Silvestermüll
Oder »Papa, feierten Dinosaurier eigentlich Neujahr?«
Die Silvesternacht war vorbei, das neue Jahr hatte vor ein paar Stunden begonnen. Papa und Sofie standen mit einem großen Besen und einem Eimer vor dem Haus. Kopfschüttelnd sahen sie sich die Überreste an, die die Nachbarn hinterlassen hatten.
Überall lagen Kartons, Teile von Raketen und jede Menge anderer Müll.
»Damit werden wir wohl ein paar Stunden beschäftigt sein, bis wieder alles sauber ist.« Papa nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Eigentlich hatte er geplant, den Tag auf dem gemütlichen Sofa zu verbringen, um seiner Tochter aus einem Buch vorzulesen. Doch nun war der Zeitplan hinüber. Er mochte es gar nicht, wenn der Vorgarten wie eine Müllhalde aussah.
»Haben die Leute das schon immer so gemacht? Das ist doch völlig verrückt.« Sofie konnte es gar nicht verstehen. »Das ganze Jahr über pflegen die Nachbarn ihre Gärten, regen sich über jedes kleine Blättchen Laub auf, aber an Silvester müllen sie alles zu. War das schon immer so?«
Papa sah sich und zuckte irgendwann mit den Schultern. »Da bin ich mir gar nicht sicher. Es gibt Silvesterfeiern und Feuerwerk solang ich denken kann. Aber ich weiß wirklich nicht, wann das angefangen hat.«
Sofie dachte nach. »Haben denn die Dinosaurier auch schon Raketen in den Himmel geschossen? Haben sie Neujahr gefeiert?«
Papa strich sich über sein Kinn, legte die Stirn in Falten und überlegte.
»Das ist eine wirklich sehr gute Frage.«, antwortete er schließlich. »Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt vom Neujahrsfest in längst vergangenen Zeiten. Die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ‚Es war einmal’.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal ein großer, stattlicher Dinosaurier mit Namen Donnerfuß. Diesen Namen hatte man ihm nicht einfach gegeben. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, bebte unter ihm die Erde und es schien, als zöge ein Gewitter auf, so laut war jeder seiner Schritte.
Es war ein langer Tag gewesen. Donnerfuß hatte sein wachsames Auge über eine weite, schneebedeckte Ebene gleiten lassen, um die Herden den Pflanzenfresser vor gefährlichen, hungrigen Jägern zu beschützen. Diese Aufgabe war wie für ihn gemacht. Sobald sich ein Fleischfresser näherte, stampfte Donnerfuß kurz auf und schlug damit jeden Gegner in die Flucht.
Mittlerweile war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. Der Tag war dem Abend gewichen und ließ am Firmament unzählige Sterne erscheinen.
»Das ist jetzt der richtige Moment, um schlafen zu gehen.« Donnerfuß wäre gern, wie andere Dinosaurier es taten, in ein warmes, weiches Bett mit dicker Decke gekrochen, aber dafür war er einfach viel zu groß. Deswegen rollte er sich einfach ein und deckte sich mit seinem langen Schwanz zu.
Plötzlich zischte und heulte etwas ganz nah an ihm vorbei uns raste dem Himmel entgegen. Sekunden später verging es mit einem riesigen Knall und ließ für wenige Sekunden neue Sterne am Himmel entstehen und wieder vergehen.
Donnerfuß seufzte und schüttelte den Kopf. »Ist etwa schon wieder ein ganzes Jahr vergangen?«
Er erinnerte sich noch sehr gut daran zurück, dass ein paar besonders draufgängerische Dinosaurier damit begonnen hatten, einen kompletten Umlauf der Erde um die Sonne mit Böllern und Raketen zu feiern.
»Jetzt wird wohl nichts mehr aus meinem wohlverdienten Schlaf. Verdammt nochmal. Und Morgen muss ich dann wieder den ganzen Dreck aufräumen. Warum können die Halbstarken nicht mal etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen? Sie könnten doch mal etwas Gutes tun.«
Donnerfuß dachte kurz nach. In seinem Kopf entstand eine Idee. »Warum mache ich denn nicht einfach etwas Gutes? Vielleicht nehmen sich die anderen das zum Vorbild.«
Unter lautem Donnern stand der Dinosaurier von seinem Schlafplatz auf und ging zum nahen Wald. Dort riss er eine Kiefer aus der Erde, befreite sie von ihren Ästen und band eine Liane an ihre Enden. Einen der Äste spannte er auf die Liane und ließ ihn lautlos durch die Luft fliegen. Donnerfuß hatte soeben Pfeil und Bogen erfunden.
Auf die übrigen Äste spießte er leckere, rote Äpfel aus seinem Wintervorrat. Die schoss er anschließend über den nahen Fluss, wo sie im hohen Schnee liegenblieben.
»Guten Appetit, meine kleinen Freunde.«
Sekunden später kamen ein paar kleine Fellkugeln aus ihren Verstecken. Ein gutes Dutzend Säugetiere, die sich vor dem Wintereinbruch versteckt hatten, freuten sich riesig über das unerwartete Geschenk. Endlich gab es wieder Futter, das man sonst bei diesem Wetter nicht finden konnte.
»Daran sollten sich diese Raketenschießer mal ein Beispiel nehmen. Müll vermeiden und dafür Äpfel verschenken.«
»Und warum machen wir das heute nicht auch so?« Sofie sah Papa fragend an. »Es gibt doch bestimmt Menschen und Tiere, die jetzt auch Hunger leiden.«
Papa nickte. »Das stimmt. Aber trotzdem ist es nicht ungefährlich mit Pfeil und Bogen durch die Gegend zu schießen. Dabei könnte jemand verletzt werden. Es ist dann besser, die Lebensmittel persönlich abzuliefern.«
Papa griff zu einer Papiertüte mit Körnern und verstreute sie in einem Vogelhäuschen. »Und Morgen fahren wir in die Stadt, kaufen ein paar Äpfel und spenden sie der Tafel.«
Sofie nickte zufrieden und begann dann zu kichern. »Weißt du was? Die Geschichte war toll. Trotzdem glaube ich dir davon kein einziges Wort.«