„Jetzt kommt das Traurige,“ begann das Sandrohr von neuem. „Seht, ich habe es nun schon so lange mit angehört, wie das Erdreich meinen wunderschönen Sand verhöhnt und zum besten hat, und ich weiß, daß der Sand am liebsten gute, tüchtige Erde sein und Blumen und Bäume hervorbringen möchte. Ich benutze daher mein ganzes Leben dazu, dem Sande zur Erreichung dieses Zieles zu verhelfen. Ich binde ihn mit meinen Wurzeln und Wurzel[S. 156]stöcken, wenn er auffliegen will; ich banne und binde ihn, obwohl das mein Unglück ist.“
„Warum?“ fragte die Erde. „Es müßte doch auch für dich ganz hübsch sein, wenn der Sand ruhig und fest wäre. Dann könntest du in aller Stille wachsen und gedeihen, und deine Blätter würden eine bessere, grüne Farbe bekommen.“
„Nein,“ sagte das Sandrohr, „gerade das kann ich nicht. Ich lebe und sterbe mit dem fliegenden Sand. Ich kann gar nicht gedeihen, wenn der Sand nicht über mich hinfegt. Sooft einer von meinen kleinen Blattbüscheln vom Sande bedeckt wird, durchfließt mich ein Strom von Mut und Lebenslust und Freude. Ich fühle mich doppelt stark und doppelt froh, versende neue Triebe und wachse, wachse, bis ich durch den Sand emporgekommen bin.“
„Und dann?“ fragte die Erde.
„Dann bleibe ich wieder stecken,“ erwiderte das Sandrohr. „Es ist, als würde meine Kraft gelähmt, nachdem ich mein Ziel erreicht habe. Still und verzagt warte ich darauf, daß der Sand wieder über mich hinfegt und mir neuen Lebensmut gibt.“
„Seltsam, höchst seltsam!“ rief das Sandhaargras.
„Ja,“ fuhr das Sandrohr fort, „so ist es nun einmal mit mir. Darum sage ich, daß mein Los so unendlich traurig ist. Unermüdlich arbeite ich daran, meinen geliebten Sand zu binden, und wenn das geschehen ist, muß ich sterben. Ich arbeite an meinem eigenen Tode. Ich arbeite für andere. Sandhaargras, Mannstreu und das bunte Stiefmütterchen treten an meine Stelle. Wenn die Düne fest wird, so daß man sich auf ihr ansiedeln kann,[S. 157] dann ist das in erster Linie mir zu verdanken. Darum säen die Menschen mich auch überall in den Sand, und ich tue meinen Nutzen und sterbe. Das ist meine traurige Geschichte. Es schneidet mir ins Herz, sie zu erzählen, aber ich habe es getan, damit die dumme fette Ackererde sieht, wie wir in der Düne leben und daß es jemand gibt, der den armen weißen Flugsand mehr liebt als sein Leben.“
„Mein liebes, liebes Sandrohr!“ rief der Sand und bedeckte im Nu alle seine Büschel.
„Vielen Dank!“ sagte das Sandrohr. „Nun bin ich glücklich.“
„Das ist wirklich eine rührende Geschichte,“ sagte die Erde. „Eine niedliche Geschichte für junge Mädchen von Liebe und Aufopferung. Aber wo bleibt das Grauenhafte, Spannende, Dramatische?“