Es war einmal ein Schuster, der hatte drei Töchter und drei Kühe, und die Töchter mußten abwechselnd die Kühe auf die Weide treiben. Zu einer Zeit richteten sich's die Kühe so ein, daß abwechselnd immer eine gegen Abend auf längere Weile verschwand, aber zum Heimtreiben stets wieder da war und dann mehr Milch gab als sonst.
Wie nun einmal die Reihe des Hütens an Resei, der ältesten Tochter, war und die merkte, daß eine Kuh wieder ausreiße, da hielt sie sich an den Hörnern fest, und die Kuh mußte sie mitschleppen. Nach einer kurzen Weile kamen sie zu einer Mauer, die Resei noch nie in der Gegend gesehen hatte. Die Kuh stieß mit den Hörnern an, die Mauer öffnete sich, ließ beide durch und schloß sich hinter ihnen wieder. Jetzt stand die Kuh auf einer saftigen Wiese und Resei vor einem wunderschönen Haus, und während die Kuh graste, trat Resei neugierig in das Haus ein. Im ersten Zimmer erblickte sie ein rabenschwarzes Hündlein auf dem Ofen, im zweiten am Fenster einen hell erleuchteten Christbaum mit goldenen Zapfen. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und steckte einige der goldenen Zapfen eilig zu sich.
Das Gewissen ließ ihr aber keine Ruhe mehr, sie eilte hinaus und kam gerade recht, wie die Kuh zu grasen aufhörte. Im letzten Augenblick noch erfaßte Resei die Hörner der Kuh, ein Stoß an die Mauer - und so wie sie eingedrungen waren, gelangten sie auch hinaus, und die Mauer verschloß sich hinter ihnen. Bald darauf war das Vieh im Stall und die Familie in der Stube. Resei bildete sich nicht wenig ein auf ihren Fund, die goldenen Zapfen wurden in Geld umgesetzt, und die Leute lebten einige Zeit herrlich und in Freuden. Als der Schatz zu Ende ging, wagte Annamirl, die mittlere der Schwestern, das gleiche Abenteuer und nahm sich vor, noch viel mehr heimzutragen als Resei.
An ihrem nächsten Weidetage kam Annamirl so wie zum ersten Male Resei mit der Kuh durch die Mauer auf die saftige Wiese und allein in das wunderschöne Haus. Drinnen sah es so aus, wie Resei beschrieben hatte; nur erschien das Hündlein auf dem Ofen grau, und der Christbaum war mit zahlreicheren und größeren Goldzapfen behängt. Von diesen raffte Annamirl, soviel sie konnte, in einen Sack und lief noch zwei-, dreimal zurück, um nachzufüllen. Mühselig schleppte sie den Sack zum Haus hinaus und über die Wiese an die Mauer, aber fast kam sie zu spät: Sie konnte nur noch den Schwanz der eben ausbrechenden Kuh erhaschen und war froh, daß sie ohne Sack und mit zerrissenem Kleide sich retten konnte. Daheim wurde Annamirl hart behandelt, aber sie ließ sich nicht mehr bewegen, den geheimnisvollen Ort nochmals zu betreten.
Halb Versprechungen, halb Drohungen nachgebend, unternahm endlich Lisei, die jüngste der Töchter, den gefährlichen Gang. Sie kam gerade so wie ihre Schwestern durch die Mauer und über die Wiese in das Haus.
Das anfangs schwarze, dann graue Hündlein war bedeutend heller und so freundlich, daß Lisei schon etwas sicherer auftrat. Der Christbaum war über alle Beschreibung schön, doch dachte Lisei gar nicht daran, ihn zu berauben, obwohl ihre Furcht gänzlich verschwunden war und einer unbezwinglichen Neugier Platz gemacht hatte. Lisei forschte weiter. Im dritten Zimmer war ein Tisch wie nur für sie gedeckt, und es schien, als drückte eine geheime Kraft sie auf den Sessel nieder und als flögen ihr Messer und Gabel nur so in die Hand. Zugleich verspürte sie einen solchen Hunger, daß sie aß und aß und aß. Und als sie satt war, da fühlte sie sich so müde, daß sie sich nach einem Lager umschauen mußte - das fand sie im vierten Zimmer, wie nur für sie bereitet. Wohl dachte sie noch einen Augenblick an die Kuh und an das Elternhaus, aber schon schlief sie ein.
Schlag zwölf um Mitternacht ward Lisei unsanft aufgeweckt durch einen Höllenlärm. Ein großer schwarzer Hund kam bellend hereingestürmt und rief ganz deutlich: "Steh auf!" Sie gehorchte. "Leg mich hinein!" Zitternd tat sie, wie befohlen. "Leg dich herein!" Mit Grauen befolgte sie den Ruf, kehrte dem Hund den Rücken und rührte sich nicht. Trotz allem schlief Lisei wieder ein, und als sie früh erwachte, war sie allein.
Liseis einziger Gedanke war: hinaus und nach Haus. Als sie ins dritte Zimmer zurücktrat, da war ein Frühstückstisch, wie nur für sie gedeckt sie mißachtete alles und stürmte weiter. Im Zimmer saß das rätselhafte freundliche Hündlein wieder - oder noch - auf dem Ofen, sein liebes Köpfchen war aber schon rein weiß. Ohne Aufenthalt eilte Lisei hinaus auf die Wiese, doch die Kuh war nicht da und kein Ausgang zu erblicken.
Den ganzen Tag irrte das Mädchen umher, ohne zu essen, ohne zu trinken, dachte nur an Eltern und Schwestern und - an die Kuh, die doch abends kommen werde als Befreierin aus dem herrlichen geheimnisvollen Gefängnis.
In bangem Warten vergingen die Stunden, der Abend brach an, aber die Kuh kam nicht. Verzweifelt rang Lisei die Hände, und da es völlig Nacht ward, blieb ihr nichts übrig, als das unheimliche Schlafzimmer aufzusuchen.
Wieder um Mitternacht kam mit fürchterlichem Gebell ein schwarzer Hund, der war größer und schrie heftiger: "Steh auf!" "Leg mich hinein!" "Leg dich herein!" Willenlos gehorchte die Jungfrau und schlief dann vor Erschöpfung ein.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Lisei erwachte. Und da ihr nichts Böses geschehen war, faßte sie wieder Mut: Heute schmeckte ihr sogar das Frühstück, an dem sie gestern achtlos vorübergegangen war. Sie besichtigte wieder alles um sich herum, sann dabei hin und her und kam endlich auf den Gedanken, ob sie nicht etwa gar in einem verwunschenen Schloß sitze und auf Erlösung warten müsse.
Da nichts anderes übrig blieb, schickte sich Lisei drein und verzehrte die Mahlzeiten, die sie pünktlich vorfand, mit gutem Appetit. Wäre sie imstande gewesen, ihren sorgenden oder zürnenden Eltern Nachricht zu schicken, so hätte sie geduldig auf ihre Befreiung gewartet.
Die dritte Nacht war schlimmer als die vorherigen. Schon eine Stunde vor Mitternacht ging das Gepolter los, Schlag zwölf stürzte wieder ein schwarzer Hund herein, so groß, daß die Tür beinahe zu klein war, und gab brüllend seine Befehle, die Lisei zitternd befolgte.
Trotzdem dauerte das Gepolter fort, als wären hundert lärmende Handwerker an der Arbeit, und doch schlief Lisei endlich ein.
Als sie erwachte, war sie wohl wie an den vorhergegangenen Tagen mutterseelenallein, aber das Schlafgemach prangte von Gold und Seide, durch das offene Fenster drang Blumenduft und Vogelgesang herein, und an Stelle der armseligen Kleider lag ein herrliches Samtgewand da, reich mit Edelsteinen geschmückt. Das paßte ihr wie angemessen und die goldgestickten Pantöffelchen auch, und als sie fix und fertig war, sprang die Tür auf und ein wunderschöner Prinz trat herein; der reichte ihr die Hand und sprach: "Ich danke dir, du hast mich erlöst." Im dritten Zimmer liefen zahlreiche Diener geschäftig umher, der Frühstücktisch war schon für zwei gedeckt, und da nahmen sie Platz, und der Prinz erzählte Lisei, wie eine böse Hexe ihn und seinen treuen Diener in Hunde verzaubert und das ganze Schloß verwunschen hätte und wie sie warten mußten, bis ein braves, gutes Mädchen sie erlöse. Dann kam der ganze Hofstaat herein und begrüßte den Prinzen, und weil seine Erlöserin ihm so gut gefiel, so verlobten sie sich auf der Stelle. Dann ließ der Prinz die schönsten Pferde, die ungeduldig im Stalle scharrten, vor den prächtigsten Wagen spannen, und sie fuhren zu den armen Schustersleuten, die über Liseis Glück ganz außer sich waren. Der Prinz ließ ihnen an Stelle der alten Hütte ein neues Haus mit Stall und Scheune erbauen und gab ihnen Vieh und Ackerland, daß sie keine Not mehr litten.