Schlafen.
Schlafen ist eine tolle Sache, meinst du nicht auch? Ganz lange im Bett unter einer warmen weichen Decke liegen, die Augen geschlossen halten und lustige Sachen träumen. Kann es denn etwas Schöneres geben? Nein!
Jedenfalls war Tilo dieser Meinung. Schlafen war sein größtes Hobby. Tilo war ein dickes, rotpelziges Eichhörnchen. Mit seinem buschigen Schwanz sah er richtig lustig aus. Allerdings wusste das im Moment niemand, denn er lag gerade in seinem Nest auf einem hohen Ast und schlief schon seit einigen Wochen ohne Pause.
In seinen Träumen kletterte an Bäumen hoch und herunter, spielte mit seinen Freunden und stopfte sich den Bauch mit Nüssen voll.
Den ganzen letzten Herbst über war das Eichhörnchen unglaublich fleißig gewesen, hatte Haselnüsse und Bucheckern gesammelt und sie überall im Boden vergraben. Und weil es nun im Winter viel zu kalt zum Spielen war, hatte sich Tilo zurück gezogen, um bis zum Frühling zu schlafen. Nur wenn er vom Hunger wach wurde, kletterte er nach unten zum Boden, suchte sich eine Nuss und aß sie.
So war es auch an diesem Tag. Es lag kein Schnee und die Sonne brachte ein wenig Wärme zur Erde. Tilo wachte auf, denn sein Magen grummelte schon sehr laut. Also schlug er die Decke zur Seite, strubbelte sich einmal durch sein Fell und krabbelte gähnend aus seinem Nest. Er bekam nicht einmal die Augen richtig auf, kletterte stattdessen halb schlafend herab und wollte mit dem Graben beginnen.
Doch dann wurde er plötzlich schlagartig wach. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Mit viel Kraft schlug er seine Krallen in den Boden, oder vielmehr versuchte er es. Aber es gelang ihm nicht. Die Erde war hart wie Stein.
»Das ist ja komisch.«, murmelte Tilo.
»Habe ich mich geirrt und es ist noch immer kalt? Der Boden scheint gefroren zu sein.«
Er entschied sich für eine andere Stelle. Doch jedes Mal hatte er das gleiche Pech. Er kam nicht mehr an seine Vorräte heran.
Das Eichhörnchen wusste sich nicht mehr zu helfen und kletterte so schnell wie möglich auf den Baum zurück.
»Hier oben muss ich mir erst einmal einen Überblick verschaffen. Vielleicht finde ich ja noch einen Baum, an dem ein paar restliche Nüsse hängen.«
Tilo hielt sich die Pfoten wie eine Schirmmütze über die Augen, damit er besser und weiter sehen konnte. Was er dann aber erblickte versetzte ihm einen großen Schrecken.
»Unmöglich. Das kann doch nicht wahr sein.«
Sofort lief er zurück zu seinem Nest, kramte im Schrank herum, bis er seine Brille fand, setzte sie auf und flitzte wieder nach draußen. Aber er hatte noch immer den selben Ausblick.
»Wo ist denn mein Wald geblieben? Es kann doch nicht wahr sein, dass nur noch mein Baum hier alleine steht. Wo sind sie denn alle hin und wo sind die anderen Tiere? Bin ich denn jetzt ganz allein? Das kann doch nur ein ganz böser Traum sein. Ich muss sofort versuchen aufzuwachen.«
Aber es war leider kein Traum. Um den großen Baum herum war alles grau. Die Menschen waren gekommen, hatten den Wald abgeholzt und dafür Parkplätze und Häuser gebaut. Die Stadt war um ein großes Stück gewachsen. Nirgendwo gab es etwas Grünes oder Tiere, bis auf einen einzelnen Baum und ein Eichhörnchen.
»Aber was mache ich denn jetzt? Wo soll ich denn hin und wo bekomme ich etwas zu essen?«
Tilo war verzweifelt. Er kletterte wieder zum Boden, um sich umzusehen. Sein Hunger trieb ihn zwischen den Häusern durch. Zu Essen gab es sogar hier genug. Aber nichts davon war erreichbar. Jedes Mal, wenn er einen Apfel, ein paar Nüsse oder andere Dinge sah und zu ihnen lief, prallte er an einer unsichtbaren Wand ab.
»Das kann doch alles nicht war sein. Wie ist das denn möglich. Ich habe doch nur Hunger und brauchte etwas zu essen.«
Traurig zog er sich in sein Nest zurück und wartete darauf, dass auch sein Baum, und damit auch er selber, verschwinden würde.
Am nächsten Tag hörte Tilo ein Geräusch. Zuerst dachte er, es wäre wieder sein Magen, der fast rund um die Uhr ganz schrecklich knurrte. Aber als er nach draußen sah, entdeckte er ein Tier, das an der Leine eines Menschen hing. Es musste ein Hund sein.
»Hey, du!«, rief Tilo.
»Hey, du da unten. Schau doch mal hier rauf!«, rief er etwas lauter.
Der Hund sah sich erst verwirrt um. Doch dann sah er das Eichhörnchen.
»Huch. Was machst du denn da oben?«, fragte er.
»Bist du nicht ein Eichhörnchen? Was hast du denn hier verloren? Weißt du denn nicht, dass ihr in den Wald gehört und nicht in die Stadt?«
Da begann Tilo zu weinen.
»Das weiß ich. Ich bin doch gar nicht freiwillig hierher gekommen. Ich habe mich im Wald zum Winterschlaf hingelegt. Als ich dann wieder wach wurde, war die Stadt hier. Nur mein großer Baum ist verschont worden. Aber jetzt finde ich nichts mehr zu essen. Meine ganzen Vorräte sind eingemauert worden. Da komme ich mit meinen kleinen Krallen nicht durch. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Der Hund sah sich um. Sein Mensch war gerade beschäftigt. Der unterhielt sich mit einem Artgenossen.
»Schnell, komm runter. Ich habe da eine Idee.«
Das Eichhörnchen traute sich erst nicht. Vielleicht war das auch nur ein Trick und der Hund wollte sich selber etwas Eßbares anlocken. Aber der Hunger war dann doch größer als die Angst.
»Wie willst du mir denn helfen?«, fragte er neugierig.
Der Hund zeigte mit einer Pfote auf den Menschen.
»Der da geht jeden Tag mit mir spazieren. Gut erzogen habe ich ihn. Zuerst kommen wir zu diesem Baum, um mein Geschäft zu verrichten. Danach gehen wir in einen großen Park. Da stehen viele Bäume und Büsche. Da wird es dir bestimmt besser gehen, als hier.«
Tilo wusste gar nicht, was er sagen sollte. Mit so einer großen Hilfe hatte er nicht gerechnet.
»Lauf uns einfach heimlich hinterher. Dann findest du den Weg besser.«
Der Mensch hatte gerade sein Gespräch beendet und zog den Hund an der Leine.
»Los, weiter geht’s, du alter Flohfänger. Wir wollen doch noch in den Park.«, rief er.
Tilo war überglücklich und schlich den beiden nach. Um nicht entdeckt zu werden, lief er die ganze Zeit über direkt an den Hauswänden entlang und versteckte sich in schattigen Ecken, wenn jemand in seine Richtung sah.
Nach einer Weile kamen sie am Ziel an. Das Eichhörnchen konnte es schon von weitem riechen. Es roch nach Wald, nach Tieren und nach Nahrung. Es hüpfte vor Freude und machte Luftsprünge, als es den ersten Baum entdeckte.
»Hab vielen Dank, Hund. Du warst eine wirklich gute Hilfe. Ohne dich wäre ich bestimmt verhungert. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Nicht der Rede wert. Ich helfe immer gerne.«, antwortete der Hund. »Jetzt weißt du auch, dass wir Stadtleute gar nicht so schlimm sind. Nicht jeder von uns lässt den Wald verschwinden. Und bei diesem Park kannst du dir auch sicher sein, dass er noch lange hier stehen wird. Denn die Menschen kommen jeden Tag hierher, um sich von der Stadt zu erholen.«
Tilo bedankte sich noch einmal, drückte den Hund an sich und verabschiedete sich.
»Das ist ja eine seltsame Sache.«, murmelte er später vor sich hin, während er sich ein neues Nest baute.
»Die Menschen werde ich wohl nie verstehen. Zuerst lassen sie den Wald verschwinden, um eine Stadt zu bauen, und dann pflanzen sie einen Park, um etwas anderes sehen zu können. Das ist doch sehr komisch.«
Nach und nach wurde sein neues Nest fertig. Als er sich zum Schlafen legte und einschlief, schlich sich eine letzte Frage in seinen Traum.
»Was für Geschäften müssen Hunde eigentlich nachgehen?«