Mitten im tiefen Dschungel lebten alle Tiere glücklich und zufrieden. Jeden Tag schien die Sonne, in der sich die Eidechsen aufwärmten. Jeden Tag regnete es, damit die Pflanzen gut gedeihen konnten und jeder genug zu trinken hatte. Es mangelte an nichts. Sogar zu Fressen gab es in großen Mengen. Es wuchsen viele Früchte an den Bäumen und Büschen. Niemand musste für sein Leben hart arbeiten. Überall lebten große Herden, Rudel und Familien. Es gab Hirsche, Antilopen, Elefanten, Büffel und auch Affen. Sogar Störche, Tauben, Krähen, Spechte und andere Vögel waren hier zu Hause. Und wenn man man viel Glück hatte, traf man einen der gemütlichen Bären, die immer eine lustige Geschichte auf den Lippen hatten. Sie waren gern gesehene Gäste bei jeder Feier.
Eines Tages fuhr das Wildschwein Grunz mit seinem Roller einen langen Weg entlang. Es war unterwegs zu seinen Großeltern. Aber bevor es sein Ziel erreichte, hörte es plötzlich ein lautes Geräusch. In den umliegenden Büschen knackten die Äste und raschelte das Laub. Plötzlich sprang eine riesige Katze wie aus dem Nichts hervor. An ihren gelben und schwarzen Streifen war zu erkennen, das es ein Tiger war.
»He, Schwein, was machst du hier? Das ist mein Revier. Also sieh zu, dass du ganz schnell wieder verschwindest.«
Grunz war vor Schreck erstarrt. Von Tigern hatte er immer wieder etwas gehört, sie allerdings noch nie zu Gesicht bekommen. Wenn man den Geschichten glauben durfte, waren sie gemein, böse und sehr verfressen. Wenn einer von ihnen Hunger bekam, griffen sie andere Tiere an und fraßen sie auf.
»Bitte, bitte friss mich nicht. An mir ist kaum etwas dran. Ich bin doch nur Haut und Knochen.«
Der Tiger lachte laut.
»Wenn du genau das tust, was ich dir sage, dann wird dir auch nichts geschehen.«
Der Tiger kam langsam ein paar Schritte näher und brachte Grunz damit zum Zittern.
»Geh zurück in dein Dorf und erzähl allen anderen, dass ich wieder da bin und von nun an als Maharadscha über euch herrschen werde.«
Das Wildschwein war unsicher und wäre nur zu gern tot umgefallen. Trotzdem stellte es eine Frage.
»Aber welchen Namen soll ich ihnen nennen, wenn sie mich nach dir fragen?«
»Was?«, fauchte der Tiger. Er wurde so wütend, dass er sich nur schwer zurück halten konnte, das kleine Schwein sofort zu verspeisen.
»Ich bin Narsinh der Unbesiegbare, dein neuer Herr. Also lauf zurück, bevor ich dich in Fetzen reiße.«
Grunz bekam es nun richtig mit der Angst zu tun. Er wendete seinen Roller und fuhr, so schnell es ging, in sein Dorf zurück.
Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Alle Tiere des Dschungels fürchteten um ihr Leben. Die Älteren von ihnen erinnerten sich noch an das Letzte Mal, als der Tiger sie beherrschte. Sie erzählten den Jüngeren, dass sie Tag und Nacht für ihn arbeiten mussten. Wer nicht tat, was ihm aufgetragen wurde, endete als Mittagessen.
Nur ein paar Tage später kam ein Bote in die Siedlung. Es war ein Affe, der sich nun auf dem Dorfplatz aufstellte, ein großes Blatt Papier entrollte und die neuen Gesetze und Anordnungen verlas.
»Von nun an ist es euch verboten, faul auf eurer Haut herum zu liegen. Jegliche Nahrungsmittel, die gepflückt oder gesammelt werden, sind bei uns Affen abzuliefern. Wir werden zuerst den Maharadscha versorgen. Was übrig bleibt, teilen wir euch in kleinen Rationen zu. Es wird nicht mehr geredet, gelacht oder gesungen. Ihr dürft nur noch dann sprechen, wenn wir euch etwas fragen, oder es für eure Aufgaben nicht vermeidbar ist. Wer ordentlich arbeitet, wird belohnt. Wer die neuen Regeln nicht beachtet wird von uns zum Maharadscha gebracht. Er wird dann keine Gnade walten lassen und euch fressen.«
Die Tiere im Dorf hatten den Atem angehalten. Keiner von wagte es, zu widersprechen.
»Worauf wartet ihr denn noch?«, fragte der Affe.
»Macht euch an die Arbeit. Euer neuer Herrscher ist hungrig. Bis heute Abend erwarte ich eine erste Lieferung Nahrungsmittel. Also beeilt euch.«
Sofort machten sich alle an die Arbeit. Die Antilopen sammelten mit ihren Hörnern Früchte von den Bäumen. Der Bär Bruno holte unter Tränen seinen Honigvorrat aus dem Keller. Jeder half dem anderen, damit niemand als Tigerfutter enden musste.
Die Affen hingegen saßen gemütlich in den Baumkronen, achteten auf die Einhaltung aller Regeln und ließen sich eine Kiste voller Bananen schmecken.
Die geknechteten Tiere fühlten sich gar nicht mehr wohl. Früh am Morgen begannen sie zu arbeiten und erst spät am Abend durften sie sich in ihre Betten legen. Niemand war mehr glücklich. Trotzdem wagte es kein einziger von ihnen, etwas gegen den Tiger zu sagen. Die Gefahr, gefressen zu werden war einfach viel zu groß.
Nach ein paar Wochen ging es Grunz schlecht. Ihm war während der Arbeit ein dicker Ast auf den Kopf gefallen. Nun saß er vor seiner Hütte und jammerte vor sich hin. Die Schmerzen ließen allerdings nicht so schnell nach.
»Was ist denn mit dir los? Du willst uns doch nicht glauben machen, dass du zu schwach zum arbeiten bist. Los, beweg dich.«, rief einer der Affen.
»Aber ich bin verletzt. Ich kann heute nicht mehr arbeiten.«, antwortete das Wildschwein ängstlich.
»Du kannst nicht mehr arbeiten? Dann gibt es nur noch eine einzige Aufgabe für dich. Du wirst heute das Abendessen des Maharadschas sein.«
Sofort sprangen fünf Affen zum Boden, packten sich Grunz und verschwanden mit ihm im dichten Grün des Dschungels.
Die anderen Tiere hatten alles gesehen. Nun wurde ihre Angst noch größer. Bisher hatten sie noch gehofft, dass die Affen niemals diese harte Strafe verhängen würden. Doch nun war es doch dazu gekommen. Die Tiere machten sich wieder schweigend an die Arbeit.
Grunz wusste nicht, wie ihm geschah. Es ging rauf und runter, hin und her, drunter und drüber. Er verlor völlig die Orientierung. Als er schließlich wieder auf dem Boden lag, hörte er ein leises Knurren hinter sich.
»Da bist du ja wieder, kleines Schwein. Ich hatte schon bei unserer ersten Begegnung das Gefühl, dass du nur für Schwierigkeiten sorgen würdest. Aber darüber müssen wir uns nun beide keine Sorgen mehr machen, denn ich werde dich gleich verspeisen.«
Der Tiger band sich eine Schürze um, leckte sich die Lippen und holte ein großes Messer hervor. Doch bevor seine böse Tat vollbringen konnte, verlor er den Boden unter den Füßen und flog im hohen Bogen durch die Luft.
»Was fällt dir eigentlich ein, ein armes kleines Wildschwein fressen zu wollen. Hast du denn gar keinen Anstand im Leib?«
Ein großer Elefant war hinter einem großen Baum hervor gekommen. Er hatte sich den Tiger gepackt und fort geschleudert.
»Egal, wo ich bin, immer sorgst du nur für Ärger. Wahrscheinlich unterdrückst du wieder ein ganzes Dorf und lässt es für dich arbeiten.«
Der Tiger verkroch sich hinter einem Busch und wünschte sich, so klein wie eine Maus zu sein. Doch selbst dann hätte er sich nicht verstecken können.
»Na warte, ich werde dir schon die Leviten lesen, mein Freund.«
Der Elefant packte sich den Tiger und verschwand mit ihm im Dschungel.
Grunz konnte noch gar nicht glauben, dass er überlebt hatte. Nur langsam rappelte er sich wieder auf lief dann schnell nach Hause.
»Der Tiger ist fort.«, rief er allen Tieren zu.
»Der Tiger ist fort. Ein großer Elefant hat ihn gefangen und verschleppt. Wir sind endlich frei.«
Sehr schnell normalisierte sich das Leben wieder. Bruno brachte neuen Honig in seinen Keller und die anderen Tiere arbeiteten nur so hart, wie es gerade sein musste, um etwas zu fressen zu bekommen. Was aus dem Tiger geworden war, erfuhren sie nie.
Einige Kilometer entfernt hatte ein Zirkus in einer Menschenstadt Halt gemacht. Auf großen Plakaten warben sie für ihre neueste Attraktion:
Erleben sie Narsinh, den unbesiegbaren Tiger, wie er furchtlos durch einen Feuerreifen springt.