An der Grenze des Königreiches war ein tiefer, dunkler Wald. Dahinter stiegen Felsen auf und hinter den Felsen kam eine Mauer. Die lief gerade nach rechts und links, so weit, dass ihr Ende noch keiner Fand und so hoch, dass ihr Rand in den Wolken verschwand. Sie war vollkommen glatt, ohne die kleinste Fuge und rosig schimmernd wie schönster Marmor. Inmitten der Mauer war eine goldene Türe ohne Schlüsselloch und ohne Türgriff, ganz glatt und aus einem Stück. Von dieser Mauer wussten alle Leute im Königreich und erzählten alle möglichen Geschichten.
„Es ist eine Prinzessin dort.“ Sagte die einen. „Die schönste Prinzessin der Welt. Sie hat Schuhe aus Goldleder und Kleider aus Sonnenstrahlen. Ihre Mäntel sind aus bunten Vogelfedern und aus Schmetterlingsflügeln zusammengefügt. Das Krönchen, das auf ihrem Kopfe sitzt, sind lebende Vögelchen, in allen Farben schimmernd und keiner größer als eine Haselnuss. Aber das Allerschönste ist das Lächeln der Prinzessin. Das ist so lieblich, dass kein Mensch widerstehen kann. Der Traurigste wird heiter und Ärger und Sorgen verfliegen davor, wie weggeblasen. Ach ja, wer das doch sehen könnte!“. Darauf seufzten die Leute und gingen an ihre Arbeit.
Die anderen sagten: „Das goldene Königreich ist hinter der Mauer. Meine Urururgroßmutter hat es erzählt. Dort gibt es keine armen Leute, denn die Grashalme und die Blätter der Bäume sind aus purem Golde. Inmitten von goldenen Gärten steht das goldene Schloss. Die Fensterscheiben sind aus geschliffenen Edelsteinen gefügt, aus blauen Saphiren, aus grünen Smaragden, aus roten Rubinen und aus gelben Topasen. Die wasserhellen Brillianten, die dazwischen glänzen, funkeln erst recht in allen Farben. Die Augen tun einem weh, vor all der Pracht. So sagte meine Urururgroßmutter.“
„Wie schön wäre das, wenn man mit einer Hand voll Gras von da drinnen Brot und Kleider kaufen könnte.“ Meinte einer und ein anderer sagte: „Ich wollte schon lieber einen Baum schütteln, das gäbe gleich ein ganzes neues Haus.“
Wenn ein kleines Kind fragte: „Aber, warum geht man denn nicht hinein?“. Dann seufzten die Großen und meinten: „Du lieber Gott, wie viele Menschen haben das schon versucht, seit tausend Jahren wird es immer wieder und immer wieder probiert, aber keinem ist es bis jetzt gelungen.“
Die ganz Gescheiten wussten es am allerbesten: „Keine Prinzessin ist da hinter und kein goldenes Königreich, dort ist das Reich des Schreckens. Der Boden ist bedeckt mit Kröten und Salamandern, die Bäume tragen als Äste giftige Schlangen, die nach dem Vorübergehen züngeln oder Feuer nach ihm speien.
In einem Schlosse aus Kohle und Schwefel wohnt der Herr des Reiches, ein scheußlicher Drache. Wen der ansieht mit seinem Basiliskenblick, der erstarrt augenblicklich zu Stein.“ – „Und darum...“ sagten die Klugen „…ist es vielleicht gut, dass niemand die Mauer durchdringen kann.“
Es verging kein Jahr, dass nicht einer oder der der andere meinte, er müsste das Geheimnis finden. Tüchtige Handwerker versuchten es mit Kunst und Fleiß, starke Männer mit der groben Kraft, Gelehrte mit der Schärfe ihres Geistes. Die Könige hatten im Laufe der Jahrhunderte Forschungsexpeditionen ausgesandt, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.
Man hatte zu bohren versucht. Der Stein war zu hart. Man hatte ungeheure Leitern gebaut, die Mauer zu übersteigen, stets waren sie zu kurz. Man wollte unter der Mauer durchgraben. Da war harter, undurchdringlicher Felsen. Maschinen wurden gebaut, die Mauer einzurennen; es war keine stark genug. Mit Kugeln wollte man Löcher schießen, mit Pulver den Stein sprengen, es nützte alles nichts, die Mauer stand, rosig schimmernd, ohne die kleinste Fuge, wie sie gestanden war vor tausend Jahren.
Endlich kam niemand mehr. Wenn es doch nichts nützte, wenn alles bereits versucht war, was sollte man sich unnütz plagen?
Der Geschichten, die man sich erzählte, wurden immer mehr und immer schöner wurde, was man von der Welt hinter der Mauer wusste, nein zu wissen glaubte, denn wirklich wusste doch keiner etwas, noch nie hatte ein Mensch einen Blick hinter die Mauer werfen können.
Eines Tages führte einen Handwerksburschen der Weg an der Mauer vorbei. Er war schon weit gewandert und ehrlich müde. So setzte er sich mitten in das schöne grüne Gras und die bunten Blumen und dachte an die Prinzessin mit dem lieblichen Lächeln, an das goldene Schloss und an die giftigen Schlangen. Die Prinzessin wäre ihm eigentlich am liebsten gewesen. Er schloss die Augen halb und blinzelte durch den Liderspalt zur Mauer und zur goldenen Türe.
„Sonst geht man durch die Türe, wenn man irgendwo hinein will.“ Dachte er: „Aber die Türe hat ja wohl kein Schloss.“
Trotzdem stand er auf, ging zur Türe und stieß mit der Faust daran. Und die Türe – O Wunder – die Türe öffnete sich einen Spalt. Der Handwerksbursch riss Mund und Augen auf. Da war ihm also gelungen, was kein Gelehrter gefunden hatte. Aber die waren eben zu klug, auf so etwas Einfaches wären sie nie gekommen. Eine Türe ohne Schloss, eine Türe ohne Griff, die kann man doch nicht nur so einfach aufmachen. Ei ja, man konnte, das sah der Handwerksbursche nun, als er sie vollends aufstieß.
Was aber sah er dahinter? Goldene Gräser? Nein. Eine Prinzessin? Nein. Auch Schlangen nicht. Gras war da, gewöhnliches grünes Gras und bunte Blumen, genau wie draußen, und Bäume überall und blauer Himmel und Wolken und im Bächlein helles Wasser – nein, wirklich, kein bisschen anders als vor der Mauer.
Die Leute wollten es nicht glauben, als sie davon hörten. In Scharen kamen sie, um selbst das grüne Gras zu sehen. Sie untersuchten jeden finsteren Winkel, ob nicht doch irgendwo ein goldenes Blatt wäre oder ein Steinchen aus den Edelsteinfenstern. Aber nichts war da, gar nichts.