Moritz lebte in einem Kirchturm. Das mag sich schon sehr ungewöhnlich anhören, denn normalerweise wohnt man doch in einem Haus. Aber ihm gefiel es dort oben sehr gut. Vor allem, da sich dort oben keine gefährlichen Katzen herum trieben. Denn Moritz war eine kleine Maus.
Tagein und tagaus saß er an einem der Fenster und sah nach draußen. Auf dem Marktplatz unter ihm gingen die Menschen ihren Geschäften nach, wuselten hin, wuselten her und gingen von einem Laden zum Nächsten.
Die kleine Maus konnte sich gar nicht vorstellen, wie es sein würde, ein Mensch zu sein.
»Das wäre mir viel zu stressig. Wenn ich mir das so ansehe, dann haben die Menschen doch gar kein ruhiges Leben. Daran hätte ich gar keinen Spaß.«
Hin und wieder kletterte Moritz vom Turm nach unten in die kleine Kirche. Dort krabbelte unter den Sitzbänken her und suchte nach etwas Essbarem. In einem kleinen Nebenraum fand er auch immer etwas Brot oder ein paar Scheiben Hostien, die der Pfarrer hatte liegen lassen. Dabei weiß doch jede Kirchenmaus, dass Hostien in den dafür vorgesehenen Tabernakel, einem kleinen Schrank im Altar, gehören. Aber für Moritz kam dieser Leckerbissen genau richtig.
Während er so da saß und vor sich hin knabberte, dachte er weiter über die Menschen nach.
»Die sind ein ganz schön komisches Völkchen. Aus denen werde ich nie schlau. Jeden Tag sind sie voller Hektik und Stress. Sie finden keine Ruhe. Nur einen einzigen Tag in der Woche können sie sich bremsen.«
Moritz dachte an den Sonntag. Denn an diesem Tag mussten die Menschen nicht arbeiten und versammelten sich stattdessen in der Kirche und lauschten dem Pfarrer, wenn er zu ihnen sprach oder sie sangen mit ihm langweilige Lieder.
Dieser Moment dauerte zwar immer nur eine Stunde, aber diese Zeit genoss Moritz sehr. Da war das ganze Gebäude mit einer sehr warmherzigen Stimmung gefüllt.
Es dauerte gar nicht lange, bis wieder einer dieser Tage kam. Die Straßen waren wie leer gefegt, die Geschäfte waren geschlossen und die Menschen würden schon bald nach und nach in kleinen Gruppen in die Kirche kommen.
Moritz machte es sich an seinem Lieblingsplatz bequem. Er hatte sich durch den Boden der Empore, das ist der Balkon in der Kirche, einen kleinen Tunnel geknabbert, an dessen Ende sich ein Loch befand. Von dort aus konnte er alles überblicken.
Mit einer kleinen Erdnuss machte er es sich bequem und beobachtete den Pfarrer dabei, wie er noch ein paar Blumen auf dem Altar zurecht machte.
»Da hat er aber die Kirche wieder schön heraus geputzt. Da werden sich die Leute richtig freuen.«
In diesem Augenblick rumpelte es über dem Kopf der kleinen Maus. Offenbar kam gerade der Organist. Es würde nun nicht mehr lange dauern, bis er sich an die Orgel setzen würde, um noch einmal die heutigen Lieder zu proben.
Ein ganz leises Geräusch verriet Moritz, dass gerade der Luftkompressor eingeschaltet wurde. Dieser befand sich in einem kleinen Raum hinter der Orgel und blies Luft in die einzelnen Pfeifen, damit sie Töne von sich gaben.
Doch diesmal hörte sich das Gerät seltsam an. Irgendetwas stimmte da nicht.
In diesem Moment drückte der Organist die ersten Tasten. Doch statt eines Liedes erklangen nur ganz leise schräge Töne. Er sah sich um, drückte ein paar Knöpfe, zog einige Hebel und begann erneut zu spielen. Aber es änderte sich nichts. Die Orgel schien kaputt zu sein.
Sofort lief er von der Empore hinab, um mit dem Pfarrer zu sprechen.
Moritz sah den beiden von oben aus zu.
»Ach du meine Güte, herrjemineh. Was sollen wir denn jetzt machen? Ein Gottesdienst ohne Orgelmusik ist doch kein richtiger Gottesdienst. Was sollen denn die Leute denken? Wir brauchen sofort Hilfe. Aber woher sollen wir die bloß bekommen? Am Sonntag arbeitet doch niemand.«
Moritz verstand von diesen Worten nichts. Er war ja schließlich eine Maus und kein Mensch. Aber trotzdem wusste er, dass es gerade große Probleme gab.
Während der Pfarrer in einen anderen Raum eilte, um über das Telefon Hilfe zu holen, dachte Moritz nach, ob er in der Zwischenzeit schon helfen könnte. Obwohl er nur eine kleine Maus war und von Orgeln keine Ahnung hatte, machte er sich auf den Weg. Er kletterte am Holzgehäuse nach oben und lies sich furchtlos in eine der Orgelpfeifen fallen. Ein leises Plumpsgeräusch war in der Kirche zu hören. Die beiden Männer waren aber viel zu beschäftigt, um es zu bemerken.
Moritz konnte nicht viel erkennen. Nur wenig Licht drang hier ein. Es war, als würde gerade die Sonne untergehen.
»Aber ich muss unbedingt heraus finden, was geschehen ist. Vor ein paar Tagen hat die Orgel doch noch funktioniert.«
Er setzte vorsichtig eine Pfote vor die andere und schnüffelte umher.
Plötzlich kam ihm etwas sehr seltsam vor. Da war ein Geruch, der ihm sehr bekannt vor kam. Dazu war das leise Getrippel von kleinen Füßen zu hören.
»Hallo? Ist da jemand?«
Das Geräusch erstarb so schnell, als hätte es nie existiert.
»Hallo? Ich weiß, dass dort jemand ist. Also komm heraus.«
Moritz hatte etwas Angst. Trotzdem ging er langsam weiter.
Das Licht war mittlerweile so dunkel geworden, dass er nichts mehr sehen konnte. Seine Nase roch dafür mit jedem Schritt umso besser.
»Das riecht doch nach Haselnüssen.«
Er tastete sich vorwärts. Und tatsächlich hatte seine Nase Recht behalten. Denn nur einen Moment stieß Moritz mit dem Kopf gegen eine Nuss. Sie lag direkt in dem Rohr, welches zum Kompressor führte. Und dann war da noch eine und noch eine. Es war ein kleiner Haufen, bestimmt zehn Stück an der Zahl.
»Habe ich es mir doch gleich gedacht. Daran kann doch nur einer Schuld sein.«
Moritz atmete tief ein, drückte seine Brust heraus und rief so laut er konnte.
»Emil, komm sofort heraus. Ich weiß ganz genau, dass du hier bist. So viel Ärger macht doch kein anderer.«
Einen Moment lang blieb es still. Doch dann raschelte es und ein kleines Fellbündel kam heran.
Die kleine Maus schnupperte und erkannte sofort den Duft vor sich. Es war ein kleines Eichhörnchen.
»Es tut mir Leid Moritz.«, sagte es.
Moritz schüttelte den Kopf.
»Weißt du eigentlich, was du angestellt hast? Die Menschen brauchen doch heute die Orgel. Wie sollen sie denn sonst ihre Lieder singen?«
Emil kam etwas näher und zog einige Nüsse mit sich.
»Aber es ist doch Herbst und der Winter wird bald kommen. Ich muss anfangen, genug Vorräte für die kalte Jahreszeit zu verstecken, sonst verhungere ich doch. Ich wusste leider nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Die Löcher in den Bäumen sind alle schon von den anderen Eichhörnchen besetzt.«
Moritz schüttelte wieder den Kopf und lachte.
»Es ist doch jedes Jahr das Gleiche mit dir. Du bist mal wieder viel zu spät dran. Aber weißt du was? Ich werde dir ausnahmsweise in diesem Jahr helfen.«
Hätte Moritz in dieser Dunkelheit etwas sehen können, wäre ihm sofort das Leuchten in Emils Augen aufgefallen.
»Aber zuerst müssen wir die Nüsse hier heraus schaffen.«
Gemeinsam sammelten sie alles ein und waren in wenigen Minuten fertig.
Die Nüsse verstauten sie in der kleinen Vorratskammer, die sich Moritz schon vor Wochen geschaffen hatte.
»Darin ist noch genug Platz. Du darfst alles da hinein bringen und dich dann jederzeit bedienen, wann du möchtest.«
Emil war so froh über dieses Angebot, dass er nur zu gern ›ja‹ sagte. Dass er in den dunklen Röhren der Orgel immer Angst gehabt hatte, verschwieg er allerdings.
»Jetzt bleibt nur noch eines zu tun.«
Moritz kletterte erneut am Gehäuse der Orgel nach oben, zögerte kurz und sprang dann in die Tiefe auf die Tasten.
Ein lautes Geräusch ertönte, welches in der ganzen Kirche zu hören war.
Die kleine Maus verschwand in einem kleinen Loch und beobachtete, was nun geschah.
Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis der Pfarrer und der Organist auf die Empore gelaufen kamen, um noch einmal selber die Orgel auszuprobieren.
»Ich kann es gar nicht glauben. Sie funktioniert ja wieder. Da müssen wir ja einen freundlichen Schutzengel gehabt haben.«
Moritz lächelte und lief gemütlich in sein Beobachtungsloch.
»Dann steht dem Gottesdienst ja nichts mehr im Wege.