Glip kehrte nicht wieder.
Strix hat infolgedessen seit zwei Tagen keinen Fraß bekommen, sie ist matt und ausgehungert und noch lichtscheuer als sonst. Sie ist kaum im stande, sich aufrecht zu halten; unten auf dem Boden der hohlen Eiche kriecht sie auf dem Bauch zusammen.
Sie ist halb von Verstand, hat fortwährend Visionen und sitzt da und heult ihren eigenen Namen.
Schu—hu! seufzt sie ... Schu—hu!
— — —
Da sitzt sie in dem alten verfaulten Vergangenheitsbaum, vertrieben, lebensmüde und verbraucht. Ebenso wie die Eiche, ist sie schon längst ein Fremdling in der Zeit gewesen.
Sie haßt die Zeit, ihre Unruhe, ihren Lärm und den Überfluß an Menschen überall; sie trägt Urzeit in sich, und der sind die Menschen entwachsen.
Das dumpfe Brummen des Bären, das Gebrüll des Elchhirsches, das Heulen des Wolfes und das Knarren und Krachen des Urwalds selber, das waren Laute, die für sie paßten. Sie hat dasselbe Wilde und Dämonische in ihrer Stimme gehabt ... aber niemand hat ihr in verständlicher Sprache geantwortet.
Sie sind dahin, alle die ursprünglichen Mitgeschöpfe ihrer 187 Sippe, sie, in denen, o wie in ihr, das Großzügige wohnte. Die Menschen haben sie genommen und sich selbst nach eigener Machtvollkommenheit an ihre Stelle gesetzt.
Ihre Tage sind jetzt vergangen ... ihre vielen, vielen Jahre.
Es hat Zeiten in ihrem Leben gegeben, die schnell dahingesaust sind, wie das Gewitter über die Heide dahinjagt. Da hat sie geliebt und gehofft, gekröpft und sich Tag und Nacht beim Raube ergötzt. Dann kamen andre Zeiten, harte Zeiten, wo sie hat entbehren und leiden, flüchten und wandern müssen, wo sie kaum eine Maus für ihren Schlund hat finden können.
Aber das alles steht jetzt vor ihrem Innern wie ein undurchsichtiger Nebelschleier vor fernen Wäldern; sie weiß, die Wälder liegen dahinter — viel mehr weiß sie nicht.
Das Leben ist dahingeschwunden — für Strix wie für den Eichenriesen, in dessen Bauch sie sitzt. Das lange, lange Leben ist plötzlich zu etwas unfaßlich Kurzem zusammengeschrumpft.
Auf einmal zuckt sie zusammen — ihre matten, ausgebrannten Lichter werden so groß wie Teetassen.
Da senkt sie die Hörner und wirft den Kopf zurück und bewegt den Schnabel wie in beginnender Kampfekstase ... komm auf mich zu, komm auf mich zu!
Mit steifen Blicken starrt sie vor sich hin ...
Sie sieht, wie damals, als sie eben flügge geworden und auf dem Zweig saß, ein wunderliches Tier auf sich zu kommen. Es geht auf der hohen Kante und gleicht einer Rieseneidechse, — selbst der Schwanz fehlt nicht.
Es ist ein Waldarbeiter, den Strix in ihrem Todesaugenblick vor sich sieht; er schleppt einen Baum hinter sich her, den er gefällt hat.
188 Da ist er, der sich stark vermehrende Zerstörer, der Mensch, dem sie nie hat widerstehen können, der ihr das Leben sauer gemacht hat, der ihr das Lebensglück mit Gatten und Kindern geraubt, ihre Wohnstätten vernichtet, ihr die Nahrung weggenommen und die Erde zahm gemacht hat.
Sie wird blutgierig und böse, sie fühlt die Wildheit wie mit der Unbändigkeit der Jugend in sich fahren, und sie schlägt ihre Fänge in den Kopf und den Hals des Menschen.
Dann beginnt sie ganz besonnen, ihn zu kröpfen; aber plötzlich kommt es ihr vor, als verschlinge sie ein Kaninchen, das nicht durch ihren Schlund hinunter will.
Todesschwindel hat Strix schon längst befallen, sie haut und zerrt in dem Eichenzunder. Dann gleitet sie vorn über und liegt auf der Brust, sie streckt die eingeschrumpften Fänge nach hinten unter sich, rüttelt mit dem Kopf hin und her und zwinkert die geschwollenen Augenlider auf und zu, während sie mit bebenden Flügeln das Leben von sich abschüttelt.
Der Herbst verging und der Winter kam —
Und neue welke Blätter; neue zundrige Erde und Wurmmehl aus der alten Eiche sickerten herab und füllten den hohlen Boden aus. Strix’ irdische Überreste wurden zugedeckt wie die so manch eines andern Vogels, denn hier in den hohlen Stamm der Eiche hatte sich im Laufe der Zeiten die Fauna des Waldes zurückgezogen, um in Frieden den Strohtod zu sterben. Schicht auf Schicht lagen die Skelette übereinander, wie auf einem überfüllten Friedhof, wohlbewahrt von der Eichensäure.
Da waren Skelette von Fledermäusen und Mardern und 189 Spechten, von andern großen Uhus lange vor Strix, von Eichhörnchen und Sperbern und von einer kleinen, goldbusigen Frau Meise mit einem großen Loch im Kopf.
Eine ganze Geschichte des Waldes lag hier als Mumien aufbewahrt.
Aber als das Beben des Lenzes von neuem herannahte, als der brandgelbe Zitronenfalter sich anschickte auszufliegen, ließ sich eines Abends eine kleine Horneule in den hohlen Stamm hinab. Sie setzte sich in Balzstellung, fegte mit dem Schwanz und ließ die Flügel schleppen.
Er benahm sich ganz, als sei er hier zu Hause, näherte sich aber doch nur mit einer gewissen Vorsicht dem unheimlichen Dunkel auf dem Boden. Lange saß er da, reckte den Hals und starrte hinab.
Da erschien die entzückendste kleine Chinesin von einer Eule mit langen, gesträubten Hörnern, flachem Antlitz und schiefen, zwinkernden Augen oben im Eingang — und die kleine Horneule wurde Feuer und Flamme.
Er ließ sich schnell entschlossen hinabplumpsen —
Es war leer in dem Stamm!
Da scharrte er wie ein Hahn und gluckste seine kleine Henne hinab, und beide machten sie sich nun auf das eifrigste daran, das Loch mit Reisern zu umkränzen.
Und dann, eines schönen Tages, lagen fünf kleine, kugelrunde, kreideweiße Eier und leuchteten in der Dunkelheit wie mit Phosphorglanz.
Sie ruhten so sicher und ließen sich so leicht ausbrüten — sie lagen auf einer alten, weichen Matratze — — —
Glip hatte glücklich eine Frau gefunden.