Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten ein einziges Kind; der kleine Prinz, ein kluges und gutherziges Knäblein, war ihre Freude, ihr Stolz und der Erbe des ganzen Landes. Aber ein mächtiger Nachbar begann Krieg mit dem König, eroberte die Hauptstadt, nahm das Königspaar gefangen und führte es hinweg. Der Prinz, um den sich in der Verwirrung niemand kümmerte, stand nun allein in der Welt und irrte umher, bis ein armes Ehepaar, das keine Kinder hatte, den hübschen, gescheiten Knaben, dessen Herkunft es nicht kannte, in seine Hütte aufnahm. Er ward den guten Leuten ein vertrauter Pflegesohn, nur eines verschwieg er ihnen: seine fürstliche Abstammung und seinen Wunsch, die königlichen Eltern aus der Gefangenschaft zu erlösen.
Als der Prinz zu einem prächtigen Jüngling herangewachsen war, da wurde sein Sehnen immer heißer, und er bat die guten Pflegeeltern, sein Glück in der Welt versuchen zu dürfen. Schweren Herzens stimmten sie ein, drängten ihm ihre mühselig zurückgelegten Sparpfennige auf und entließen ihn mit innigem Segenswunsch.
Der Prinz ging in die Welt und suchte seine Eltern. Weg und Steg waren ihm so unbekannt wie der Aufenthalt der Teuren; und so ging er halt immer gradaus. Aber er hatte kein Glück, verbrauchte sein Geld und zerriß Kleider und Schuhe. Eines Abends kam er hungrig und matt auf einem Berggipfel an und erblickte im Tal zum Greifen nahe eine große Stadt, die war festlich geschmückt und erleuchtet und erscholl von Freudenschüssen und heiterer Musik.
"Das ist gewiß eine Königsstadt, und die feiert ein großes Fest", meinte er; "da gehe ich erst morgen hinein." Indem er nach einem Nachtlager Umschau hielt, gewahrte er am Abhang ein ärmliches Hüftlein, klopfte dort an und ein freundliches Mütterlein hieß ihn willkommen. Die Alte teilte ihr kärgliches Abendmahl mit ihm und machte ihm ein reinliches Lager zurecht. Auf seine Frage nach der Stadt gab sie ihm ausführlichen Bescheid: "Weißt, das ist unsere Hauptstadt, dort sitzt unser großmächtiger König auf dem Thron. Seitdem er seinen Nachbar besiegt und gefangengenommen hat, hat er ein Reich, so groß, nicht zu sagen." - Da fiel ihr der Jüngling ins Wort: "Lebt der gefangene König noch?" - "O freilich, und seine Frau auch, und es geht ihnen ja recht gut, bis auf das eine, daß sie um ihren verlorenen Sohn untröstlich sind. Weißt, und unser König hat eine einzige Tochter, die sich vermählen soll. Viele Freier sind schon in der Stadt, heute abends ist die Vorfeier und morgen die Wahl!' - Wieder unterbrach sie der Jüngling: "Der Bräutigam muß doch schon bestimmt sein?!" - "Nein", sagte das Mütterlein, "höre nur! Weißt, das ist so: Bräutigam und später König wird der, der zuerst drei Rätsel lösen kann, die die Prinzessin ihm aufgibt."
"Oh, da will ich augenblicklich hingehen und mein Glück versuchen", wandte hoffnungsvoll der Jüngling ein, aber das Mütterlein warnte: "Nur nicht so hitzig, mein Lieber! Weißt, welcher Freier die Rätsel nicht lösen kann, wird geköpft!" Und sie wunderte sich, daß er darüber nicht erschrak und bei seinem Vorhaben blieb.
Am Morgen stand unser Prinz frühzeitig auf, blaß und unerquickt, denn er hatte vor lauter Denken fast nichts geschlafen; die Alte brachte sein Gewand wieder in Ordnung, so daß er recht anständig aussah; sie kochte ihm ein Süpplein und entließ ihn mit vielen Segenswünschen und einiger Hochachtung, doch nicht ohne halb scherzhaft hinzuzufügen: „Wißt, und wenn Ihr ja die Prinzessin heiratet, so erinnert Euch in einer frohen Stunde meiner Armut!"
In der Hauptstadt meldete sich unser Held am Hofe als Bewerber an und wurde von dem königlichen Gefolge geringschätzig, von den Mitbewerbern höhnisch begrüßt; die wurden aber der Reihe nach kleinmütig, da keiner von ihnen auch nur ein Rätsel zu lösen verstand.
Als endlich unser Jüngling vortrat, maß ihn die Prinzessin verächtlich von Kopf bis zu Füßen mit den Worten: "Was wollt Ihr da? Ihr seid ja doch kein Ritter!"
Unerschrocken, doch bescheiden erwiderte der Jüngling: "Prinzessin, wenn ich Euch recht verstehe, gilt Euch der Geist mehr als die Herkunft; ich nehm' es auf, ich weiß, es geht um meinen Kopf."
Die Prinzessin drauf: "Ihr schmiedet Euch das Schicksal, hört mein erstes Rätsel:
Als ewiger Wirt
Lab' ich König und Hirt,
Als täglicher Gast
Fall' ich niemand zur Last."
Ohne langes Besinnen antwortete der Jüngling ruhig und sicher: "Das ist die Sonne; sie spendet allen Menschen ewig Licht und Wärme, und obwohl sie täglich uns besucht, verlangt und erwartet sie nichts."
Sichtlich betroffen erklärte die Prinzessin: "Das habt Ihr erraten, hört die zweite Aufgabe:
Kennst du den Baum, an dem sich alles mißt,
An Blättlein, Blatt sowie an Zweig und Ast?
Der einsam lebt, am Leben einsam frißt
Und dich erdrückt mit seiner Menge Last?"
Und gleich darauf der Jüngling: "O freilich, kenn' ich ihn, der Baum ist ja das Jahr, das mit den Stunden, Tagen, Wochen und Monaten alles mißt und zählt, das scheidet, wenn ein andres kommt, und das uns altern macht und sterben."
Tief erschrocken, doch rasch gefaßt, gab die Prinzessin die richtige Lösung zu und trug das letzte Rätsel vor:
"Eine Mutter hat alljährlich
Millionen zu ernähren,
Um sie alsdann, stets begehrlich,
Samt und sonders aufzuzehren."
"Ja, das ist die Erde", versetzte augenblicks der Jüngling, "die Erde, die alle Lebewesen nährt und tränkt und auch trägt, um sie nach dem Tode in ihren Schoß aufzunehmen." Dann trat er bescheiden zurück.
Die Prinzessin war einer Ohnmacht nahe, und der Hofstaat hielt mit seinem Unwillen gegen den Jüngling nicht zurück; aber der König legte die Rechte seiner Tochter in die des Jünglings und sprach: "Ihr seid Braut und Bräutigam, der Himmel segne euch!"
Die Versammlung löste sich auf, und der Bräutigam wurde in die ihm bestimmten Gemächer geleitet, wo zahlreiche Dienerschaft seiner harrte, jedes Winks gewärtig; aber er nahm niemand in Anspruch, blieb stets allein und kam mit der Prinzessin nur zu den Mahlzeiten zusammen. Je näher der Hochzeitstag kam, desto trauriger wurde die Prinzessin, die Braut, und ihr Bräutigam merkte gar wohl, was sie bedrückte: Es war die eitle Sorge, einem gemeinen Manne anzugehören.
Acht Tage vor der Hochzeit sprach der Bräutigam zur Braut: "Prinzessin, Ihr fühlt Euch unglücklich, hört also! Durch drei Rätsellösungen gewann ich Euch, Ihr könnt Euch durch eine einzige befreien, wenn Ihr sie bis zum Hochzeitstage findet. Mein Rätsel lautet:
Ein König wird vertrieben
Von Heimat, Volk und Glück -
Und kehrt zu seinen Lieben
Nach schwerer Zeit zurück."
Da faßte die Prinzessin wieder Mut und Hoffnung, sich ehrlich freizumachen, aber sie fand keine Lösung; am dritten Tage zog sie ihre treuesten Dienerinnen ins Vertrauen, am fünften auch die weisen Räte des Königs, alles umsonst; am siebenten abends wandte sie sich verzweiflungsvoll an die dem Bräutigam zugeteilte Dienerschaft, ob die nicht etwas erlauscht hätte immer dieselbe Auskunft: Der Bräutigam ist stets ernst und schweigsam und verlangt keinen Dienst. Nur der letzte Wasserträger und Kleiderputzer, der allein zum Bräutigam Zutritt erhielt, verriet ihr: "Jeden Abend seufzt der Fremde und spricht zu sich: ,O du armer Prinz, du König ohne Land, was nützt deine Heimkehr, wenn die schöne Prinzessin dich nicht liebt und deine Eltern zeitlebens in der Gefangenschaft schmachten?'"
Diese Mitteilung erleuchtete der Prinzessin Stirn und erwärmte zugleich ihr Herz, sie schloß nachtsüber kein Auge, und immer sicherer wurde ihre Vermutung; sie konnte den Tag der Entscheidung kaum erwarten, und als der Bräutigam endlich erschien, eilte sie ihm grüßend entgegen und bat: "Laßt mich, bitte, Euer Rätsel noch einmal vernehmen!" Und als er es, scheinbar vorahnend, nicht ohne innere Bewegung wiederholt hatte, da umarmte sie ihn tränenden Auges und rief frohlockend: "Du bist's, der königliche Prinz, der heimkehrt in sein Land, zu seinen Eltern, seiner Braut und - hoffen wir - zu seinem und zu des Volkes Glück. Ich kann mich nicht befreien, weil du selbst die Lösung ausgesprochen hast, und ich will auch nicht, weil ich dein edles Herz erkenne - nimm mich hin!"