarbiges Vögelchen; es kroch flink aus dem Ei, setzte sich auf den Pfannenstiel, schlug die Flügel und putzte sich. Dann machte es dem Bengele ein artiges Kompliment und sang mit heller Stimme:
Mein kleiner Freund, ich danke dir;
Du hast mich heut befreit.
Ich schwing' mich fort, weit fort von hier
Zur Waldeseinsamkeit.
Halbflügg' entflog dem Elternpaar
Ich aus dem Nest heraus
Und schlief verzaubert hundert Jahr'
In diesem weißen Haus.
Adieu! Leb wohl, mein Bengelein!
Ich laß den Vater grüßen. –
Des Eigensinnes Diener sein,
Muß jeder bitter büßen.
Mit großen Augen und offenem Munde, die Eierschalen in der Hand, hörte der Hampelmann des Vögleins Lied. Der kleine Sänger flog fort durchs offene Fenster; der Hampelmann aber weinte zum Erbarmen und sprach: »Lispel-Heimchen und das Vögelein haben ganz recht. – Ich muß vor Hunger sterben. – Wäre ich doch nicht davongelaufen. – Ja, ich muß es büßen, ich sterbe vor Hunger.«
Immer schlimmer knurrte der Magen. Es war schon spät abends. Bengele wagte das Äußerste, ging zum Hause hinaus und lief aufs Geratewohl fort.
»Ich werde doch irgend einen guten Menschen finden, der mir ein wenig zu essen gibt«, das war sein einziger Gedanke.