Frau Frosch rückte ihre Brille mit den dicken Gläsern auf ihrer Nase gerade, bevor sie ihre Hand auf die Klinke legte. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie die Tür öffnete. Dieser Tag, das wusste sie schon seit Wochen, würde ihr nicht leicht fallen. Sie schluckte schwer, dann betrat sie den Raum.
In der großen Schulklasse standen zwei Dutzend kleine Badewannen hinter den Tischen. Darin schwammen genau so viele kleine Kaulquappen, die Frau Frosch in diesem Jahr unterrichtet hatte. »Guten Morgen, Kinder.« Während man ihr lauthals antwortete, sah sie durch die Reihen und prägte sich die Gesichter alle noch einmal ein, bevor sie sich ans Lehrerpult setzte.
Frau Frosch legte ihre große Tasche auf den Tisch und holte eine Mappe hervor, die nicht viel kleiner war.
»Heute ist der letzte Schultag für euch. Ab Morgen seid ihr nicht mehr die Kaulquappenklasse der Grundschule. Schon bald beginnt für euch ein neuer Lebensabschnitt. Ihr geht auf die Schule für die großen Kinder. Ihr seid bestimmt schon richtig aufgeregt. Aber vielleicht werdet ihr mich auch ein wenig vermissen.«
In diesem Augenblick spürte Frau Frosch ein kleines Tränchen, dass sich in ihrem Augenwinkel bildete. Schnell wischte sie es fort.
»Mir bleibt nicht mehr viel zu tun. In meiner Mappe liegen eure Zeugnisse und für jeden von euch noch ein persönlicher Brief, der euch auf euren zukünftigen Weg begleiten und vorbereiten soll.«
Frau Frosch verteilte die Zeugnisse, die Briefe und drückte jeder Kaulquappen noch einmal. Kurz darauf klingelte es und die Schule war vorbei.
Die Kaulquappen griffen nach den Rudern, die an ihren Badewannen angebracht waren und in Gummiflossen steckten. Damit verließen sie nacheinander den Klassenraum und verschwanden in die Ferien.
Die meisten Kaulquappen reisten mit ihren Familien in den lang ersehnten Urlaub. Fünf andere hatten sich den Brief von Frau Frosch durchgelesen und sich etwas anderes vorgenommen.
Das Leben ist voller Überraschungen. Man muss nur die Augen offen lassen und sich umschauen. Selbst in einer kleinen Kleinigkeit kann eine lustige Geschichte, vielleicht sogar ein spannendes Abenteuer stecken. Man muss sie nur entdecken. Ich weiß jetzt schon, dass in jedem von euch ein Entdecker steckt, der nur darauf wartet, befreit zu werden.
Nun waren die Fünf unterwegs. Sie hatten ihre Badewannen zum nächsten Bach gesteuert und hatten sich mit der Strömung treiben lassen.
Es gab so viel zu sehen. Wiesen, Felder, große, dunkle Wälder. Sie kamen an kleinen und großen Tieren vorbei, entdeckten manch unheimlichen Schatten unter sich, der sie zittern ließ. Mal war der Bach breit, flach und langsam, dann wieder schmal, tief und rasend schnell, dass die Badewannen umzukippen drohten.
Eine der Kaulquappen hielt plötzlich den Brief von Frau Frosch in die Höhe und zeigte ihn den anderen. »Ich möchte nicht mehr nur einfach hier durch die Gegend schippern. Ich will etwas erleben und Abenteurer werden.« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang sie in den Bach und tauchte unter.
Die Anderen waren erschrocken. Da unten lauerten Gefahren. Man konnte von größeren Tieren gefressen oder sich in Algen verfangen. Die Zeit verging, erst eine, dann zwei, schließlich drei Minuten. Da tauchte die kleine Kaulquappe wieder auf. Zwischen ihren Händen hielt sie eine glänzende Fischschuppe, die sie einer Forelle geklaut hatte.
»Moment mal!« Die Kaulquappe blickte auf ihre Hände herab und erschrak. Wo kommen die denn her? Ich bin eine Kaulquappe, ich hab doch keine Hände. Das ist ja seltsam.« Sie ließ die Schuppe fallen, griff wieder danach und drehte sie hin und her. »Wahnsinn! Hände sind ja etwas richtig Praktisches. Die kann ich echt gut gebrauchen.«
Nun hielt es auch die anderen Kaulquappen nicht mehr in ihren Badewannen. Sie sprangen ebenfalls über Bord und tobten sich im Bauch aus. Mal rupften sie Wasserpflanzen aus dem Boden und setzten sie sich als Blumenkranz auf den Kopf, mal stahlen sie den Fischen einzelne Fische. Dabei wären sie ein ums andere Mal beinahe gefressen worden. Doch irgendwann saßen wieder glücklich in ihren Badewannen.
Langsam kamen die Kaulquappen wieder zur Ruhe. Sie sahen sich gegenseitig an und konnten es kaum fassen, dass sie sich während der letzten Stunden und Tage komplett verändert hatten. Ihre schwarzbraune Haut war grün geworden, der lange Schwanz verschwunden, dafür Arme und Beine gewachsen. »Wir sind richtige Frösche geworden. Jetzt sind wir echte Abenteurer und Entdecker.« Sie jubelten laut. Dann stiegen sie aus den zu eng gewordenen Wannen. »Die brauchen wir nicht mehr. Wir können in Windeseile durch das Wasser schwimmen oder mit mächtigen Sprüngen nach Hause hüpfen.«
Das Abenteuer war erlebt und viele neue Dinge entdeckt. Die Ferien neigten sich langsam ihrem Ende zu. Für die fünf Frösche wurde es Zeit zurückzukehren. Sie machten sich auf den Weg und kamen gerade rechtzeitig, um den ersten Unterrichtstag in der Froschschule nicht zu verpassen.
Sie setzten sich an ihre Tisch, nun nicht mehr in Badewannen, sondern auf großen Stühlen und hörten den neuen Lehrer am Pult zu. Währenddessen sahen sie irgendwann aus dem Fenster und entdeckten auf dem Schulhof Frau Frosch, die ihnen glücklich zuwinkte.